^4f' 1 lill i>'". 1 DAS ii 1 ! 1 ERWACHEN ZUR POLITIK* VON .1 1! 1 1 1 JULIUS liAB ! ii @. i 1 1 '[ 1 i 1 * *v' lia ü 9 » 1 j OESTERHELD & CO. BERLIN ! . i i i 1 1 1 - 'mB| ..1. m,m- ,■»■■- ii.i ,1.1 1 i II . ■ .1 I 1 1 ■■»■MWiW^— ■ .. mms^' LIBRARY UNIVERSITY OF CALIFORNIA RIVERSIDE BAB/DAS ERWACHEN ZUR POLITIK DAS ERWACHEN ZUR POLITIK VON JULIUS BAB I • 9 • 2 . o OESTERHELD & CO. VERLAG / BERLIN -8 2.^ OPYRIGHT 1920 BY OESTERHELD & CO. BERLIN HEINZ KASSEL zum Dank für viele Jahre fruchtbaren Streitgesprächs „Berlin! Berlin! Wir nahn, es dämmert. Sieh, wie der Häuser wilder Sinn den Sternenhorizont zerhämmert und Schwan und Leier sinken hin." (Am Neujahrsmorgen 1920.) Inhalt Vorwort XIII Erste Begegnung 1 . Das Kind (Eine Studie zur Zeitseele). igoS 3 2. Sozialdemokratische Poetik. 1904 7 3. Tempelhofer Feld und Moabit. 1910 21 4. Die Tage der Blumen. 191 i aß 5. Die Wahlnacht. 1912 33 6. Grösseres Berlin. 1912 4' 7. Verbotene Bildung. 191 2 4? 8. Vor dem Bellfried in Brügge. 191 2 5o 9. Von Konstanz bis Memel. 1913 54 Vor der Katastrophe 1 0. Der deutsche Weg. i9i3 ö3 11. Stadion und Bühne. 1913 71 I 2. Die Verstaatlichung des Sports. 191 3 79 i3. Am Ende der Feste. 191 3 84 14. Zwei Helden (Die ZabernafFäre). 1914 9' 1 5. Lebende Kolportage (Zum ElberfelderMordprozess). 19 14 98 In der Katastrophe 16. Gedanken im Kriege. 19 14 109 1 7. Blinder Eifer. 1914 ''^ 18. Ludwig Frank f. 1914 122 19. Friedensopfer. 1914 ^^^ 20. An Verhaeren. 1914 '^^ 21. Deutschlands „Ausländerei". 1914 '^7 22. Shakespeare und der Krieg! 1916 14^ XI 23. Neue Frauenfeindschaft. 1916 148 24. Vaterlandspartei und Volksmehrheit. 1917 .... 160 26. Aus meinem Tagebuch. 1917/18 i65 26. Trostreiches Gespräch. 19 18 174 Nach der Katastrophe 27. Politische Sittlichkeit: Bernard Shaw als Erzieher. 191 9 i8i 28. Deutsche Politik: Thomas Manns Politik des Unpoliti- schen. 191 8/ 19 191 29. Sozialismus und Demokratie: Der Schulfall Theater. 19 19 218 30. Abschied von der Monarchie. 19 19 284 3i. Der Arbeiter am Geist und die Wirtschaft. 1920 . . . 262 32. Revolver oder Stimmzettel? 1920 267 33. Demokratische Partei: i. Liberale Erneuerung?! 1918 268 2. Tagt es?! 1919 278 3. Verwirklichung! 1920 . . 282 Schkisswort : Am Neujahrsmorgen 1920 290 Nachweis 291 XII Vor w ort Politische Bücher, Äusserungen oder gar Handlungen der rei- nen Ästheten von vorgestern sind der tief berechtigte Schrecken aller, die ein Gefühl für die ungeheure Verantwortlichkeit jeder politischen Äusserung haben und unabgeblendeten Wirklichkeits- sinn, geduldigste Sachtreue als oberstes Gebot jedes öffentlichen Handelns erkennen. Viel Jahre hat man mit Grund die Teil- nahmslosigkeit der deutschen Intelligenz für ein Hauptunglück unsrer Politik erklärt. Und nun nimmt diese Teilnahme Formen an, die verhängnisvoller als jede Untätigkeit wirken müssen. Dies kommt wohl von der übergangslosen Heftigkeit, mit der bei diesen literarischen Gemütern das Erwachen zur Politik erfolgt ist. Das soziale Erdbeben hat sie von ihrem ästhetischen Schlum- merlager geworfen, sie sind verstört und ungemein aufgeregt, aber eigentlich nicht wach. Denn wären sie zur Wirklichkeit erwacht, so würden sie sich unter ihr Gesetz stellen — unter das Gesetz aller Politik: aus der Erkenntnis alles Gegebenen das Mögliche in der Pachtung des Wünschenswerten suchen! Statt dessen handeln sie weiter unter dem Gesetz ihrer ästhetischen Welt, in der tatsächlich das Gefühl alles ist. Das künstlerisch Mögliche hängt nur von der Stärke des wünschenden Gefühls, nicht von einer gegebenen Wirklichkeit ab. Übertragung dieses Prinzips in die Politik aber bedeutet das Chaos — und zu dem trägt das politisierende Literatentum im heutigen Deutschland denn auch ehrlich bei. Deshalb: wenn ich nach einer Vergangenheit, deren Arbeit XIII ganz wesentlich der Bewältigung ästhetischer Probleme galt, es heute wage, eine Reihe von politischen Betrachtungen herauszu- geben, wie sie mir der Einbruch der grossen Weltkatastrophe in meinen innersten Lebenskern nötig machte, so liegt mir daran, zu zeigen, dass mein Erwachen zur Politik kein so schreckhaft plötzliches war — und dass deshalb hoffentlich meine Einstellung zu den politischen Dingen eine politische und keine ästheti- sche ist. Damit steht nur sehr scheinbar im Widerspruch (in Wirklich- kei(i aber in ursächlichem Zusammenhang) die Tatsache, dass die Mehrzahl der Betrachtungen, die ich hier vorlege und durch die ich seit siebzehn Jahren mich dem Problem der politischen Welt zu nähern versuchte, von irgendeinem künstlerischen Objekt einem literarischen Fall ausgeht. Grade die umfangreichsten und gründlichsten Betrachtungen des Bandes, mit denen ich mir ein sicheres Verhältnis zu den Hauptproblemen unsrer politischen Krise zu erarbeiten suchte, sind so entstanden: an der Einstel- lung Bernard Shaws, dessen Psychologie mich schon seit vielen Jahren sehr gründlich beschäftigt hat, machte ich mir und ande- ren die Richtung eines wahrhaft freien und dabei wirklichkeits- treuen, eines grosszügig politischen Verhaltens zum internatio- nalen Konflikt klar; an den Verhältnissen des Theaters, die ich genau kenne, studierte ich den Sinn und den Unsinn der Sozia- hsierungsbestrebungen; die leidenschaftlichen Auseinanderset- zungen des Dichters Thomas Mann liess ich mir Anlass sein, das besondere Problem der deutschen Politik kritisch zu ergründen; und zu der Kritik der Monarchie als sozialer Lebensform ver- suchte ich grade von einem mir besonders vertrauten Punkte her zu gelangen: von sprachkünstlerischer Erkenntnis aus. Dies sind freilich nicht die Allüren eines politischen Parvenüs, der tut, als ob er bei Marx und Engels gross geworden wäre, als ob er eigentlich nie etwas anderes als Treitschke oder Bakunin ge- lesen habe, und als ob die grossen Stunden seines Lebens nicht XIV etwa mit Shakespeareaufführungen und Beethovenkonzerten, son- dern mit Reichstags wählen und Steuergesetzen von je verknüpft gewesen seien. Aber steckt in diesem Bekenntnis zur eigenen Herkunft, in diesem Ausgehen vom sicher Bekannten, wirkhch Beherrschten, lang Erarbeiteten nicht vielleicht ein reineres und fruchtbareres politisches Prinzip als in einem hoch fachmän- nisch frisierten Gefühlsarrangement ökonomischer und staats- theoretischer Lesefrüchte? Darf nicht, wer so von einem freilich sehr engen, ihm aber wirklich vertrauten Kreise ausgeht, eher hoffen, dem grossen Ganzen einen wenn auch kleinen, so ^ioch nützlichen Beitrag zu liefern, wie wer mit dilettantisch grossar- tiger Gebärde sofort das Ganze zu umspannen unternimmt? So wage ich, zu hoffen, dass die letzten Ergebnisse dieses Buches für manchen jungen Deutschen eine klärende und ermu- tigende — eine politisierende Wirkung haben können. Da- neben aber, glaube ich, wird es ein kleines geschichtliches Doku- ment sein: neben anderen grösseren ein doch unverächtlicher Beleg für das Werden der deutschen Volkskatastrophe. Ich habe an den hier veröffentlichten Dokumenten aus fast zwei Jahrzehn- ten nichts weggeschminkt und nichts zugesetzt — sonst wären es ja keine Dokumente mehr. Es ist also klar, dass mancherlei Schwächen der Beobachtung und der Darstellung, auch manche Schwankungen und Widersprüche der Auffassung zu erkennen sein werden. Dennoch wird eine Entwicklung in ungebrochen- stem Gleichmass jedem Blick deuthch sein: Scl:^'mit dem ersten Stück ist das Gefühl für die lebensgefährliche, von keinem über- legenen Geist gemilderte Spannung des deutschen sozialen Lebens ausgesprochen. Zuerst im engen Kreis der eigenen kunstkritischen Arbeit, sehr bald im weiteren und weitesten Kreis des ganzen deutschen Volkslebens wird die wachsende Schärfe dieser Gefahr gefunden und beschrieben, wird mit vergeblicher Inbrunst der Geist herbeigerufen, der sie beschwören könnte. Der Ausbruch, der Zusammenbruch, die furchtbare Konfrontierung mit dem XV Daseinskampf des deutschen Volkes und der europäischen Kultur hat für mich deshalb nicht jene völlig verstörende Plötzlichkeit gehabt, der wir das nihilistisch grossartige Gerase unserer „akti- vistischen" Lyriker verdanken. Ich fand, dass eine ungeheure praktische Aufgabe uns auferlegt sei, eine Aufgabe, mit deren Bewältigung Veiderben oder Segen ohne Mass verknüpft war. und ich fand, dass kein einziger mehr zögern dürfe, seinen noch so bescheidenen Beitrag zur Arbeit an der Lösung dieser Aufgabe zu leisten — dieser politischen Aufgabe: aus Erkennen und Anerkennen aller sozialen Gegebenheiten das Mögliche zu suchen in der Richtung des Wünschenswerten. Und somit, denke ich, wird auch der Einsichtsloseste es nicht für einen Kunstfehler halten, wenn dies Buch nach der Behandlung grosser, umfassen- der Probleme mit einigen Äusserungen zur Parteipolitik schliesst, die zum Teil sehr ins Enge und Spezielle münden. Denn was man so für einen Kunstfehler hielte, ist in Wirklichkeit ein Epi- gramm auf die innerste Tendenz des ganzen Buches. Im Anfang des Jahres 1920. Julius Bab. Berlin-Grunewald. XVI Erste Begegnung Das Kind Eine Studie zur Zeitseele (1903) Ein Stadtbahnwaggon dritter Klasse um sechs Uhr. Wie ge- wöhnlich um diese Zeit überfüllt mit Arbeitern, die von Bauplatz oder Fabrik im Westen nach ihren östlichen Mietskasernen heimfahren. Indessen waren nicht nur Arbeiter in meinem kleinen Abteil; mir gegenüber sass eine Frau, die kleinbürgerhchen Kreisen an- gehören mochte, ein schlafendes, sauber gekleidetes Kind auf dem Schoss. Neben ihr sass ein alter Arbeiter mit grossen, grauen, intelligent blickenden Augen, ernsten, klaren Gesichtszügen und starken, rabenschwarzen Händen. Er mussie wohl mit Kohlen hantiert haben. Auf ihn folgte ein junger Mann aus der bürger- lichen Gesellschaft, vielleicht ein Student, sehr gut, fast elegant gekleidet. Ein magerer, abgespannt und dumpf dreinblickender, etwa dreissigjähriger Arbeitsmann, der quer im überfüllten Coupe stand, schloss den Blick auf die übrigen Insassen ab. Auf unserer Hälfte Sassen nur noch zwei junge Burschen in schmutzigen Ar- beitskitteln links an meiner Seite. Keiner von diesen Menschen sprach ein Wort. Stumm schauten sie zu Boden oder aus den trüben, angelaufenen Fenstern in den nebligen Abend. Nur die beiden Jungen neben mir wechselten spöttische Blicke, die der Eleganz des jungen Studenten gelten sollten. Der schien das zu merken und blickte mit verdoppeltem Elfer auf die kahlen Häusermauern hinaus, an denen wir vorüber- 3 rasselten. Das dünne Licht der Gasflamme flackerte beim Rucken des Wagens langsam hin und her. Es fiel kein Wort; wir wechsel- ten keinen Blick; mit einer gewissen Scheu sah einer am andern vorbei. Eine dumpfe Verlegenheit lag unbewusst über allen. Unter uns weilte wieder einmal das furchtbare Gespenst der Zeit, das soziale Gespenst, das zwei Völker in jedem Volke geschaffen hat, zwei Völker, die tief fremd und fast feindselig einander ge- genüberstehen imd deren Instinkte in dunklen Stunden sich gegeneinander kehren, wie der zähe Hass erbverfeindeter Tier- geschlechter. Das Gespenst war zwischen uns, das in furchtbaren Augenblicken die Besitzenden mit einer brennenden Scham und einer lähmenden Angst zugleich erfüllt, und das den Besitzlosen das kaum begriffene Wort, dass alles Eigentum Diebstahl sei, mit grimmiger Deutlichkeit ins Gefühl brennt und ihren Augen jenen schlecht verhehlten Hass auf jeden guten Rock leiht, und ihre Blicke über den andern hängen lässt wie eine schwer drohende Lawine. So blickten wir mit hastiger Scheu aneinander vorbei, wussten uns nichts in Worten und Blicken zu sagen — wie Glieder sehr fremder Völker, denen keine Sorge und keine Liebe gemeinsam ist. Bei einer Kurve ruckten die Wagen stärker an, — und da er- wachte das Kind, das kleine, etwa anderthalbjährige Mädchen auf dem Schosse der Bürgersfrau. Hübsch war es eigentlich nicht mit dem breiten, grobzügigen Gesichtchen und den grossen, kreis- runden Augen, — aber es war mehr als hübsch, hatte einen Reiz, einen unwiderstehlichen Zauber — denn es war anderthalb Jahr alt. Klatsch — war es vom Schoss herunter und watschelte an mich heran: „Du — haben!" quiekste es, angelte nach meinem Spaziersiock und suchte ihn zu heben. Die schwarzen runden Augen glänzten höchst verwundert. Auf einmal war das Interesse erloschen, es Hess den Stock fallen und machte kehrt. Jetzt ging es auf den alten Arbeiter los: „Du, Onkel! Tag, Onkel!" — und legte die kleine Patsche auf die grossen, kohlschwarzen Hände 4 des Mannes. Dessen Augen begannen zu lachen, er suchte nach einem zärthchen Wort und bekam schliesslich bloss ein knurren- des „I — Du ..." heraus. Dabei blickte er mit seltsamer Bewegt- heit auf das Kind, und es war rührend zu sehen, wie er sich an dessen Zärtlichkeit freute und doch Angst hatte, es mit seinen Kohlenhänden zu beschmutzen. Da war auch in den grossen mageren Mann, der so stumpf und abgespannt dagestanden hatte, Leben gekommen; er schlenderte seine Feldflasche an dem Lederriemen gegen die Kleine. Sie haschte ungeschickt danach und kreischte, übers ganze GeJicht lachend. „Ei — ei! haben, Onkel, haben!" und griff immer da- neben. Alles lachte, auch der Student drüben, und der Bursche neben mir meinte zu seinem Kameraden: „»So ne drollige Jöhre!" Jetzt begann die Kleine mit dem Studenten anzubandeln, des- sen silberne ührkette ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Arbeiter mit der Feldflasche fragte die Mutter, die in glücklichem Stolz lächelte, nach dem Alter des Kindes und kam mit ihr ins Ge- spräch; die Arbeiterjungen traten mit dem Studenten in einen freundschaftlichen Wettbewerb, weil sie nun ihrerseits auch die Kleine an sich zu locken suchten und ihr zwecks dessen etwas vorzupfeifen begannen; und der alte Arbeiter mit dem schönen ernsten Gesicht und den schwarzen Händen wechselte mit mir einen lächelnden Blick voll gemeinsamer Freude und herzlichen stillschweigenden Verstehens. Es war, als ob die Sonne aus dem Nebel träte. Diese Menschen, die kalt und feindselig stumm beieinander gesessen hatten, wie Angehörige zweier fremden Völker, die lachten, spielten und scherzten jetzt miteinander. Denn mit einem Male hatten sie ge- funden, was ihnen als Sorge und Liebe gemeinsam war, was sie alle gleich begehrten und gleich verstanden: das Leben, — das Leben, wie es jung und kinderrein und spielend vor uns tritt, eine liebe, lachende Gegenwart, voll wehmütiger Erinnerung 5 an alles Vergangene, voll mahnender Sehnsucht an vieles Zu- künftige. So war dies Kind zwischen uns getreten: das Kind, das ewig erneute Versprechen des Lebens, der ewig erneute Schuldbrief der Gottheit auf eine schönere Zukunft, den wir immer wieder gläubig entgegennehmen. Sozialdemokratische Poetik (1904) Sicherlich ist manch einer, der ebensowenig wie der Schreiber dieses Sozialist oder Demokrat sans phrase ist, doch mit mir der Ansicht, dass es ungefähr das grösste Unglück wäre, das Deutsch- land in kultureller Beziehung widerfahren könnte, wenn die so- zialdemokratische Partei einen vorzeitigen Zusammenbruch er- führe; das heisst wenn sie nicht bessern, stärkern Oppositions- parteien, sondern konservativen Feinden erläge. Eben weil ich nun aber der lebenerweckenden und lebener- haltenden Bewegungskraft der Drei-Millionen-Partei einen sol- chen Wert für unser ganzes Kulturleben zuschreibe — denn eine grosse politische Oppositionspartei ist not als Stütze der rebel- lisch autonomen das ist kulturförderlichen Elemente auf jedem Gebiet — eben deshalb bin ich auch geneigt, sie zu einem nicht geringen Teil für die Notstände unsres geistigen Lebens verant- wortlich zu machen, für die trotz Einwirkens einer stattlichen Zahl bedeutender Geister so sehr, sehr langsamen Fortschritte, die wirkliche „Bildung", das ist das Gefühl für feinere und tiefere Lebensgenüsse, im deutschen Volke macht. Wenn der kulturelle Fortschritt überhaupt von der Existenz einer starken Opposi- tionspartei abhängt, so ist im starken Grade auf Grösse und Schnelligkeit der kulturellen Entwicklung das Niveau von Ein- fluss, auf dem die ästhetische und ethische Bildung der Partei respektive ihrer massgebenden Führer steht. Und da muss nun bei tausend und aber tausend Anlässen der, dem die Kultur uns- res Volkes als eine grosse Sache am Herzen liegt, mit Schrecken gewahren, wie tief dies Niveau, wie eng der geistige und seelische Horizont bei den Führern unsrer Sozialdemokratie, zumal denen der heute noch alleinherrschenden Linken der Partei ist. Eins ist immer das Kriterium geistiger Enge: das Untergehn des Zwecks im Kultus der Mittel. Der Gelehrte, der sich in seine Spezialwissenschaft, der Kaufmann, der sich ins Geldverdienen so verliert, dass diese Wege zur tiefern und stärkern Erfassung des Lehens als Selbst-Ziele erscheinen — er wird zum Philister und üanausen, er bleibt ewig der „Kultur " fremd, die am Ende nichts als ein eignes und weitgespanntes Lebensgefühl ist. In ähn- licher Weise aber setzen unsere Demokraten tührer ihre Arbeit an der Lösung der Macht- und Magenfrage, die doch immer nur ein, wenn auch sehr wichtiges Mittel zur Erreichung einer all- gemeinen Kultur sein kann, dem Inbegriff aller erspriesslichen Tätigkeit gleich — als ob es nicht — weiss Gott! — noch sehr viele und grosse andre Arten gebe, dem Wohle der Menschheit zu dienen. Dass sie dann noch den kleinen Schritt weiter tun, und für macht-wirtschaftliches Arbeiten überhaupt sozialdemo- kratisches, für das sozialpolitische ihr Parteiinteresse als einzig würdige Betätigung eines Zeitgenossen hinstellen, ist fast selbst- verständlich. Ewig unvergesslich sind mir in dieser Hinsicht ein paar Worte, die Bebel am 14. September 1903 in Dresden sprach und deren fast tragische Borniertheit seltsamerweise damals kaum von einem gebührend gewürdigt wurde. Es war von der „Zu- kunft" Hardens die Rede, jenes Harden, der zum Beispiel durch seine energische Zerstörung vieler morscher Autoritäten ein kaum weniger erheblicher Kulturfaktor ist als ein einflussreicher Füh- rer der politischen Opposition. Da also sprach Bebel wörtlich, wie folgt: „Was war denn bei der Gründung der , Zukunft' der Zweck? Etwa für die Opposition, die Sozialdemo- kratie, die freie Meinung in Deutschland eine neue, bisher nicht vorhandene Tribüne zu schaffen? Nein, — die Gründung war nichts als eine Spekulation auf das ge- meine Sensationsbedürfnis gewisser Leserkreise." Hast du das in seiner ganzen Tragikomik begriffen, Leser? Dieser Führer von drei Millionen Menschen identifiziert nicht nur freie und sozialdemokratische Memung, er hält, wie sein (deutlich als Folgerung erkennbarer) Nachsatz zeigt, einen andern anständigen, würdigen Zweck ausser der Propagierung dieser seiner Meinung gar nicht für möglich. Mir scheint es etwas tief Erschreckendes, wenn die grosscOp- positionspartei eines Volks, auf deren mächtigen Schutz alle kul- turellen Interessen angewiesen sind, von einem Geist beherrscht wird, wie er aus diesen grausig naiven Worten spricht — ein Geist, dem nicht nur (das ist für den gnten Parteiführer vielleicht notwendig!) jeder Andersgesinnte ein Schurke ist, nein der (und das ist ungleich schlimmer!) keine Ahnung hat, dass sein ganzes Streben, bestenfalls als kleines Mittel zum Zweck, der mensch- lichen Kultur eine breitere, gesündere Basis schaffen, keinesfalls aber ihren Inhalt ausmachen kann. Diese Volksführer haben vergessen, dass die eigentliche Arbeit des Menschen erst auf dem Niveau beginnt, auf das sie die Massen führen wollen, und dass, wenn anders sie nicht ihre eigne Tätigkeit diskreditieren wollen, sie den Respekt vor der Arbeit, die dort schon geleistet wird, nicht verleugnen dürfen ! Was haben denn Unabhängigkeit und Wohlstand für einen Wert, wenn sie uns statt als Bedingungen für gross zu entfaltende Menschlichkeit als das einzi};e Erstrebens- und Erlebenswerte an sich hingestellt werden ? ! Und darin scheint mir der ungeheure erzieherische Schaden zu liegen, den die tiefe Unbildung eines grossen Teils der sozialdemokratischen Führer dem deutschen Volk bereitet. Wenn nach dem bisher Ausgeführten klar geworden, welch ernster Kulturschaden es ist, dass den massgebenden Persönlich- keiten der Sozialdemokratie für alle, auch die heterogensten In- teressen und Tendenzen des Menschengeistes das bornierte Par- teiideal der Massstab ist, so wird man wohl der im nachfolgen- den mitgeteilten an sich gewiss unerheblichen Episode unsres Kulturlebens eine grosse und ernste symptomatische Bedeutung zusprechen müssen. — Vor mir liegt ein kleines broschiertes Heft, knallrot, in der Mitte steht „Aus engen Gassen". Inhalt vierundfünfzig Seiten Lyrik, Autor: Otto Krille — ein Maurerssohn, Proletarier, ein ehrlicher strebsamer Lebenskämpfer, der sich zu einer gewissen Gebildetheit durchgerungen hat. Im ganzen gewiss ein sympa- thischer respektverdienender Mensch — ob auch ein Dichter? Schnell einige Proben: Zunächst ein Stück politische Programmdichtung — Des Reichtums Kinder können froh Am Wiesenquell sich laben, Ob sie auch Hoflart nur und Stroh Im stolzen Schädel haben. Doch hat man unsern Feuergeist Mit Stock und Bibelspruch gespeist. Er ist noch nicht gestorben, Und schaffen wir auch ohne Glück In Nacht und dunstiger Fabrik, Wir sind noch nicht verdorben! Weiter, ein soziales Genrebild: Die Tagelöhnerin: Sie führt die Sense wie den Pflug, Ist tätig gleich in Saat und Ernte. 10 Ihr Herz, das Angst und Sorge trug, Wohl auch das Beten längst verlernte. Man sieht in ihrem Angesicht Das Weh von fünfzehn Witwenjahren, Und keine Falte, die nicht spricht: Ich hab des Lebens Zucht erfahren! — usw. (Du kennst doch noch von der Schule her: Chamissos „Alte Waschfrau", lieber Leser?) Und nun noch eine Probe persönlicher Liebeslyrik: Wiedersehen. Es tut mir in der Seele weh, Wenn ich dein bleiches Antlitz seh! O blick mich nicht so traurig an, Hab ich doch nicht die Schuld daran. Mein Herz ist starr, mein Herz ist kalt, usw. (Und Goethes „Faust" kennst du doch auch, lieber Leser?) Genug! Nicht wahr, der Fall ist einfach: ein Dilettant, wie davon tausend jährlich in Deutschland Verse drucken lassen, ohne eine Spur sinnlicher Beobachtungs- und Ausdruckskraft, in jedem Satzgefüge, jedem Rh ythmus und Reimklang von berühm- ten Mustern abhängig (wenn auch nicht stets so deutlich wie in dem letztzitierten urkomischen Potpourri). Dabei ohne Präten- sion, anständig und gewiss ehrlich — es liegt kein Grund vor, ihn besonders zu verlachen, — es läge überhaupt kein Grund vor, sich mit dem Heftchen besonders zu befassen, wenn nicht und nun kommt die Hauptsache! II Diese Gedichte sind nicht nur Anfang dieses Jahres in dem der sozialdemokratischen Partei sehr liierten Verlag von Sassen- bach erschienen, wurden nicht nur in der Vorwärtsbuchhand- lung zum Verkauf ausgelegt und von vielen hervorragenden Ge- nossen als grosse Tat gepriesen — keine geringere als Klara Zetkin, die nächst Bebel wohl einflussreichste Persönlichkeit in der Partei, hat ein Vorwort für diese Gedichtsammlung geschrie- ben und sie so quasi als erwählte Parteipoesie eingeführt. Begnügte sich Frau Zetkin nun damit, in ihrem Vorwort die KrilJeschen Gedichte schön zu finden, schriebe sie nur „Seine Gedichte sind nicht gereimte politische Leitartikel, sie sind fär- ben- und duftreiche, saftgeschwellte Früchte eines sehr starken künstlerischen Talents und eities grossen dichterischen Könnens" — schriebe sie nur das, so könnte man angesichts der vorliegen- den Proben ihren schlechtgebildeten Geschmack bedauern und schweigen. Klara Zetkin schreibt aber mehr. Sie schreibt, dies Versbuch sei ein starker Typ der neu im Entstehen begriffenen proletarischen Dichtkunst, einer „Renaissance, die untrenn- bar mit dem kulturellen Aufsteigen des Proletariats verbunden ist" — — — „Proletarische Kunst" — das ist schon bedenk- licher, da sind schon wieder grosse unabhängige Kulturkreise mit dem völlig unpassenden Massstab des Politikers durchmes- sen. „Proletarische" Kunst? Der ehemalige Kavallerieoffizier Herr von Uhde hat die menschlich grössten, der Spross der jü- dischen Finanzaristokratie Max Liebermann die künstlerisch treuesten Bilder von dem Leben und der Seele des modernen Proletariats gemalt; auch war der Tagelöhnerssohn Friedrich Hebbel, der bis zu seinem dreissigsten Jahre hungerte, erzkon- servativ, und Seine Lordschaft G. N. Byron, dessen zweitgrösstes Unglück seine Millionen waren, waren Nihilist. Alle beide aber waren sie Dichter und in dieser Eigenschaft weder prole- tarisch noch aristokratisch, d. h. Wortführer ihrer sozialen Klasse, sondern ästhetische Genies, Menschen von ungewöhn- 12 lieh starker sinnliclier Eindrucks- und Ausdruckskraft. Das Mi- lieu, in dem sie geboren wurden, hat bis zu bescheidenem Grade das Material, in dem sie bildeten, in nichts aber das Epoche ma- chende Wesen ihrer Kunst bestimmt. Mit einem: „proletarische Kunst" ist ein Unding, in dem Sinne wie es Frau Zetkin meint. Frau Zetkin meint aber noch mehr: „Beschränkt und hochmütig ist die zünftige Literaturgeschichte an dieser neueren proletarischen Kunst vorbeigegangen!" Zum Glück haben wir beschränkten Bourgeoisästheten hun aber in Krilles Heftchen einen leuchtenden parteilich approbier- ten Typus der neuen Proletarierpoesie zu Händen und dürfen schüchtern versuchen darzutun, dass wir derlei Produkte denn doch nicht nur so ganz aus blödem Klassendünkel ablehnen. Versuchen wir's ! Wenn ich ihr zunächst sagte: Verehrte Frau Zetkin, Ihr neuer proletarischer Dichter ist schon deshalb weder ein Neuer, noch überhaupt im tieferen Sinne des Wortes ein Dichter, ein Schöp- fer, weil er seine Satzfügungen und Rhythmen, Worte, Bilder und Versklänge nicht bloss (wie an vielen Beispielen leicht zu zeigen wäre) von Heine, Herwegh, Baumbach u. a. m., sondern (wie gezeigt!) auch sklavisch von dem französischen Edelmann Adalbert von Chamisso und dem Frankfurter Patriziersohn, späterhin Exzellenz J. W. von Goethe entlehnt hat! — so wür- den Sie wahrscheinlich sagen, das gehe ja „nur die Form" an. Und wenn ich dann erwiderte, dass die Form alles sei, dass nichts als die suggestive Formung im sinnlichen Material der Menschensprache die Faustmonologe von einem philosophischen Traktat, den Hebbelschen Heideknaben von einer Kriminal- reportage unterscheidet, so würden Sie mich wahrscheinlich falsch verstehen. Versuchen wir's also auf einem weniger theo- retischen Wege: i3 Es liegt wirklich nicht an dem proletarischen Ursprung, dem proletarischen Inhalt, der proletarischen Tendenz, wenn ich nachstehendes Gedicht von Otto Krille recht herzlich schlecht finde: Der Weber. Beten, beten will ich lernen, ' Aber nicht zu goldnen Sternen, Nicht zu Göttern, die sie machen, (!) Die ob unsres Elends lachen. Beten will ich zu der Stärke Meines Herzens, zu dem Werke * Unsrer Kettensprengung beten Und dabei den Webstuhl treten. Bet' und arbeit' ! will's erfüllen, Aber nicht nach ihrem Willen. Alles was vom Mund mir geht Ist ein Fluch und ein Gebet. Wenn ich in diesen Strophen nur eine schlecht eingekleidete, schlecht stilisierte, schlecht rhythmisierte und gereimte Mei- nungsäusserung, also etwas durchaus Undichterisches sehe, so liegt das, werte Frau, doch nicht nur an meinem vorurteilsvollen Bourgeoishochmut. Es gibt nämlich ein Gedicht, das ganz den gleichen Inhalt und die gleiche Stimmung ausdrückt, und das ein Neffe des vielfachen Hamburger Millionärs Salomon Heine vor etwa sechzig Jahren verfasste: Im düstern Auge keine Träne Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: „Deutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch — Wir weben, wir weben!" i4 Und dann nach dem furchtbaren Crescendo der drei Fluch- strophen : Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, Wir weben emsig Tag und Nacht — „Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch. Wir weben, wir weben !" Merkwürdig nur — dies Gedicht zähle ich in Übereinstimmung mit den meisten „bourgeoisen" Ästhetikern zu den grossartigsfen Stücken der deutschen Lyrik. Der Inbalt, die Tendenz, ist doch genau dieselbe wie bei Krille? — aber das macht aui;h nicht den dichterischen Wert des Heineschen Gedichtes aus. Was die Ge- sinnung angeht, die Teilnahme am Schicksal der notleidenden Weber, so sind nicht nur Krille, sondern tausend andere auch noch Heine ebenbürtig; und jeder Leitartikler kann dieser Ge- sinnung deutlicher Ausdruck geben. Was aber Heines Gedicht ausmacht, ist nicht nur die Vollendung in Einkleidung, Siil usw., es ist gerade, dass sein Gedicbt nicht als Meinungsäusserung, sondern als sinnliches Erlebnis konzipiert ist: die furchtbare Monotonie, das ewige Auf und Nieder des Webstuhls hat er ge- sehn und als Symbol des Weberschicksal s empfunden. Dann aber hat er es vermocht, vermocht mit dem absicbtslos zweckmässigen Handeln des Genies, Rhythmen und Satzgefüge, Worte und Reim- klang so zu ordnen, dass all unsre Nerven das Sausen des Web- stuhls mitspüren und gleicb .Schicksalsdonner anschwellen hören, — Sehn Sie, werte Frau Zetkin, an solchen „Äusserlichkeiten" liegt es, wenn Verse ein Gedicht sind. Die Kunst nämlich ist überhaupt eine sehr „äusserliche" Sache, sie hat es nur mit dem „Sinnlichen" zu tun — das heisst, sie wiederholt das Wunder der Natur, die allem seelischen Sein einen körperlichen Ausdruck gab. Gesinnungen aussprechen, das kann j^der, auch Otto Krille, — aber durch die Macht sinnlich-suggestiver NA'ortordnungen i5 auch dem Fremdesten ein Gefühl aufzwingen, ein Miterleben, den weiterwirkenden Körper einem seelischen Eigenerlebnis schaffen, das konnte nur der geniale Künstler, das konnte Hein- rich Heine. Und wiederum: es liegt nicht an der Gesinnung, wenn mich nachstehende Zeilen Krilles viel mehr komisch als tragisch be- rühren : War ich, o war' ich kein Proletar, Könnte ich wohl das ganze Jahr Meine Jugend sonnen. War' ich geboren im reichen Haus, Brauchte ich nicht jahrein, jahraus Hungern und dursten und fronen. (!) Der Fabriken düstre Nacht Hat mich müde und elend gemacht. Hat mich gefesselt, gebunden. Meine brausende Jugendkraft, Himmelstürmende Leidenschaft, Alles, ist alles entschwunden. Mit einem Minimum von Feingefühl hört das gebildete Ohr, in welch lächerlichem Kontrast der hüpfende Klang dieser ver- gnüglichen Baumbachstrophen zu dem steht, was Krille sagen will. Wie komisch ungeschickt ist Satzbau und Reim — aber vor allem, wie kalt bildlose Aussprache, welch völliger Mangel an (Gestaltung. Aber der Sohn eines preussischen Försters, Ricliard Dehmel, der ganz und gar kein Proletarier ist, hat demselben Thenja sein erschütterndes Gedicht vom „Arbeitsmann" gewid- met, und wenn es bei ihm heisst: Wenn wir Sonntags durch die Felder gehn, Mein Kind, . Und über den Ähren weit imd breit 16 Das blaue Schwalben volk blitzen sehn : Oh, dann fehlt uns nicht das bisschen Kleid, Um so schön zu sein, wie die Vögel sind, Nur Zeit. da müssen wir all das, was Krille sagen wollte, und noch sehr viel mehr fühlen, aber nicht, weil Dehmel derechtere Prole- tarier an Gesinnung oder Abstammung ist, sondern weil er der echtere Dichter ist, weil er sinnliche Eindrücke sinnlich auszu- drücken vermag, weil er uns die abgearbeiteten Gestalten in/ der kalten Sonntagssonne über die dürftigen Felder der Vorstadt wandernd sehn lässt, weil er Rhythmus, Wortwahl, Reim so be- herrscht, dass wir all das sehn müssen, was er will. — Oder: wie pathetisch kalt, wie abstrakt schildert solch Gesinnungsdilettani «in Proletarierkind: Weh strömt aus deinem bleichen Munde, Der noch der Mutterküsse harrt. Verflucht das Bett, verflucht die Stunde, Da Armut sich mit Armut paart. (!) Ich möchte ein paar Zeilen aus dem ergreifenden sozialen Bild „Die Kommenden" von Margarete Beutler (einer pommerschen Offizierstochter, Frau Zetkin!) dagegen stellen: Wie dieser Knabenmund so schmerzlich isst! Ach, wenn ihn niemand als der Hunger küsst! Die Mutter wusch, bis sie zu Tode krank. Und als sie starb, da sprach sie: Gott sei Dank! Ein altes Weib erstand den Knaben sich. Doch ist sie arm und hart und wunderlich. Für ein Stück Brot in Morgennebelstund Läuft er sich Tag für Tag die Füsse wund. o. Rab, Erwachen zur Politik • 1.7 Und Tag für Tag saugt von den Lippen ihm Den Frühlingssegen seines Cherubim. Hier ist Gestaltung: hier ist Leben gesehn, sind Einzelzüge gegeben, die uns zum Nachfühlen zwingen („Lokalfarben" nennt Hebbel das) — und ein imvergleichlich stärkeres Mitgefühl geht hier auf mich über als aus den gedanklichen Deklamationen Krilles, der gewiss nicht weniger tief empfand — nur unendlich viel weniger sah und darstellte als ein rechter Künstler. Dass die an den Parteipfahl festgebundene Zetkinsche Ästhetik die nicht bourgeoise sondern eben ästhetische Ästhetik, die solche Produktion abweisen muss, beschränkt hochmütig schilt, ist so etwas wie die unbewusste Wirkung schlechten Gewissens. So gewiss die paar wirklich bedeutenden Dichtungen über die Kämpfe und das Leiden des vierten Standes bisher nicht von Proletariern sind, so wenig ein Auftauchen dichterischer Talente aus dem Proletariat etwas wie eine „proletarische Epoche der Poesie" inaugurieren würde, weil man nämlich als Mensch — nicht als Aristokrat, Bürger oder Proletarier — zum Dichter wird, so wohl ist andrerseits möglich, dass aus dem Proletariat bedeutende dichterische Kräfte hervorgehn — und kein ernst zu nehmender Ästhetiker wird sich ihrer Kraft dann verschliessen, weil sie Proletarier sind. Wenn sie dann etwa die Tendenz ihres Standes zum Ausdruck bringen, so soll ihnen das in meinen Augen gewiss nicht schaden. Was Frau Zetkin im Anfang ihres Vorworts sagt, vertrete ich Wort für Wort: „Nicht die ausgesprochene Tendenz ist künstlerisch ver- werflich, nur ihre Darstellung mit künstlerisch unzuläng- lichen Mitteln. Vorausgesetzt, dass sie nicht äuss^rlich und roh einem wohlgemeinten Möchte-gern Kunstwerk aufge- pfropft; vorausgesetzt dass sie vielmehr mit überzeugender Kraft dieses selbst von innen heraus gestaltet und prägt: ]8 Rann die Tendenz künstlerische Werte steigern, wird sie diese nicht mindern." VortrefFhche Worte — nur schade, dass sie gleich wieder mit der Verdächtigung verquickt werden, die herrschenden Litera- turkreise lehnten Tendenzdichtungen nur ab, wenn sich die Tendenz gegen den Vorteil ihrer Klasse richte. Nein, Frau Zetkin, an Ihren Tendenzdichtern ist uns nicht zu- viel der Tendenz, sondern zuwenig des Dichtertums! * Emanationen wie die Krilleschen als Verheissungen eines „künf- tigen Frühlings der Kunst" hinzustellen, auf Grund solcher Pro- dukte von „einer Renaissance der schönen Literatur" durch das Proletariat zu reden, und diesen Dilettantismen dann wieder die ganze übrige Literatur unsrer Tage als „dekadente Poesie" ent- gegenzustellen, das sind Offenbarungen von Unkultur, die be- lächelnswert wären, wenn es sich nicht um sehr einflussreiche Führer einer Partei handelte, die tief in alles geistige Leben Deutschlands einwirken muss. Und da wird es nun tief traurig, dass Philister, die nirgends über die Grenzpfähle ihres eignen Berufes blicken, die tiefe und grosse Probleme mit den rohen Formeln ihrer politischen Kampfpraxis abtun wollen, Menschen, die von der Kunst, einer der ernstesten Angelegenheiten des Menschengeschlechts, keinerlei reine, von Parteiinteressen unge- trübte Empfindung haben, Millionen anderen die Wege weisen. Wohin soll es führen, wenn die grosse Oppositionspartei des Landes, die der natürliche Halt und Schutz jeder freien geisti- gen Bewegung sein sollte, von Menschen geleitet wird, die in grossen Kulturfragen eine tiefe Unfreiheit des Geistes und Un- bildung des Gefiihls offenbaren? — Wenn man nicht Liebe und Verständnis bei dem Proletarier für die Kulturgüter weckt, die erst auf einer Höhe der Lebenshaltung zu gedeihen pflegen, auf die man ihn führen will — wenn man vielmehr ihm eine un- sinnige Genügsamkeit, eine überlegne Freude an dem Dürftigen, 2* 19 was sein heutiger Boden zu tragen pflegt, anerzieht — wie un- sinnig erscheint dann der ganze soziale Aufstieg, wie bedroht aber zugleich jeder kulturelle Fortschritt. Ich wiederhole: dem kulturellen Leben des deutschen Volkes könnte heute kein grössrer Schaden zustossen als ein Zusammen- bruch der sozialdemokratischen Partei. Aber ich füge hinzu: der zweitgrösste Schaden wäre, wenn die Leitung dieser Partei dau- ernd in den Händen von Persönlichkeiten bleibt, deren Geist unfrei, deren Gefühl ungebildet ist. 20 Tempelhofer Feld und Moabit Als wir Berliner von heute Jungens waren, bildete das TeihpeJ- hofer Feld unsern Begriff von „Natur": ein erhebliches Stück Platz, auf dem keine Häuser stehen, sondern grünes Gras wächst. Und ich glaube, dass aus aller später nachgepflanzten Mannig- faltigkeit unseres Naturgefühls sich zuweilen noch jene erste primitive Orientierung hervorhebt; denn das Tempelhofer Feld ist allerdings einprägsam als die Natur in abstracto, die bloss ne- gative Stadt: ein „Raum, auf dem keine Häuser gebaut werden" — sonst nichts. — Dass dieser spärlich begraste Sand zwischen der Reichshauptstadt Berlin und der Vorstadt Tempelhof der Kultur überliefert, der „Bebauung erschlossen" werden soll, weil der Fiskus ihn als Exerzierplatz nicht mehr nötig hat, dass das alte Idyll von Stullenpapieren, Fussballpfählen und Zigarren- stummeln ein Ende haben soll, das wollen wir trotz aller persön- lichen Erinnerungswerte ohne Sentimentalität tragen. Die Be- dürfnisse einer amerikanisch schnell wachsenden Millionenstadt dulden keine pietätvoll gehegten Ruinen umher; kaum dass ein Dreissigjähriger die Strasse erkennt, drin er geboren ist. Werfen wir alles Vergangene fröhlich der Gegenwart in den Schoss — nur dass sie uns eine gute Zukunft gebäre! Die achthunderttau- send Quadratmeter Natur sind ein kostbares Gut mitten im Häu- sermeer; wir wollen dem lieben Boden gern „ade" sagen — dass er nur nütze! Denn das Tempelhofer Feld ist ja nicht bloss Erinnerung und 21 Vergangenheit, es ist noch alle Tage gegenwärtige Natur, Lebens- brot für tausend Grossstadtjungen, die sonst nirgends Raum finden, ihre Beine ordentlich zu werfen, ist noch alle Sonntage der Fleck, auf dem Tausend erwachsener Ärbeitsleute blauen Himmel über sich sehen. Die Hauptmasse dieses Bodens, dieser freien Luft muss, in welcher Form auch immer, dem dringenden Lebensbe- dürfnis des berlinischen Volkes erhalten bleiben. — Der Reichs- tag beschloss, dass beim Verkauf des Tempelhofer Feldes „die öffentlichen Interessen gewahrt" würden. Und nun hat denn auch der Militärfiskus dies Feld nicht an die Stadt Berlin, die nur dreiundsiebzig Millionen bot, sondern für vierundsiebzig Mil- lionen Mark an die Gemeinde Tempelhof verkauft. Hinter den armseligen Tempelhofern aber steht eine grossmächtige Terrain- gesellschaft und an ihrer Spitze Herr Haberland — Haberland, der Städtegründer, der sinnreiche Erbauer von Alt-Nürnberg in Schöneberg, Haberland, der da sorgen wird, dass jeder Stein auf dem andern bleibe und kein Grashalm sich dazwischen stecke vom Tempelhofer Bahndamm bis zur Tivolibrauerei! Ob noch zu verhindern ist, dass das so Beschlossene Tat werde, ist fraglich ; zu schwach ist Einsicht und Wille bei Regierern und Volksvertretern. Aber dass die begangene Tat ein Verbrechen wäre, ein Sozialmord, der das Gewissen der Verantwortlichen mehr drücken müsste als irgendeines Schuldlosen Hinrichtung, das ist keine Frage. Indessen — wo sind die Verantwortlichen? Ist es der Magistrat der Hauptstadt? Der Bürgermeister Reicke, der die Verhandlung führte, hatte wohl ehrliche Träume von einer vorbildlichen Gartenstadt englischer Art auf dieses Feld gedichtet, aber er war kaum der Tatenmensch, mit einem Haber- land zu konkurrieren. Und auf ihm lastete die Sünde von Vor- gängern, deren blödsichtiges Fortschrittlertum einst die Einge- meindung der Vororte verweigert hat. — Ist es die Verwaltung des Kriegsdepartements? Aber sie hat eine glänzende geschäftliche Operation hinter sich ! Sie hat dem Fiskus fein Geld heimgebracht! 2 9. und zugegeben, dass etwas Junkerlust, diese roten Städter zu prellen, mit im Spiele war — diese Generäle sind ja am Ende wirklich nicht da, um die sozialen Interessen des deutschen Volkes wahrzunehmen. — Aber vielleicht der oberste Chef aller einzel- nen Departements, sollte der wohl ein wenig verantwortlich sein? Sollte es am Ende weniger Aufgabe eines Ministerpräsidenten sein, arglose Professorengemüter durch entkernte Philosophen- worte zu verlocken, als den Eifer der einzelnen Behörden zu bändigen, zu lenken, zu vereinen in jener Richtung, wo das Wichtigste für das Wohl des Ganzen zu tun ist! ? Wahrlich, dieser Talmiphilosoph, der die Hülsen einer leeren, durch und durch passiven Gebildetheit für das Fruchtkorn lebenskräftigen Willens reicht, er und der Geist, den er erhält, sie tragen einen Teil der Schuld. — Aber die letzte Schuld tragen wir, wir selber, wir alle! Trägt unsere bürgerliche Gesellschaft, die diesen Geist er- nährt, diesen Geist, der bei Lebensfragen der Gesamtheit nach Spezialvorteil, Standesgeschmack und Parteistandpunkt fragt. DieseGesellschaft, die „Sozialismus" immernoch für das Schlag- wort einer Partei, die Idee einer Klasse, den Sport einer gelehrten Clique hält und nicht weiss, dass es die Selbstbesinnung, die Selbstbejahung, die Selbstenettung jedes Menschen ist, der mit einer Gesellschaft, in einer Gesellschaft leben will. Unsere bür- gerliche Gesellschaft hat nur die Wahl, sich zu sozialisieren oder zu zerstören. Der Mangel des sozialen Verantwortlichkeitsgefühls an allen Stellen — beim Ministerpräsidenten wie beim General, beim Stadtrat wie beim Landrat, beim Bankier wie beim Speku- lanten — der hat dies Stück Gesellschaftszerstörung verschuldet, desse n Gedächtnis fortan mit dem Tempelhofer Felde verbunden bleibt. "^" ■ — « Von der Gefahr dieser Gesellschaftszerstörung gab es zu gleicher Zeit noch einen anderen, augenfällig schlimmeren, blutigen Be- weis. In Moabit war Streik, Krawall, Blutvergiessen : Arbeiter 23 gingen mit Messern auf Polizisten, Polizisten mit Säbel und Re- volver auf Arbeiter, aber auch auf bürgerliche Zuschauer los. Militär kam herbei, und was man so „Ruhe und Ordnung" im Staate nennt, wurde in einer langen Reihe von Prozessen wieder- hergestellt. Der Ausblick aber aus diesen Prozessen auf die zu- grunde liegende soziale Wirklichkeit ist erschreckend: Die menschliche Bestie von jäher Wut in Blutrausch gehetzt ist allent- halben gleich fürchterlich, und zwischen dem messerstechenden Arbeiter und dem in freiwilliger Begeisterung säbelschwingenden Schutzmann ist gewiss kein psychologischer und moralischer Unterschied von Belang. Aber im sozialen Sinne und im Sinne politischer Sittlichkeit ist der Unterschied gewaltig. Denn der Polizist sollte ja nur Werkzeug sein in der Hand der Ordnungs- mächte und dürfte um keinen Preis Gewalt anders kennen als zur notwendigsten Abwehr geübter Gewalt, als in dem zur Auf- rechterhaltung geordneten Staatslebens unerlässlichen Mindest- mass. Es ist aber bewiesen, dass die Schutzleute sich nicht nur in einzelnen Fällen aggressiv benommen haben, sondern nach Entfesslung des Kampfrausches in vielen Fällen sinnlos, bösartig und brutal zum Teil auf ganz Unbeteiligte losgeschlagen haben, dass sie im Genuss der entfesselten Gewalt schwelgten! Aus einem notgedrungen gewaltsamen Aufrechterhalten der Ordnung ist für sie ein begeisterter Klassenkampf, ein frisch-fröhlicher Bürgerkrieg geworden. Dies trifft aber letzten Endes nicht die einzelnen rohen Burschen, sondern die herrschende Kaste, die sie leitet, den Geist der Gesellschaft, der sie aufgezogen hat. Deutschlands herrschende Schicht, die Polizei und Militär (die in Blutsgemeinschaft und Personalunion leben) ganz nach ihrem Sinne, ganz zu ihrem Werkzeug bildet, ist jeden wirklichen So- zialgefühls bar. Sie kennt nur den Unterschied von Herrschenden und Beherrschten, aber nicht die lebendige Volkseinheit. Und ihrem Sinn ist der Andersdenkende deshalb nie Partner eines zu suchenden Ausgleichs, sondern ein niederzuwerfender Rebell. 24 Nicht auf geistigen Ausgleich — auf siegreiche Gewalt ist der Sinn dieser alten Militär- und Adelskaste gerichtet. Was in den rohen Gewalttätigkeiten der Moabiter Schutzleute ausbrach, ist nur letzte Leib werdung solchen Geistes. Aber diese kleine bei- gelegte Revolte kann das Vorspiel einer grossen, endgültig zer- störenden Revolution sein. Wenn nicht jener Sozialismus zur Macht gelangt, der nicht Sache einer Partei, sondern des allge- meinen Gewissens ist. 25 Die Tage der Blumen Deutschlands grösster Bühnendichter, Heinrich von Kleist, hat den wundervollen Mythos geschaffen vom Rosenfest. Üher der unheilvoll düsteren Wildheit seines Dramas „Penthesilea" leuch- tet wie ein schmerzlich fernes seliges Gesicht das Bild des Rosen- festes. Es ist der eine höchste Tag des Amazonenvolkes, der in vielen Jahren nur einmal wiederkommt. Wenn die Kriegerinnen nach siegreichem Feldzug mit ihren edlen Gefangenen das Fest der Liehe begehen, dann bekränzen sich die Erkorenen im hei- ligen Hain mit Rosen und unter Schauern von Blüten wird für einen Tag der Trotz und der Stolz dieser Kriegerinnen begraben. — Von je sind Blüten uns Menschen ein unmittelbar rührendes und verführendes Symbol aufbrechenden Lebens, natürliches Gewand einer Seele, die ihren ganzen Schmelz und Duft in ein paar kost- bai'en Stunden hinströmen lässt. In Emile Zolas grösster Dichtung, seiner Erneuerung des Para- diesmythos, in der „Sünde des Abbe Mouret" bleibt uns als er- greifendste Schönheit der Blumentod der kleinen Albine im Ge- dächtnis. Aus dem riesigen uralten Park Paradou bricht sie einen halben Tag lang all die unzähligen Blüten: Rosen und Mohn, Nelken und Heliotrop, Veilchen und Levkoien, Eisenkraut und Balsam, Hyazinthen und Tuberosen. Einen halben Tag lang trägt sie all diese Fülle auf ihren Armen in das enge Gemach ; dann wirft sich die arme kleine Eva hinein und stirbt inmitten der tödlichen Schönheit ihres Paradieses, das mit ihr verwelkt. Denn 26 von je sind Blüten uns Menschen auch ein unmittelbar ergreifen- des Bild des Todes gewesen in ihrem berauschenden, verwirren- den, auflösenden Duft, in ihrer überschnellen, haltlos hinsinken- den Sterblichkeit. Die Geschichte kennt die Legende von edlen Männern und heiligen Frauen, die Schatzkammer, Ackerfelder und Blumen- gärten leer machten, um menschliche Not zu lindern und Hilfe zu bringen; sie weiss von Königen und Helden, bei deren Tode alle Wiesen und Gärten des Landes ihre Blüten verloren, weil man sie zum Schmuck auf den letzten Weg des grossen Toten werfen wollte; sie kennt auch das Rosen wunder der heiligen Eli- sabeth: sie trug Brot in ihrem Korbe für die Armen vor dem Tor, als aber der strenge Gemahl hinzutrat und zu sehen be- gehrte, da waren es Rosen. Denn von jeher sind uns die Blüten — zauberhaft aus der schwarzen Erde ins bunte Licht empor- schiessend — ein Zeichen der höchsten Zauberkraft der Natur, ein immer wirksames Symbol der Liebe, deren verwandelnde, versöhnende, vereinende Kraft über Tod und Leben empor- wächst. Von all dieser eingeborenen Schönheit, dieser künstlerischen Lebenskraft, die Blumen und Blüten für uns haben, von all dieser zu Sinn und Beziehung gewandelten Natur, diesem tiefsten, edel- sten Kulturgehalt der Pflanze — von alledem fällt ein letztes, leise verschönendes, schüchtern um Versöhnung werbendes Licht auf den peinvollen und hässlichen Tumult, der jetzt die deut- schen Städte erfüllt: „Blumentage" ! Wie eine Springflut sind sie über Deutschland hereingebrochen und nachdem sie über Mün- chen, Frankfurt und Halle Berlin erreicht haben, setzen sie sich dort fest und scheinen ein dauerndes Übel zu werden. Denn einmal haben sie sich in verschiedene Blütentage spezialisiert, und dann haben die verschiedenen Gemeinden von Gross-Berlin alle ihre besonderen „Tage" (erstrecken ihre freundliche Tätig- keit aber dabei so ziemlich auf das ganze Gebiet der Hauptstadt). 27 Und so ist die Woche besetzt: gestern halten wir Schöneberger Kornblumen tag, heute haben wir Berliner Margueritentag und übermorgen werden wir vielleicht Rixdorfer Mohnblumentag haben. Diese Tatsache dokumentiert sich nach aussen hin zu- nächst dadurch, dass durch die Strassen der Stadt, in deren har- tem Antlitz sich sonst keine Miene verzieht, sommerlich geklei- dete junge Mädchen laufen, Mädchen „höherer Stände", aber nicht ganz so müssig wie gewöhnlich, sondern mit Blumenkör- ben und Sammelbüchsen versehen und lebhaft beschäftigt, die Büchse zu füllen und die Körbe zu leeren. Da sie sich keine Mühe verdriessen lassen und fröhlich, befreit von ihrer sonstigen Wohl- erzogenheit, alle eiligen Menschen und beschäftigten Arbeiter ansprechen und aufhalten, da sie in Häuser und Cafes und (sicher- lich nicht ohne besonderes Wohlgefallen) in die Hörsäle der Hochschulen eindringen, so tragen denn bald Männer und Wei- ber, Droschkenpferde und Dackelhunde, A utomobile und Kinder- wagen die Blume des Tages zur Schau — und man wundert sich gar nicht, wenn man abends in der Oper hört, dass in Offenbachs „Unterwelt" Pluto dem Gastfreund Jupiter zunächst einmal eine Kornblume zum Kauf anbietet. Man könnte zunächst meinen, es müsse doch schön aussehen, wenn plötzlich solch ein Blumenregen über eine Stadt niedergeht: Aber es ist nicht schön. Gewiss erfreut hier und da eine lustige Farbenwirkung das Auge — aber wer Sinn hat, weitere Zusam- menhänge aufzunehmen, dem wird die innere Disharmonie des ganzen Unternehmens auch in der äusseren Erscheinung deutlich offenbar. Gewiss, ein Freudenfest unter Blüten kann schön sein; ein Blumenkorso kann eine bezaubernd-fröhliche Schönheit aus- strahlen; wenn Menschen sich zum Schmuck, zur Lust, zum Zeichen überströmender Lebensfreude mit Blumen kränzen, so ist Gleiches zu Gleichem gefügt und diese Harmonie beseelter und unbeseelter Natur kann uns jubeln machen. Aber diese Blumen- bettelei ist kein Freudenfest — es ist ja eine „Wohltätigkeit". 28 Der Zweck ist, Blumen zu verkaufen, damit Geld in die Büchsen kommt und damit das Geld aus den Büchsen zu irgendeiner Zen- tralstelle wandert, die dann mit dem Ertrage alte Veteranen, hilflose Säuglinge, arme Lungenkranke oder sonst irgendwelche Elende unterstützen wird. Der letzte höchst indirekte unsicht- bare, sozusagen abstrakte Zweck des Ganzen ist jedenfalls, irgend- eines der zahllosen Löcher zu stopfen, die die Verfassung unserer Gesellschaft lässt, und durch die unablässig Not und Schmutz, Laster, Krankheit und Elend aller Art hereinströmen. In diesem letzten Sinn des ganzen Tumults liegt etwas, das mit schöner Lust und Blumenfreude völlig unvereinbar ist; und die Stadt, die, ohne den grimmigen Ernst ihres Alltagsaussehens einen Mo- ment abzulegen, sich mit einer Art verdriesslicher Pflichterfüllung überall Blumen ansteckt, sieht denn auch eher grotesk als schön aus — etwa so, wie ein verbissenes und verärgertes Gesicht unter einem Rosenkranz aussehen würde. Aus der inneren Teilnahmlosigkeit der vom BlumenschmuckBe- troffenen stammt die Hässlichkeit dieser Tage — aus der Art von Teilnahme, die die Blumenausteilenden an der Sache haben, stammt ihr peinlicher Zug. V^as die Frauen der alten Legenden, de- nen Blumen zu Brot und Brot zu Blumen wurden, schön machte, war ja die völlige innere Hingabe an die Sache, der glühende Lie- beseifer, der aus ihnen heraus Wunder wirkte. Das Licht, das von ihrer Schönheit auf die Verkäuferinnen unserer Blumentage fällt, ist sehr schwach und sehr gebrochen. Die jungen Damen, die dort, froh der gewonnenen Freiheit, auf den Strassen herumlaufen, gehören grösstenteils jener müssiggängerischen jeunesse doree an, für deren weiblichen Teil sich in Berlin das Wort „Tauen- zienmädchen" gebildet hat. (Nach jener Tauenzienstrasse, die sich allmählich zur Hauptstrasse des „feinen Westens" entwickelt hat, und die für jenes Grenzland der alten Stadt und der west- lichen Vororte ungefähr bedeutet, was die Leipzigerstrasse seit langem für die Innenstadt bedeutet: die Strasse der grossen De- tailgeschäfte, aber eben deshalb auch die Strasse, wo man alle Welt trifft, wo man promeniert, Leute sieht und sich sehen lässt.) Diese jungen Damen benutzen den Blumentag, um sich zu tum- meln und um zu flirten, genau wie sie die Wohltätigkeitsfeste im Winter benützen — als einen Vergnügungsbetrieb, über des- sen soziale Absichten sich kaum eine ernsthafte Gedanken ge- macht haben wird. Und so haftet diesem Treiben die ganze Pein- lichkeit an, mit der das „wohltätige Amüsement" überhaupt behaftet ist: selbst der Vorwand, den Elenden helfen zu wollen, miiss den Glücklichen zum Vergnügen dienen, und dies Vergnü- gen ist um so weniger harmlos, als es zugleich das soziale Gewis- sen, das Gefühl, zu ernsthafter Mitarbeit am Wohle aller ver- pflichtet zu sein, mit einer lächerlichen Abschlagszahlung einlullt. Als sich der Sturm der Blumentage für Berlin zuerst ankün- digte, erschien in allen grossen Zeitungen eine umfangreiche Erklärung, die gegen den geplanten Unfug protestierte, und die von allen bedeutenden Männern und Frauen unterzeichnet war, die hier auf dem Gebiete der Sozialreform, ernsthafter volkswirt- schaftlicher Besserung, grosszügiger sozialer Hilfsarbeit tätig sind. Es wurde protestiert gegen diese bedenkliche Spielerei, die de- mütigend für die Unterstützten, korrumpierend für die Unter- stützenden sei, und die (eine Art sozialen Ablasshandels), ohne etwas wirklich Belangvolles zu bessern, das Gefühl für den Ernst sozialer Verpflichtungen sehr verschlechtern müsse. Der Protest hat vielleicht ein paar ernstere Menschen zum Nachdenken ge- bracht und ihr prinzipielles Fernbleiben von diesem Getriebe bewirkt; aber wirklich ändern konnte er nichts mehr. Die Ge- sellschaftskreise, die wohlmeinenden Irrtum, Eitelkeit und Ver- gnügen schon auf diese neue Abwechslung gerichtet hatten, blieben natürlich unbelehrbar. Die Blumentage kamen, und sie brachten für Berlin noch einen besonderen Zug, der das Hässliche und das Peinliche dieser ganzen Institution auf eine besondere Höhe brachte. 3o Die Kornblumen nämlich, die jetzt zu Tausenden über Berlin ausgeschüttet worden sind, sind keine Gewächse Gottes, sondern der sächsischen Blumenindustrie und bestehen aus Gaze, Gummi- papier und Draht. Nun ist für meinen Geschmack selbst in der Ode des grimmigsten Winters eine Kunstblume ein überaus fa- tales Produkt, das ich nie in meiner Umgebung dulden, dem ich jederzeit den Mangel an allem Blumenähnlichen unbedingt vor- ziehen würde. Eine wächserne Panoptikumsfigur auf dem Sessel meiner Wohnstube wäre mir kaum eine unleidlichere Gesell- schaft. Was soll man aber dazu sagen, wenn diese kalte ünnsrtur, diese gewichtlose Spielmarke inmitten des blühenden Lebens zur Sommerzeit am Tage der Blumen ausgegeben wird?! Alles was an natürlicher Schönheit, an wirklich lebendiger Freude noch an diesem Unternehmen haften mochte, ist damit abgestreift; die Blume ist damit endgültig ein blosser technischer Trick, ein Warenzeichen, ein gleichgültiges Mittelchen zur Entfaltung des Wohltätigkeitsrummels, und sie leistet dasselbe, was früher Schneeballkollekten und Werbebriefmarken geleistet haben. Durch eben diese künstlichen Blumen aber, die die Hässlichkeit des Unternehmens so bedeutend steigern, wächst auch seine Pein- lichkeit. Denn von derselben sachkundigen Seite, die vorher gegen diesen Wohltätigkeitssport protestierte, wird man jetzt über die Herkunft dieser Festblumen aufgeklärt. Sie stammen aus der am schlechtesten entlohnten, elendesten deutschen Haus- industrie: für hundertundzwanzig solcher Gewächse erhält die sächsische Arbeiterin sieben Pfennig!! Für solche Hunger- löhne darf sie sich ruinieren, damit die jungen Damen in Berlin sich mit einer neuen Art „Wohltätigkeit" amüsieren können. Die leitenden Personen dieser Blumentage sind aber wahrscheinlich von ihrer preussischen Tüchtigkeit sehr durchdrungen, weil sie das Material so gut und billig eingekauft haben! Der Bankerott des sozialen Gewissens, den emp- findliche Geister hinter jeder Art von Wohltätigkeitsamüsement 3i immer gewittert haben, wird damit aufs grellste sichtbar und das Peinhche dieser Tage wächst ins Grausige. Ein öder, gedankenloser Mechanismus, der die Idee beleidigt, der er zu dienen meint — das ist geblieben vom Blumenfest; das wurde in Berlin aus dem Tage der Blüten. Das letzte Band, das den bekränzten Menschen mit der Natur verbindet, ist hier durch- schnitten. Mit dem Rosenfest der Amazone, mit dem Blumentod der kleinen Eva, mit dem Blütenwunder der Heiligen haben diese Tage auch nicht ein Letztes mehr gemein; jeder Rest von Schön- heit^ von gradgewachsenem Lebenssinn, von natürlicher Symbol- kraft ist ausgetrieben. Die Widersacher Berlins, die die Kultur- losigkeit dieser bloss zivilisierten Stadt immer wieder betonen, haben lange kein so dankbares Argument in die Hand bekommen. Zivilisation beruht auf Intelligenz und Energie, Arbeit und Or- ganisation — und Berlin ist die tätigste und die ordentlichste Stadt der Welt. Kultur aber besteht in der Kraft, die jede Schön- heit der Natur organisch ins Menschliche heraufzuent wickeln vermag, in der künstlerischen Kraft, die in erfrischenden Sym- bolen die ewigen Gesetze der Natur in die Lebensformen der Gesellschaft aufnimmt, die das soziale Getriebe nie zum toten Mechanismus werden lässt. In Berlin kann man heute industrielle und vielleicht auch ernsthafte soziale Arbeit leisten; wenn man aber um den Schein der Schönheit wirbt, wenn man gefällig und froh das Gute tun, sich der blühenden Natur verschwistern möchte — dann entsteht ein Zerrbild, so unnatürlich und kul- turlos, so hässlich und peinlich wie diese Blumentage. 32 Die Wahlnacht ('912) Man kann nicht behaupten, dass in dem äusseren Gesicht Ber- lins von dem „tobenden " Wahlkampf sehr viel zu merken gewesen wäre. Mag sein, dass die besonderen Verhältnisse der Berliner Wahlkreise keine besondere Spannung zuliessen; mag sein, dass den Berlinern ihr angeborenes Temperament kein allzu grosses Pathos in politischen Dingen gestattet, dass sie auch hier ordent- lich, fleissig und kulturlos nur gerade das Notwendige tun und sich im grossen ganzen den Luxus von Temperamentsausbrüchen versagen — jedenfalls es ging herzlich nüchtern und ziemlich geräuschlos in dieser Wahlkampagne zu. Aber nun war die Ent- scheidung gefallen. In wenigen Stunden sollte jetzt geerntet werden, was in Wochen und Monaten gesät war, — ob da nicht auch der zäheren Leidenschaft der Berliner eine hellere Flamme entbrechen musste? Es galt zuzuschauen . . . Abends, eine Stunde etwa nach Schluss des Wahlaktes, bei zehn Grad Kälte und frost- klarem Himmel stieg ich in die Stadtbahn, die mich den inneren Bezirken der Stadt zutragen sollte. Die Wagen waren ziemlich leer, die Stationen zeigten, soviel man durch die gefrorenen Scheiben sehen konnte, ihr alltägliches Antlitz. Auf einer west- lichen Vorortstation stieg eine Dame mit zwei Töchtern ein. Mama und die beiden Backfische waren in leidenschaftlichem Gespräch. Ich wusste sehr bald, dass es nicht der Sprengung des schwarz-blauen Blocks galt. Sie kamen vom Tee bei Frau Meier, und nachdem sie sich über die Geschmacklosigkeit der Toilette 3 Bab, Erwachen zur Politik 33 von Frau Geheimrat Schulze geeinigt hatten, entbrannte ein hef- tiger Streit zwischen ihnen über die Haartour von Elsa Linicke, deren Locken Mama für echt hielt, was die beiden Mädchen mit all ihrem jugendlichen Skeptizismus in Frage stellten. Schliess- lich erkundigte man sich auch nach der Zeit und Mama bemerkte, dass man nicht zu spät nach Hause kommen dürfe. „Ach ja," sagte die jüngste Tochter, „heute sind ja die Wahlen, nicht wahr, Mama?" — Ich konstatierte, dass die Frauenbewegung das weib- liche Geschlecht doch offenbar noch nicht so gänzlich politisiert habe. Und während sich die Damen bereits wieder in die Chancen eines schon jetzt für übernächste Woche bei Levins angekündig- ten, und deshalb gewiss ganz hervorragenden Tees vertieften, stieg ich aus. Bahnhof Friedrichsirasse, und da beginnt es schon: Auf dem Bahnsteig stehen eine Menge kleiner Gruppen, weisse Zettel in den Händen — die ersten Extrablätter! Mit der selbstverständ- lichen Kollegialität, die jede gemeinsame Erregung stiftet, trete ich zu solcher Gruppe und sehe mit hinein. Es sind die Berliner Wahlresultate. „Na, wenn's weiter nichts ist." Der Besitzer des Blattes knüllt es zusammen. Es hat sich nichts geändert: fünf sozialistische Sitze und eine sozialistisch-liberale Stichwahl. Ein kleiner Kommis vom Typus des Berliner Schusterjungen bemerkt neben mir: „Und sowas nennt sich nu: Allerneustes!" . . . Aber das Nachrichtenfieber, die Neuigkeitsgier liegt doch in der Luft. Man stürzt, man eilt, man drängt die Treppen herab. Da Hegt die Friedrichstrasse brausend, blitzend und vielleicht noch etwas menschenschwärzer als gewöhnlich. Und zwischen den Menschen blitzen weisse kleine Inseln auf. Drüben gil)t es Extrablätter. Ich stürze über den Damm, erralYe ein Extrablatt, will zurück, ein Automobil attackiert mich, mit einem grossen Sprung bringe ich meine kostbare Stichwahlstimme (was gilt das „Leben!") in Sicherheit. Auf dem Blatt steht noch nicht viel Neues, die Ber- liner Zahlen etwas ausführlicher. Aber nun hat man sein erstes 34 Extrablatt in der Faust, das ist wie ein Bazillus. Bald glüht man im Wahlfieber. Auf die Strasse tropfen wie von beginnendem Flockenfall weisse Flecken — das Papier der erledigten Extra- blätter — Wahlschnee. Die grossen Zeitungen überbieten sich heute in der Gratisaus- gabe von Extrablättern. Jene Scheinwerferanzeigen, vor denen sich vor fünf Jahren das Leben der Wahlnacht konzentrierte, hat ihnen die allzu väterliche Sorgfalt des Herrn Polizeipräsiden- ten diesmal verboten. Nun haben sie hundert andere Wege ein- geschlagen. An einem grossen Restaurant kündet ein Anschlag, dass hier sofort die neuesten Extrablätter des „Tageblattes" zur Ausgabe gelangen werden. Ich trete hinein. Es ist über und über voll, das ist es um diese Zeit wohl immer, aber wenn man scharf hinsieht, ist das Bild doch ein wenig geändert. Fast auf allen Tischen liegen weisse Blätter und viele Gäste halten so ein Blatt in der Faust und demonstrieren ihrem Nachbar. Man windet sich zwischen den Tischen durch und hört: „Stimmen" . . . „Block" . . . „ungeheure Majorität" . . . „Aussichten" , . . „Neue Depesche" . . . Der Wirt eilt zwischen den Tischen hindurch und verteilt neu eingetroffene Blätter. Das Gespräch schwillt stärker an. Hinter mir erkundigt sich gerade eine Dame, „ob es denn nun durchgegangen ist, dass die einflussreicheren Leute mehrere Stimmen ab^jeben". Sie verwechselt den preussischen Landtag mit dem deutschen Reichstag und auch sonst einiges — aber man sieht, dass das politiscbe Fieber nun schon auf die krassesten Aussenseiter überspringt. Ich trete wieder auf die Strasse. Immer neue Extrablätter, aber es steht immer noch nichts Neues drin. Denn fünf oder sechs verschiedene Zeitungen zugleich geben die neuesten Nachrichten aus. Aber natürlich nicht ganz gleichzeitig. So rafft man immer wieder neues Papier an sich, schaut gierig hinein, sieht Altbe- kanntes, wirft es weg, stürmt weiter. Aber da! An der berühm- ten Ecke der Linden und der Friedrichstrasse, im Herzen Berlins, 3- 35 da ist es wirklich schwarz vor Menschen. Mit brüllendem Getöse umdrängt man ein Automobil, auf dem die Fahne der „Berliner Morgenpost" flattert, und dem sich eben die Träger wirklich neuer Extrablätter entwunden haben. Aber sie kommen nicht dazu, sie auszuteilen. Die Masse selbst hindert sie in ihrer Un- geduld. Jeder will zuerst haben. Alle drängen und keilen die un- glücklichen Boten so fest, dass sie sich nicht rühren können. Ein armer kleiner Messengerboy steht ratlos mit gesenkten Armen da, eine alte Botenfrau bekommt das Heulen. „Hierher" . . . „Herjeben" . . . „Hier" . . . „Nu, jeben Se doch schon so'n Ding" . . . „Hochwerfen!" . . . Man reisst sich ganze Packen aus der Faust und zerfetzt sie, weil keiner loslassen will. Schliesslich •kriegt ein Verständiger Luft genug. Ein weisses Bündel steigt hoch, flattert auseinander wie ein Taubenschwarm und senkt sich in hundert Blättern nieder. Drängend, springend, schreiend haschen Hunderte nach der Beute. Es sind die ersten Nachrich- ten aus dem Reich: die zweifellos klerikalen Wahlkreise im Westen und ein paar selbstversiändliclie Grossstadtsiege der Sozialdemokraten. An sich nicht viel Grund zur Aufregung. Aber doch wächst, wie beim richtigen Trinker der Durst mit jedem Schluck, die Wissbegier mit jeder neuen Nachricht. Das Lärmen und Rufen, das Drängen um die Blätter dauert fort. Die Luft klirrt von hundert sich überkreuzenden politischen Ge- sprächen, und der Boden pflastert sich mit abertausend weissen Blättern; dichter und dichter fällt der Wahlschnee. Der „Lokalanzeiger" hat versprochen, in einer Reihe grosser Etablissements seine Wahldepeschen sofort durch Lichtbild be- kanntzugeben. Nebenan ist eines dieser Lokale. Eine Kinematho- graphenbühne — ein „Kientopp", wie der Berliner sagt — , sie selbst nennt sich mit dem grossartigen Namen „Uniontheater". Ich nehme ein Billett und trete in den langen, schmalen, men- schenüberfülltfen Raum. Gerade flammt vorne eine Nachricht auf: „Königsberg in Preussen: Haase (Sozialdernokrat) gewählt!" 36 Ein paar „Aaah!" . . . „Bravo!" . . . „Pfui!" . . . mischen sich in der rauchigen Luft. Da knipst es schon wieder: „Frankfurt a. M. : Oeser (liberal) Stichwahl mit Sozialdemokrat." . . . Da wird es dunkel. Ein Stück der eigentlichen Vorstellung folgt: Schloss und Park von Versailles wird gezeigt. Aber man ist nicht sehr bei der Sache. Das sogenannte Arbeitszimmer Ludwigs XV., ein in der Tat unmässig behagliches Boudoir, entfesselt sogar eine Reihe spöttischer Bemerkungen und zeigt, wohin der demokra- tische Sinn des Publikums steht. Man ist sehr befriedigt, als Versailles vorüber ist und die Depeschen wieder anfangen. AH- mählich werden wieder grosse Siege der Sozialdemokratie sicht- bar: Hannover, Magdeburg, Halle, Breslau usw. . . . Lauter Sitze, die den Liberalen verloren gingen. Die überwiegend bür- gerliche Zuschauerschaft schweigt mit süsssaueren Gesichtern. Da — ein Augenblick allgemeinster stürmischer Vergnügtheit : der Scheinwerfer meldet: Herr von Oldenburg (der berüchtigte Führer des reaktionären Junkertums) steht in Elbmg zur Stich- wahl mit dem Sozialdemokraten Crispin. — „Bravo!" . . . „Hoch Crispin!" . . . „Crispin, feste!" . . . „Haut ihm!" . . . Man schwelgt in schöner Einigkeit; man ist sehr ungehalten, als es sich wieder zwecks weiterer Vorstellung verfinstert. „Die Jagd im Aeroplan" niag ja wirklich sehr amüsant sein, aber nur we- nige haben heute Sinn dafür. „Wenn sie doch mit dem Unsinn aufhörten!" . . . „Dazu sind wir doch heute nich hier!" . . . „Neue Depeschen wollen wir sehen!" . . . Ich lasse die Leute weiter vom Aeroplan aus ihre Hasen schiessen und trete wieder hinaus ins Freie. Auf der Strasse wogt die Schlacht um die Extrablätter fort. Ein paar kluge Messengerboys haben an der Kranzlerecke sich auf dem berühmten Erker der Konditorei verschanzt und streuen von oben ihre Gaben in die brandende Menge. Ich verachte sie, meine Wissenschaft aus dem Kientopp ist jünglr als ihr Ge- drucktes. Der Boden ist jetzt ein weisses Meer mit schmutzig- st gelben Schaumkronen. Ich stapfe hindurch, die Friedrichstrasse hinab. Vor einer Litfasssäule ist Auflauf. Ein paar mutige Zettel- austräger haben hier ihre Extrablätter angekleistert. Ich komme näher. Aus einer Gruppe junger Leute kommen wahre Schmer- zensschreie; da steht der Grund: In Heilbronn ist Pfarrer Nau- mann, der Lieblingsparlamenlarier der akademischen Jugend, durchgefallen.' Ich arbeite mich weiter. Ein Bekannter schüttelt mir die Hand, fragt mich, wo es die neuesten Blätter gibt, und stürzt der nächsten Ecke zu. Ein völlig Fremder ruft mir zu: „Graf Posadowsky ist gewählt!" (Posadowsky ist der frühere Staatsschatzsekretär, der wegen seiner sozialreformerischen Ten- denzen auch im Bürgertum Sympathien hat.) Ich biege in die Kochstrasse ein. Vor dem grossen Ullsteinschen Zeitungspalais steht eine feste, schwarze, brüllende Menschenmauer. Oben steht ein Mann am offenen Fensler. „Herr Nachtredakteur, Herr Obernachtredakteur, schmeissen Sie doch die Blätterchen run- ter! Runterwerfen, ru nt er werfen 1 " Aber es wird nichts runter- geworfen; an den Parterrefenstern werden neue Depeschen an- geheftet. Ein Mann klettert aufs Gesims, und es tritt alsbald so viel Ruhe ein, dass er mit brüllender Stimme unter reichlichem Parteikommentar die neuesten Resultate verlesen kann. Inzwi- schen kämpft eine ganze Kohorte Schutzleute darum, die Aus- fahrt vor der P^xpedition des Hauses freizumachen. Schliesslich, es ist wie der Ausfall aus einer belagerten Festung, rattern die Motorräder heraus, die die neuen Blätter in die Stadt tragen sol- len, und die Menge weicht auseinander und bildet eine Gasse. Ich wandere weiter. Um zwei Ecken ist die Redaktion des „Vor- wärts", das Zentrum der deutschen Sozialdemokratie. Das weise Polizeipräsidium träumt offenbar furchtbare Revolutionsgedan- ken, denn eine Kohorte schwer bewaffneter Schutzleute flankiert das Portal. Die Herren sind aber hübsch unter sich, denn auf der Strasse steht kaum ein Mensch, und durch das dunkle Tor kom- men neben vereinzelten Passanten nur unablässig Radfahrer 38 heraus und herein: der Generalstab empfängt und gibt Meldung. Ein Betrunkener kommt über den Damm und bringt zur Heiter- keit der Vorübergehenden Hochrufe auf den Reichskanzler aus. Die einzige Strassendemonstralion, der ich in dieser Nacht in Berlin beigewohnt habe. Die Schutzleute aber stehen feierlich und bewaffnet. Ich lande in einem grossen Cafe. Hier sitzen politische Kern- scharen, nicht gerade die Parteiführer selber, aber doch die Nächststehenden, die ihre Vertrauensmänner auf die Redaktio- nen entsandt haben, und auf Nachricht warten. Wirklich er- scheinen bald ein paar Freunde, die statt der gemeinen Extra- blätter wertvolle Telegrammabzüge aus dem Parteibureau brin- gen. Am Nebentisch sitzt ein sozialistischer Abgeordneter, der eben im fernen Thüringen gewählt worden ist. Man drängt sich gratulierend und jubelnd um ihn. Drüben in der Ecke sitzt ein demokratischer Kandidat, der, wie man sich mit diskretem Flü- stern mitteilt, soeben fundamental durchgefallen ist. Man befragt sich um die neuesten Nachrichten, man vergleicht widerspre- chende Meldungen, man zählt zusammen, man kombiniert — neben mir bricht sogar mitten in diesem Nachrichtenlärm ein leidenschaftlicher prinzipieller politischer Disput aus. Aber wie der Strom der Meldungen versiegt, bricht man doch auf und kehrt auf die Strasse zurück. Da ist es nun freilich auch schon im Abebben. Man liest Extra- blätter auf und lässt sie mit unsäglicher Verachtung fallen, weil sie mindestens eine halbe Stunde alt sind — ganz modrig, ganz prähistorisch kommen einem solche Altertümer in dieser Nacht vor. Man wandert die Friedrichstrasse wieder herauf. An einer Litfasssäule erschallt mächtiges Schimpfen. Da klebt wirklich eine neue Nachricht: Herr von Heydebrand, der Führer der Kon- servativen, ist wiedergewählt. Und nun kommt doch noch ein neues Extrablatt: ein erster Versuch, die Resultate zusammenzu- fassen, obwohl noch lange nicht die Hälfte der Wahlkreise ge- 39 meldet hat. Ein grosser sozialdemokratischer Erfolg steht fest — da er aber zu einem grossen Teil auf Kosten der Liberalen er- folgt, ist noch unsicher, ob das eigentliche Ziel der Wahlen er- reicht ist: die Ablösung der konservativ-klerikalen Mehrheit durch eine freiheitliche. Immerhin erweckt eine ganze Reihe von Einzelerfolgen, die man gegen Junker und Pfaffen erfochten hat, allgemeine Freude. Und nun stockt die Bewegung. Es kom- men keine neuen Blätter mehr, das Fieber kühlt aus. Wenn man abermals die Linden überschreitet, fegen die Strassenkehrer eben die gelblichen Massen des Wahlschnees zusammen. Die Men- schenmassen werden lichter; einzelne Krakehler von mehr alko- holischer Erregtheit treten stärker hervor, die Wahlnacht ist zu Ende. Was eigentlich geschehen ist, werden wir erst morgen wissen. Aber in der Erregung dieser INacht sich aut Stunden eines Sinnes mit vielen hundert anderen gefühlt zu haben, sich an einem Punkte wenigstens einmal mit vielen verbunden, nicht unverstanden, nicht allein gefühlt zu haben, in einer gemein- samen Woge grossen Anteils geschwommen zu sein — ist das nicht auch etwas wert? Ich liebe solche Nächte der Leidenschaft. 40 Grösseres Berlin (i9'=») I. Es war ein Stück Chaos, aus Millionen Kehlen atmend und doch ohne Lunge und Herz, — Millionen Gelenke zugleich be- wegend und doch ohne Kopf und Hirn. Die deutsche Reichs- hauptstadt wuchs in vier Jahrzehnten von einer zu vier Millionen heran, schluckte den Boden von Dörfern und Landkreisen, das Leben von ganzen Provinzen in sich hinein und bildete aus all diesen angehäuften Massen doch keine neue Form. Die einzelnen Gliedmassen stolperten übereinander und waren sich zur Last, wenn sie nicht gar feindlich übereinander herfielen und im eigen- süchtigen Wettstreit dem ungestalten Ganzen die notwendigsten Bissen vom Munde rissen. Nicht einmal einen Namen hatte das Ding, denn kaum die Hälfte der deutschen Reichshauptstädter wohnte noch in der alten Stadt Berlin. Aber während sich Ber- liner, Charlottenburger, Schöneberger, Lichtenberger, Rummels- burger voll kommunalen Selbstgefühls lästige Konkurrenz mach- ten, war doch der Erforscher ökonomischen und kulturellen Lebens keinen Augenblick im Zweifel, dass das alles Glieder eines einzigen, ganz unteilbaren Leibes seien, die derselbe Säfte- umlauf mit dem Blute der neudeutschen Volkswirtschaft speist. Es war ein biologisches Monstrum. — Seit dem i. April 1912 ist dieser Zustand nun — noch nicht beseitigt, aber erschüttert. Das Chaos beginnt sich zu klären. Die kreisende Masse hat eine Form erhalten, die für eine der 4« dringendsten Funktionen Organe stellt, den „ Zweck verband Gross-Berlin"; und dies halbgestalte Lebendige hat jetzt sogar einen Namen: seit demselben i. April führen mit ein paar Aus- nahmen alle reichshauptstädtischen Wohnplätze das Wort Berlin wenigstens als Zunamen. Und das ist immerhin ein Zeichen jener Selbsterkenntnis, die der erste Schritt zur Besserung sein soll. Das Heil freilich kann nicht vom Namen und auch nicht vom formalen Reglement kommen. Es muss ein Geist da sein, der sich den Körper baut. Im ganzen Statut des neuen Zweckver- bandes regiert das schöne aber beängstigend milde Wort „kann"; der Verband „kann" grosse, einheitliche Verkehrsnetze schaffen, er „kann" den Bebauungsplan des ganzen wahren Gemeinwesens organisieren, er „kann" durch selbständige Erwerbung der Ge- samtheit seiner Menschen kostbare Freiflächen sichern — er „kann", aber er muss nicht. Wird er wollen? Wird diese Ver- bandsversammlung aus Vertretern der bisher scheinselbständigen und widernatürlich eifersüchtigen Berliner Monaden gewillt sein, dem grossen einheitlichen sozialen Lebewesen Berlin wahrhaft ans Licht zu helfen? Ein „Ausschuss für Gross-Berlin" hat sich als eine Art freiwil- ligen Gewissensbeirats gebildet; Minister a. D. und amtierende Bürgermeister, liberale Politiker und Sozialdemokraten, Archi- tekten und Nationalökonomen von Ruf gehören ihm an. Ihr freiwilliges Amt ist es, den Geist wachzurufen, der mit den heut gebotenen Mitteln den Körper bauen soll. Auf dassdas „Kann" des Zweck Verbandes vor der Seele der Bevollmächtigten als ein „Soll* bestehe. Man begegnet ihrem Kampf mit all der gerechten Mässi- gung und überlegenen Weisheit, die für Leute, die keine Be- wegung, kein Leben, sondern nur die Erhaltung ihrer herrlich weit gediehenen Güter wollen, so leicht, so spottbillig zu haben sind. Man hält ihrem leidenschaftlichen Appell triumphierend und entrüstet vor, dass es nicht sechshunderttausend, sondern „nur" dreihunderttausend Menschen sind, die in Gross-Berlin 4^ Wohnungen inne haben, in denen jedes Zimmer mit fünf und mehr Personen besetzt ist; und weiss ähnliche „exakte" Tatsachen mehr in den klaren Weg jedes ehrlichen Vorwärtsstrebens zu werfen. Von alledem möge sich der Ausschuss, an dessen Spitze Dernburg und Naumann, Muthesius und Südekum, Professor Franke und Oberbürgermeister Dominikus stehen, nicht ein- schüchtern lassen. Denn er ist vielleicht doch das wichtigste und wertvollste Stück in diesem ganzen Regenerationsprozess, der ein neues Berlin schaffen will. Es ist für das ganze Leben des deut- schen Volkes wahrhaftig nicht gleichgültig, ob die grosse Stadt, die seine zentralsten Organe beherbergt, ein klar und gesund ge- führter Organismus wird oder ein Haufen dumpfig geschichteter Lebensmassen bleibt. Das Bürgertum aber, das hier so Bedeu- tendes schaffen kann, wenn es nur will, steht vor einer so grossen Aufgabe freier Selbstverwaltung, wie sie ihm seit langem nicht geboten ist und sobald nicht wieder geboten werden wird. Hier wird es zeigen, ob es Selbstgefühl und soziales Gewis- sen genug besitzt, um furchtlos nach allen Seiten eine Organisationsaufgabe grossen Stils zu bewältigen — oder ob es weiter manchesterliches Behagen mit wind- schiefer Loyalität verbrämen und politisch unreif blei- ben wird. Ob die Männer, die den Geist wachrufen wollen, der allein ein wahrhaftes Neu-Berlin erbauen kann. Gehör finden — es ist nichts Kleines, was sich mit dieser Frage entscheiden wird. II. In Berlin erscheint eine „parteilose" Tageszeitung, der Lokal- anzeiger für die Gebildeten, Herrn Scherls „Tag". Er dokumen- tiert seine Parteilosigkeit in der Regel dadurch, dass er vorn zwar gegen die Demokratie zu Felde zieht, dafür aber hinten den Liberalismus verspottet und zur Abwechslung in der Mitte einen konservativen Aufsatz bringt. Dies Organ hat sich denn auch zur Agitation für eine Erneuerung Gross-Berlins geäussert, 43 und zwar durch dea Mund des Herrn Richard Nordhausen, der, wenn er sich nicht grade im „Tag" parteilos betätigt, unter Herrn Oertel die „Deutsche Tageszeitung" redigiert. Herr Nordhausen bespöttelt unter Zuhilfenahme einiger kleiner unterirdischer Ent- stellungen die neue Bewegung und erklärt, dass er schon viel länger das wirklich heilsame Rezept zur Rettung Berlins gegeben habe. Es ist so einfach: die Aufhebung der Freizügigkeit! Wenn man den Kerls aus Ost- und Westpreussen, Pommern und Posen einfach verbietet nach Berlin zu ziehen, dann wird doch das peinliche Wachstum dieser Stadt endlich aufhören — und die ostelbischen Grundherren behielten nebenbei ihre so dringend erwünschten Arbeitskräfte. — Dass mit diesem Rezept die in Berlin ja nun einmal vorhandenen vier Millionen Menschen noch nicht zu einer menschenwürdigeren Existenz kämen, das beiher. Aber der ganze Vorschlag ist, abgesehen von seiner üntauglich- keit, doch höchst interessant als kleiner Charakterzug im Bilde der preussischen Reaktion. Als Charakteristikum für jene tief unproduktive Trägheit, die diese Renegaten des Geistes als „ge- sunden Menschenverstand" maskieren. Denn der Geist und sein Leib, die Sprache, sind von Grund aus zur Tat, zur Bewegung, zur Entwicklung geschaffen, und wer (so behend am Wort, so geschickt als Journalist wie Herr Nordhausen) die Sprache gegen ihr innerstes Wesen kehrt, ist ein Renegat. Der missbraucht den logischen Schein, der lehrt das Nichtstun als Tat, die Erstarrung als die Entwicklung, den Tod als die Heilung. Das letztere ist freilich wahr, und in der Eisenbartlehre, dass der Zahn, den ich mit einer Pistole herausschiesse, nicht mehr weh tut, steckt das ganze Sophisma der Reaktion. Politik heisst ja wohl Formen hnden für das sich entwickelnde Leben der Gesellschaft, Kanäle graben, in die man die aufgestauten Wasser der Zeit leiten kann. Statt dessen empfiehlt der Vorschlag des Herrn Nordhausen die Entwicklung zu unterbinden, die lebendige Quelle zu verstopfen — und dann braucht man allerdings nichts mehr zu tun. Um 44 die Gefühls- und Geistesanstreugung einer bahnschaffenden Po- litik zu vermeiden, wirft man in die aufgestauten Wasser lieber als Beschwörungsmittel eine der wichtigsten Errungenschaften der politischen Kulturgeschichte, ein Selbstbestimmungsrecht, das sich kein Mensch mehr nehmen lassen wird, der vom Hauche des Persönlich keitsbewasstseins schon irgend angeweht ist! Träg- heit ist allerdings ein Grundinstinkt der Menschen, und, wenn ich eine Möglichkeit zum Nichtstun weise, fühlt sich dieser In- stinkt immer getroffen und nennt sich „gesunde Vernunft". Tatsächlich ist das Wachstum Berlins nach der heutigen Lage der deutschen Dinge eine Notwendigkeit; und wer auch nur sein Tempo ändern wollte, müssie nicht mit einer bequemen Verbie- terei, sondern mit Taten vorgehen. Man könnte z. B. auf den Gütern Ostelbiens für menschenwürdige Zustände sorgen, für Zustände, die die Menschen zum Dableiben locken, statt sie aus dem Lande zu jagen, Zustände, die nicht nur eine anständige äussere Lebenshaltung, sondern auch jene Möglichkeiten geistiger Kultur und vor allem jenen Grad freier Selbstbestimmung ge- währen, ohne den der rüstigere Teil der heutigen Menschheit eben nicht mehr leben will. Wenn ein paar hundert ostelbischer Riesenplan tagen z. B. in zehntausend freie Bauerngüter umgesetzt werden, dann würde voraussichtlich die Berliner Einwanderung sehr erheblich abnehmen. Aber auch dann würde sie aus hundert wirtschaftlichen und kulturellen Gründen absolut fortdauern und würde den arbeitswilligen Geistern dauernd schwere Orga- nisationsaufgaben stellen. Die Menschen, die sich solchen Auf- gaben unterziehen, zugunsten einer vernünftigen Faulheit zu verspotten, ist leicht. Aber das Wiesen der Reaktion charakteri- siert solch kleiner Zug doch ungemein. Jedesmal bietet sie statt einer Tat ein Verbot an, für einen Weg das Leben zu leiten ein Mittel, das Leben zurückzuhalten. Darum ist sie im letzten Ende unschädlich und sinnlos; aber es bleibt gleichwohl die Pflicht aller Lebens- und Arbeitswilligen, ihre Sinnlosigkeit aufzudecken, 45 an ihrer Unschädlichmachung mitzuarbeiten. Der menschHche Wille gehört mit zu den Elementen der Notwendigkeit. Hier war die Gelegenheit, darzutun, dass das Wort von der ^Reaktion" durchaus keine Phrase ist; es kennzeichnet sehr treffend diejeni- gen Geister, die statt lebendig vorwärts zu wirken, rückwärts wirken, die statt dem Werdenden die neue Form zu finden, das Werden zu hindern suchen. 46 Verbotene Bildung (1912) Dass die deutsche Sozialdemokratie heute nächst der katholi- schen Kirche die bestgefügte und stärkste soziale Organisation der Welt ist, das ist bekannt. Und dass die Regierenden in Preussen der Weltanschauung, die diese mächtige, ihnen feind- Jiche Organisation propagiert, entgegenarbeiten möchten, das ist gewiss zu begreifen. Es ist ihr Menschenrecht, und vom Stand- punkt ihrer Weltanschauung aus sogar ihre Pflicht. Aber sie sind nicht glückbch in ihrem Kampf und nicht klug in der Wahl ihrer Kampfmittel. Statt geistige Kräfte aufzubieten, die über- zeugen und innerlich überwinden können, begegnen sie ihren so gern als rein destruktiv gescholtenen Feinden mit der rein negativen Politik des Verbots und der Schikane, mit jenem Miss- brauch der rein äusserlichen Macht, der gerade alle besseren, stolzeren Geister erst recht fest im Widerstand machen rnuss. Und wie alle Regierenden fangen sie es, da sie es „im Grossen nicht verrichten können, im Kleinen" an. Und sie haben dabei das Unglück, immer gerade jene Aussenwerke der Partei zu treffen, die die zweifellos gemeinnützigste Arbeit leisten, die am unzweifelbarsten den Zusammenhang mit wirklichem Kulturfort- schritt zeigen, wie er gewiss nicht allen Betätigungen dieser grossen Organisation nachgerühmt werden kann. So versucht man jetzt mit allerlei kniff liehen Gesetzesausle- gungen und Polizeischikanen die sozialdemokratische Jugend- bewegung zu Tode zu hetzen. Wer diese Organisationen kennt, 47 weiss, was man damit anrichtet. Hier sind Stätten geschaffen, wo Tausenden von jungen Grossstadtmenschen statt des Tanzbo- dens, der Kneipe und des Kientopps eine geistige Art des Lebens- genusses erschlossen wird, vom Schachspielen und vom Zeitungs- lesen bis zu Vorträgen über Goethes „Faust" und der Darbietung Schubertscher Lieder. Die Politik steht völlig im Hintergrund und statt der ewigen Kampfreizung für ein besseres Leben (die ja freilich auch ihren Kulturwert hat) bietet hier die Partei ein- mal wirklich reale Arbeit an besserem Leben, echte kulturelle Kolonisation. — Nun ist freilich wahr, in diesen formal unpoli- tischen Verbänden steht der Geist der politischen Partei im Hin- tergrund, der Geist, der die Jugend der sozialistischen Idee ge- winnen will; und so zweifelhaft das formale Recht der Regierung zu ihren jetzigen Massnahmen ist, so zweifellos ist ihr subjektives Recht, gegen diesen Geist anzugehen und um die Jugend für ihre, entgegengesetzte, Weltanschauung zu werben. Nur, dass es ein fairer Kampf der Geister bleibe! Dass man nicht die blosse Zerstö- rung vorhandener Werte als Resserung ausgebe! Die Macht der Herrschenden, die über den ganzen ungeheuren Apparat von Schule und Kirche gebieten, ist ja ohnehin gross genug: und wenn neuerdings Offiziere an den Volksschulen eine Jugendbewegung im monarchisch-nationalen Sinne mit Ausflügen und Kriegsspie- len zu organisieren suchen, so darf das gewiss von manchem Stand- punkt aus fragwürdig erscheinen ; der Vorsprung, den der Regie- rungsapparat den königlich Gesinnten bietet, ist hier höchst spür- bar; aber es bleibt doch immer im Prinzip wenigstens ein Wettbe- werb der Geister: es muss sich eben zeigen, mit welchen Lockun- gen und Ideen heute der grössere Teil der deutschen Jugend zu gewinnen ist. Dieser positiven Organisation aber mit gesetzlich fragwürdigen Polizeischikanen die blosse Negation zur Seite zu stellen, das kompromittiert die eigene Idee wie ein Zeichen des Misstrauens in ihre Kraft, und es fördert in Wahrheit die feind- liche. Denn kein Junge und kein Mädchen, an dem, weil er Ver- 48 stand und Stolz und Persönlichkeit besitzt, überhaupt irgend etwas gelegen ist, wird einer Idee untreu werden, weil er sie von äusserer Macht verfolgt sieht. All diese jungen Leute, die man jetzt etwa aus den sozialdemokratisch gerichteten Jugendheimen und Ju- gendvereinen vertreibt, werden, nachdem man das schikanöse Verbot durch irgendeine schikanöse Umgehung pariert hat, sich um so fester an jene Ideen anschliessen, die sie verfolgt sehen. Und Tausende im Volk werden abermals den Eindruck gewinnen, dass in Preussen ein kulturfeindliches Parteiregiment Bildungen vernichtet, für die kein höherer Ersatz geboten wird, da?s man die jungen Leute von Schubert und Goethe zu Kientopp, Tanz- lokal und Kneipe hinaustreibt, und dass man im Namen der gefährdeten Kulturgüter in Preussen die Bildung verbietet. 4 Bab, Erwachen zur Politik 49 /" / Vor dem Bellfried in Brügge (1912) Trägt der reisende Europäer sein literarisch präpariertes Ge- müt in irgendeine Stadt mit so vor^jefasster Melancholie wie nach Brügge? Ist ihm die „tote Stadt" nicht hundertfach vorgemalt, gezeichnet, gedichtet worden als die finster prächtij^e Gruft längst verblichener Herrlichkeit, als nur wehmütige Klage, als kraftloses Hinsinken einstiger Hoheit in immer grauere Vergänglichkeit? Aber wo blieb das alles, wo blieb die Trauer der schwarzen Ka- näle mit den hingleitenden Schwänen, wo blieben die wirklich düsteren, bröckelnden Fassaden der allen Paläste, wo die dumpfe, übersättigte Pracht der Kirchen, als ich vor dir stand, du Turm der Stadt, als ich deinen Klang vernahm, du Glockenturm! Scharteckig und breit über den grossen Bau der Hallen gelagert, steigt er auf, der Bell fried von Brügge, steigt auf wie eine weisse Woge in immer noch leuchtendem Stein. Bald umschlingt eine Galerie von breiten, noch fast romanischen Bogen den stämmigen Leib. Ein wenig schlanker flieht der steinerne Held aus dieser Umarmung hervor, zwei schon scharf gespitzte gotische Bogen- fenster, hell inmitten des Steins, reissen ihn auf. Da kommt ein neuerer, kleinerer Bogengang in hartem wagerechtem Strich, aber die aufwärts blühende Kraft ist nicht mehr zu halten, an' den vier Ecken schlägt sie in kleinen, zackenreichen Rundtürm- chen empor. Und nun blüht aus dem breiten quadratischen Grund plötzlich ein Achteck von fast runder Grazie empor, in schlank gekanteten Pfeilern, über Rundfenster und Spitzfenster- 5o chen jagt nun der Turm hoch; noch einmal fängt er in grossen, offenen Spitzbogen die freie Luft und zeigt seine Glocken — und dann ist es erreicht: er jubelt ins Licht hinauf, in einer kleinen, hundertfach durchbrochenen Galerie, einem Filigranwerk stei- nerner Spitzen. Und so, die letzte Schwere abgeschleudert, steht er da, steinern fest und fliegend leicht, steht da, läutet und leuchtet. Dies ist wahrlich nicht Trauer, nicht Versunkenheit und Klage. Dies ist ein schmetternder Ruf in den Tag, ein so stolzes Bekennt- nis unzersiörter, weil unzerstörbarer Menschenkraft, dass wie mit Fackeln gejagt alle Gespenster entweichen. Dieser Turm singt und man möchte mitsingen. Nein, er singt nicht, er gleicht jenen Engeln, von denen ein Dichter unserer Tage gesagt hat, „sie sin- gen nicht, sie sind Gesang". Ein Stein, der Gesang geworden ist, ein immer reiner brausendes Lied von der Überwindung der Schwere, von der Geistwerdung der Leiber. — Dies ist keine Kirche, dies ist kein Münsterturm — dies ist ein Bürgerbau, den die stolzen Städter vor sechshundert Jahren sich errichtet haben in Gottes Namen zur eigenen Ebre. Welch Mass gebän- digter Kraft, welche riesige Harmonie gezügelter Gewalten spricht nicht aus dem Rhythmus dieses Turms! Welch sicher gründende Weltlust, welch hell hinanzeigende Himmelsfreude! Welche Welt steht im Hintergrund dieses Bellfried von Brügge! Ist nicht ganz Belgien nur Hintergrund zu diesem Turm? Dies Land der Flamen und Brabanter, der westlichsten Deut- schen, die in unendlicher Reibung mit dem romanischen Nachbar ihre germanische Kraft zu einer sinnlichen Freiheit und Behen- digkeit bildeten, wie kein anderer Zweig ihrer Volksgenossen? Ragt nicht der Berg bei Brüssel im Hintergrund dieses Turms, der Berg, darauf der Herzog von Brabant sein „Gott will es" über die Massen der Kreuzfahrer rief, voll phantastischer Frömmig- keit und klarem Erobererwillen. Und steht nicht aller Glanz der grossen Städte hinter diesem Turm — Ypern, Gent, Brügge, r 5i Brüssel und Antwerpen, die den gewaltigen Sold dieses kriege- rischen Gottesdienstes empfingen, den Handel von der Strasse auf sich zogen, die die Kreuzfahrer gebrochen hatten und üppig aufwuchsen unter den Völkern?! Aus diesem Stein leuchtet die helle, sinnliche Lust, die Jahrhunderte später gegen den spani- schen Druck aufbegehrte, — Egmonts Blut blinkt auf, und selbst noch ein Schein jener wild und bunt überwuchernden Sinnlichkeit, die ihr Gerank unter dem spanischen Alp hindurch- trieb, über die Last neukatholischen Glaubens hinweg, in den Tagen des Rubens. Ganz Belgien steht hinter diesem Turm. Aber sein Hintergrund ist grösser. Auf den Hallen der Hand- werker ist er erbaut, auf dem Haus der Zünfte. Die Gemein- schaft der arbeitenden Bürger trägt ihn. Menschen eines Glaubens und Menschen eines Willens, irdische Menschen mit einer mehr als irdischen Lust haben so hoch gebaut, haben so klare Harmonien aus dem Stein geschlagen, so sicher das schwere "Viereck in luftiges Spitzenwerk emporgeläutert. Dies ist die im Stein beharrende Form von Seelen, die einig waren auf ihrer Erde, einig für ihren Himmel. Das ganze grosse, so lichte Mittel- alter ist der Hintergrund dieses Turms. Und was verdämmert düster und dumpf ganz am Horizont des Bildes hinter der schlanken Helle dieses Glockenturms? Sind das die Schornsteine und Schlackenberge des wallonischen Belgiens? Ist das das schweissige, qualmende Elend hinten in Hennegau, Meuniers schwarzes Land und auf Frankreich zu die finstere Erde des „Germinal"? Ist das vielleicht das ganze Elend un- serer klugen, aufgeklärten und im Innersten zerrisse- nen Welt? Unsere Welt ohne wirksamen Gemeinsinn, ohne wegweisenden Glauben, ohne formgebende Harmonie? Ja, das ist unsere gepriesene, unselige Gegenwart, unerschöpferisch im Glauben, ungläubig im Schaffen, unkundig des Bundeswortes der Geister, das Steine so tanzen und singen lässt. Und vor ihrem qualvollen Grau blitzt dieser prachtvolle Glockenturm zum Him- 52 mel, stolz und verachtend, höhnisch und gross — nicht eine Klage um die unsterbhchen Toten, eine Anklage der unbeseel- ten Lebendigen. Ein paar helle Punkte leuchten aus jenem grauen Dunst her- über, der hellen Strebekraft des Turms zugewandt. Sie kommen aus diesem immer noch lebendigen, immer noch schöpferischen Lande. Noch lebt in Flandern und Brabant etwas vom Geiste der Bürger, die diesen Turm schufen. In den inbrünstigen Ge- stalten eines Minne reckt sich die adlige Seele nach neuem Glauben auf, und schon schuf Meunier seine schwarzen Arbei- ter zu einem neuen, stolzen Adel der Kraft; hier träumt Mae- terlinck vom Schatz der Armen, und Verhaeren, der Pro- phet, lauscht der Geburt des neuen Gottes, der sich aus unserer dröhnenden Menschenarbeit gebären will, und kündet in Zungen von ihm. Die Männer von Flandern und Brabant rufen eine neue Kreuzfahrt über die Welt. Und neben grosser Vergangenheit und düsterer Gegenwart dämmert im Hintergrund dieses Turms der Schein einer Zukunft, die es vielleicht wieder vermag, den Stein in so berauschenden Harmonien emporzuführen, wie die Bürger des Mittelalters es vermochten, hier am Bellfried von Brügge. 53 Von Konstanz bis Memel (Sommer iQiS) Als der Dampfer weich und wuchtig durch die blauen Wasser des schwäbischen Meeres davonrauschte und das Münster von Konstanz langsam am Horizont schwand — weisse Städte blinkten vom Ufer, Hügel hoben sich dahinter und hinter den Hügeln die mächtigen Berge — da sah ich plötzlich die endlose braune Fläche vor mir, kahl, rauh, unbewohnt, durch die mich gerade vor Jahresfrist der Personenzug gerüttelt hatte, gerade vor Jahresfrist, als ich nach Memel fuhr, dieser letzten der deutschen Städte. Eine letzte war ja dies Konstanz, über die Bodenseegrenze zwischen Schweizer Gebiet geschoben, auch. Und zwischen diesen beiden deutschen Städten, dieser südwest- lichsten, jener nordöstlichsten — zwischen beiden liegt Deutsch- land. Damals, nach Memel, war ich aus Berufsgründen gefahren; dass ich heute nach Konstanz kam, war ein Stück meiner Som- mererholung. Vielleicht gab ich heute die Groschen aus, hier am Bodensee, die ich dort, an der Nehrung, damals verdient hatte. Vielleicht — und dann vollzog sich damit ein Teilchen des grossen deutschen Schicksals, das zwischen Ost und West un- gleich entscheidet. Aber war nicht zuletzt jene Arbeitsreise auch eine schöne, wertvolle Erfahrung gewesen? — eine Fahrt, die mir dies äusserste, wenig begehrte Stück deutschen Ostens zeigte und mich der schönen Möglichkeit ein wichtiges Teil näher führte, der so begehrenswerten Möglichkeit: dies Deutschland, 54 in dem und durch das und für das ich lebe, einmal ganz zu kennen! Dies Deutschland, das zwischen Memel und Konstanz liegt. * Konstanz entschwand. Wer eine schöne alldeutsche Stadt gesucht hatte, ganz getaucht in die Farbe historischer Herrlich- keit, etwas wie Rotenburg oder Tangermünde, Nürnberg oder Braunschweig, der musste enttäuscht sein. Kaum stehen noch Privathäuser, die älter als hundert Jahre sind — kein Stadtteil hat ein anderes Gepräge als das einer „noch nicht modernen" Kleinstadt. Der Bahnhof ist ein fast grotesker romanischer Hallen- bau mit einem unmotiviert plötzlichen Mitteltqrm; das Theater offenbar ein alter bischöflicher Pferdestall. Von den wertvollen alten Bauten sind einige, wie das Rathaus und das Haus zum Freihafen („hier wurde der Burggraf von Nürnberg mit der Mark Brandenburg belehnt") mit recht betrübenden Gemälden restau- riert. Und dass die zwei schönsten alten Gebäude: die Abtei auf der „Insel" und das grosse „Konziliengebäude" am Hafen jetzt dem Gastwirtsgewerbe dienen, spiegelt die andere Seite dieser Kreishauptstadt, die sich zugleich mit Grund als Fremden- stadt fühlt. — Es bleibt das Münster — kein ausserordentliches, genial überwältigendes Werk; aber doch so rein, würdig und stark in allen Formen, so wuchtig in den Dimensionen, dass es das An- denken der altberühmten Reichsstadt und des mächtigen Bischofs- sitzes Konstanz am besten wahrt. In diesem rein erhaltenen, gros- sen romanischen Kirchenschiff mit den sechzehn starken Säulen hat das Konstanzer Konzil in Wahrheit getagt, und dort an der Tür wird die Stelle gewiesen, an der Huss sein Urteil vernahm, eh sie ihm draussen vor der Stadt den Holzstoss entzündeten. Ich denke nicht, dass diese Stelle „echt" ist; wohl aber ist die Würde dieses Raumes echt, der einmal die Gesetzgeber der europäischen Christenheit beisammen sah. 55 Das Münster bleibt. Und mehr als das Münster und irgendeine Einzelheit der schlecht konservierten Stadt bleibt dennoch ihr Gesamtbild in uns haften. Dies ganze Bild in der Landschaft, wie es über den See grüsst: ruhig und rund mit Türmen und Brücken in den sanften Abhang steiler Berge gefügt. Reich, froh und bunt — so entschwindet Konstanz. Memel taucht auf, und Memel ist grau. Grau, arm und ernst — das sind seine Zeichen. Eine Stunde vor Memel beginnt das preussische Flachland einen russischen Steppencharakter zu zei- gen — unbebaut, braun, riesig, monoton schleppt es sich hin. Holzhäuser im russischen Bauernstil künden das Nahen der Stadt an — und in den gleichen niederen russischen Holzbauten löst sich die Stadt vviedier auf, zerdröselt am Strand hin, in die Heide hinein. Dennoch ist Geschick und Art dieser Stadt dem badischen Bodenseehafen vergleichbar. Auch Memel ist eine Stadt von be- deutender mittelalterlicher Vergangenheit, ein würdiges und wohlhabendes Mitglied der Hanse. (Der Bürgermeister von Me- mel besitzt noch heute preussische Herrenhauswürde, als Haupt der kleinsten dort vertretenen Konimune.) Auch Memel hat am Haff einen ausgesprochenen Binnenseehafen, und wie Konstanz an der Schwelle der Alpen, so liegt Memel an der Pforte unserer anderen grössten Natur: wenn man die lange Mole hinaufwan- dert oder mit dem Dampfer das Haff kreuzend den Dünensand der Nehrung durchmisst, dann hat man die Ostsee vor sich — einsam, gross und wild — von keinerlei Badekultur befleckt — das Meer. Aber während sich Konstanz rüstig und munter hält und auf der Woge des internationalen Fremdenverkehrs fröhlich oben schwimmt, sinkt Memel hin. Die Bedeutung seines Hafens, der einst unentbehrliche Station zwischen Ost und West schien, schwindet, die grosse Schiffahrt überschlägt ihn. Und die 56 • entscheidenden Eisenbahnlinien gehen an der Südgrenze dieses herausgeschobenen deutschen Kreises vorbei, der zu klein ist, um einer grösseren Stadt genug „Hinterland" zu geben. So steht diese alte, charaktervoll graue Handelsstadt still, während flach physiognomielose Provinzstädte wie Allenstein und Tilsit, von Preussens Verwaltung, Eisenbahn und Militär gesegnet, üppig aufschiessen. — Memel hat kaum einen Fremdenverkehr; seine „Hotels" sind dürftig unansehnliche Ziegelhäuschen. Kaum drei oder vier Strassenzüge haben eigentlichen Stadtcharakter, allent- halben löst sich der Ort wieder ins Land auf. Auch was Stadt scheint, ist niedrig, rauh, architektonisch ausdruckslos; die Kir- chen haben kein Gesicht — ein ganz statthches Theater, das ein reicher Kaufmann der Stadt hingebaut hat, wirkt an seinem kahlen Platz fast erschreckend und scheint vor Verlegenheit mit seinen Kalkmauern hinzubröckeln. Nur die „Börse" reckt einen eckigen Turm hoch am Haff, und der Hafen, der mit Speichern, Dämmen, Stapelplätzen, Kähnen und Fähren immer noch einen erheblichen Holzhandel herbergt, gibt der Stadt ein Gesicht. Ein mächtiger langer Molenbau zeigt ins Meer hinaus. Hier gewinnt die Öde Grösse, das Grau wird dunkelnder Ernst, das Rfeuhe schwer gesammelte Kraft. Diese farblos niedere Stadt gewinnt ein finster heroisches Gesicht: an den russischenSteppen- rand vorgeschoben ein deutscher Hafen — sinkend, zäh, arm, stolz — so taucht Memel auf. * Und zwischen Memel und Konstanz liegt Deutschland. Ein gross Stück seiner Geschichte — seiner gegenwärtigen und zu- künftigen — steht eingegraben in diese beiden vorgerücktesten Grenzpfähle für den, der zu lesen weiss. Stolz ist die Vergangen- heit hier wie dort, denn im glänzenden Südwest ward nicht grössere Kraft, nicht kühnerer Geist eingesetzt als im grauen Nordost, wo am Rand der slawischen Steppe eine deutsche Han- delsempore geschaffen wurde. Aber die deutsche Enklave in der 57 Schweiz, von glücklicher Natur gesegnet, von der Nachbarschaft reger Zivilisation befruchtet, hat eine sichere und frohe Zukunft. Deutschlands letzte Stadt, eine Stunde von Russlands Grenze, zwischen die Steppe und die See gedrängt, hat schwere und sor- genvolle Tage vor sich. Wenn es eine innere deutsche National- politik gibt, so muss ihre grösste Sorge sein, die überfliessenden Kräfte des Westens dem bedürftigen Osten zuzuleiten, der deut- schen Kraft den Weg offen zu halten, den ihr die grossen Kolo- nisatoren vor achthundert Jahren schon gewiesen. Denn das deutsche Bewusstsein sollte all seine Kinder mit gleicher Liebe umfassen; zu wertvolle Ki'äfte unserer Nation sind jenseits der Oder, ja selbst jenseits der Weichsel in die Erde gesenkt, als dass man je der Pflicht ledig werden könnte, diese Saat zu pflegen. Auch an der Memel — und die Söhne des Rheinlandes wissen das kaum mit dem Verstände! — auch an der Memel liegt Deutschland. * Der Rhythmus des deutschen Lebens stammt aus dieser grossen Spannung vom glücklichen West zum harten Ost. Die ganze Mannigfaltigkeit, die niemals mit einem einheitlichen Be- gritf zu umspannende Gestuftheit deutschen Seins kündet sich in dieser ge^valtigen Distanz. — Eine kleine Variation dieses grossen Themas lasst sich gewinnen aus der Betrachtung der deutschen Juden in Konstanz und Memel. Konstanz hatte eine der grössten mittelalterlichen Judengemeinden, sie s|)ielt ihre tragisch passive Rolle in der Geschichte der Stadt, und die Dichtung hat bis in die neueste Zeit gerade den „Juden von Konstanz" gern zumTypus dieses weither kommenden, ins Deutsche gebetteten Lebens ge- wählt. Heute ist die Kultgemeinde der Konsianzer klein — ihre besten Kräfte hat sie lange hinaus entlassen, ins Reich, in die deutsche Kultur, wo diese Juden, seit tausend Jahren Deutsche, wohnen. lu Memel gibt es nach wie vor eine sehr stattliche Judenge- 68 meinde — nur sind sehr wenig deutsche Staatsbürger und fast kein geborener Deutscher dabei! Die Gemeinde rekrutiert sich fast ganz aus russischen Juden. (Sie haben hier den wichtigen Holzhandel in Händen.) — Hier werden die im Mittelalter aus- getriebenen Deutschjuden Litauens allmählich wieder zu Deut- schen, wandern in der zweiten Generation fast immer nach We- sten ab und ergänzen sich neu von der naben Grenze her. Wer von Konstanz nach Memel blickt, lernt auch, dass der Begriff des „deutschen Juden" nicht als ein schlicht einheitlicher gefasst werden darf. * Und noch etwas lernt, wer diese grosse Gedankenfahrt macht: von Berlin war ich beide Male ausgegangen, und siehe da: diese beiden änssersten Städte Deutschlands sind in Luftlinie von der Hauptstadt des Reiches genau gleichweit entfernt. Nur weil hier das Flachland last schnurgerade Strecke erlaubt und dort Gebirge zu umfahren oder zu übersteigen sind, kommt der schnellste Zug zwei Stunden schneller nach Memel als nach Konstanz. Das aber will viel bedeuten, dass in diesem über so grosse und nicht nur räumliche Distanzen gespannten Lande die Hauptstadt fast ma- thematisch in der Mitte liegt, die längste Diagonale genau hal- bierend! Es ist doch wohl der tiefe Sinn unseres nationalen Gleichgewichts in diesem „Zufall". Wien durfte unsere Hauptstadt nicht bleiben an seinem Ostrand, und München konnte es nie werden und Hamburg nicht. Frankfurt hält wohl zwischen Nord und Süd wundervoll die Mitte, und als das Gleichgewicht der Niederlande und der Schweiz noch am deutschen Reiche hing, durfte es auch zentrale Bedeutung haben. Da die neue Reichsein- heit diese grossen Stücke aber nicht wieder aufgenommen hat, so entscheidet diese Senkrechte den Bau des nationalen Lebens nicht mehr; die Diagonale, die auch nach Osten und Westen weist, ist unsere Lebenslinie — und in ihrer Mitte, zwischen Konstanz und Memel, liegt Berlin, die neue Hauptstadt. In dieser 59 Lage ist ihr Sinn und ihr Recht: sie gibt Arbeitskräfte und Bo- dengüter von Ost nach West, sie soll Geisteskräfte und Kultur- güter von West nach Ost geben. Als der grosse Markt deutschen Lebens auf mittelstem Punkte gelegen, ist Berlin mit Grund Hauptstadt. Klagt man über das Schrille, Bunte, Unausgeglichene, Ewig- gespannte, reibungsvoll Laute der neuen deutschen Reichshaupt- stadt — nun so gehört all das vielleicht gerade zu ihrer Mission: Deutschlands Ost und West, Nord und Süd mit all seinen Ge- gensätzen ineinander zu arbeiten! Der Lärm beweist, dass die Arbeit noch nicht vollendet, aber auch däss sie ehrlich getrieben wird. Vielleicht hat Berlin heute wirklich noch kein Gesicht, weil es alle deutschen Kräfte auf sich wirken lässt; aber dafür wird es vielleicht einmal ein Gesicht haben, das annähernd das deutsche Gesicht ist. Es macht jedenfalls Ernst mit seiner Mission, es arbeitet. — Deshalb gibt mir der Lärm von Berlin doch immer etwas von dem glücklichen Rausch, der mir jetzt über dem Bo- densee aus der stillen Fahrt meiner Gedanken kam: Von Memel bis Konstanz — dieser Weg ist Deutschland — das ganze grosse, ■wundervoll verschiedene, unendlich schöne deutsche Land. 60 Vor der Katastrophe Der deutsche Weg: Ein Epilog zum Streit um Hauptmanns Festspiel (Herbst 191 3) Die Schlacht ist nicht entschieden, aber zu Ende — die Schlacht, die um das Hauptmannsche Festspiel in Breslau getobt hat. Die Schlachten, in denen es in Deutschland um geistige Interessen geht, verlaufen ja alle so. Die Menschen des geistigen Inter- esses erheben einen Protest, — wenn sie sich in die zuweilen etwas kompromittierende Gesellschaft der politischen Oppositions- parteien begeben, wird sogar ein Lärm daraus — in jedem Falle aber geschieht oder bleibt bestehen, was die Männer der Macht von Anfang an tun wollten oder getan hatten. So ist es auch in diesem Fall wieder gewesen. Die Träger der realen Macht in Deutschland, das heisst jene, die zuletzt über die Bajonette, den Geldsack und den Verwaltungsapparat verfügen, fanden, dass ihnen das Festspiel des Dichters Gerhart Haupt- mann unsympathisch sei, und sie inhibierten es. Nachdem eine Weile über diese Verfügung sehr viel depeschiert, geschrieben und gesprochen worden war, blieb es dabei. Nachdem aber die Protestier sich beruhigt haben, ist vielleicht gerade für den, der das deutsche Kulturproblem studieren will, die Zeit gekommen, einmal zu fragen, was, abgesehen von der Erregung dieses aus- sichtslosen Kanipfes um die Macht, dieser Vorfall denn bedeu- tet? — Der ganz gewiss erheblichste Dichter des heutigen Deutschland soll für einen grossen, die ganze Nation interessie- renden Gedenktag ein Festgedicht schaffen. — Er tut es und der 63 Effekt ist, dass die sogenannten Edelsten, jedenfalls die Mäch- tigsten der Nation sich entrüstet gegen ihn kehren. Das ist ganz offenbar eine tiefproblematische Situation, und zunächst die formale Verwandtschaft mit der hundert Jahre älteren Situation, als der deutsche Dichter Goethe den Führern der hier zu feiern- den Bewegung fremd und feindlich gegenüberstand, um schliess- lich in einem eiskalten Festspiel zu bekennen, dass er gleich dem alten Epimenides diese Zeit der Taten verschlafen habe — diese Verwandtschaft fällt bedeutsam auf. Es lohnt sich wohl in den geistigen Grund dieser wildbewegten Oberflächenerscheinung hinabzusteigen. Zuerst noch einmal den Sachverhalt: Gerhart Hauptmann schafft ein Puppenspiel: Der Herr, der unserem Willen ewig un- fassbar bleibt, lässt seine Marionetten auf dem Welttheater tan- zen: Aus dem Jacobinerchaos ersteht der grosse Menschen- bändiger Napoleon; unter dem ungeheueren Druck seiner Macht aber erheben sich in dem zum Karnevalsjammer entstellten deut- schen Reich die Männer, die von den grossen Ideen der Mensch- lichkeit, der Freiheit, der Kultur getragen, die fügsame Trägheit des umgebenden Philistertums besiegen und die Jugend zum Aufstand fortreissen. Aus der deutschen Mutter, die ihre Söhne nicht der Machtgier des Eroberers, aber diesen grossen Mensch- heitsideen hinopfern will, erhebt sich „Athene Deutschland", zu der am Schluss der Festzug der friedlichen Kulturträger wallt: Landleute, Arbeiter, Künstler, Forscher und „auch einige Herr- scher, die sich um die echte Kultur ihrer Völker verdient ge- macht haben". Und die Göttin begrüsst sie im Namen der allver- einigenden, allbeseelenden, allschöpferischen Liebe, die (wie bei Beginn des Spieles schon Pythia wahrgesagt hat) vor zwei- tausend Jahren verkündet, aber immer noch nicht zur Welt ge- boren ist. Dies war des Spieles geistiger Kern, und wie weit er voll- kommene, künstlerische Gestalt geworden ist, diese Frage braucht 64 uns hier durchaus nicht zu beschäftigen. Denn die Mensclien, von denen der Protest gegen dies Festspiel ausging, haben weder die Fähigkeit noch den Ehrgeiz, einen guten von einem schlech- ten Vers zu unterscheiden. Sie hätten die elendesten Reimereien und Allegorien widerspruchslos hingenommen, wenn sie der Ver- herrlichung einer Gesinnung, die die ihre gewesen wäre, gedient hätten; sie können überhaupt nicht (wie wenige können das!) den ungefähren Vortrag einer Meinung in Versen von einem ge- dichteten Erlebnis unterscheiden. Es sind die Leute, die jene all- zu kindlichen Freiluft-Theaterstücke, mit denen Deutschland zur Jahrhundertfeier so überreich gesegnet wird, mit behaglichem Beifall aufnehmen. Die ästhetische Frage also, ob die Haupt- mannsche Gesinnung hier wahrhaft Gestalt geworden sei, oder ob er etwa im begrifflichen Arrangement und rhetorischen Aus- druck stecken geblieben sei, diese Frage braucht uns gar nicht zu beschäftigen, wenn wir das Verhalten der Kriegervereine, der Zentrumswähler und der allerhöchsten Herrschaften verstehen wollen, deren gehäufte Proteste schliesslich den Breslauer Ma- gistrat bewogen, recht kläglich, weil ganz gegen die eigene Mei- nung, die Einstellung des Festspiels zu verfügen. — Aber hätten wir denn eine schwere materielle Schädigung unserer Jubi- läumsausstellung riskieren sollen — ? sagt der Herr Bürger- meister entrüstet, und alle Welt stimmt diesem vernünftigen Argument bei. Es hat aber Zeiten oder wenigstens Männer ge- geben, die es „vernünftig", natürlich und sogar notwendig fanden, viel Schaden an Hab und Gut zugunsten einer Überzeugung zu er- leiden. — Eigenes, und was für den sittlichen Menschen noch viel schwerer ist, auch anderer Gut zu opfern! Hauptmanns Festspiel verherrlicht eine solche Zeit und solche Männer. Voraussetzung dabei ist freilich, dass man eine Überzeugung, eine klare, gebie- tende innere Weltansicht besitzt. Und eben an der fehlt es unse- rem grossstädtischen Bürgertum in entscheidenden Augenblicken so oft. Man ist gebildet, das heisst, man hat der grossen humani- 5 Bab, Erwachen zur Politik 65 stischen Kultur gegenüber, die Deutschlands Klassiker gegründet haben, gewisse Verpflichtungsgefühle: aber man hat ihre Ideen keineswegs zur ernstesten Lebenssache gemacht; und darum fügt man sich doch immer allen, die die Macht haben und Unbequem- lichkeiten bereiten könnten. Man bestellt und akzeptiert zwar ein Festspiel vom Dichter Hauptmann, aber sobald seine Aufführung mit einem Verlust von mehreren Talern verknüpft sein könnte, gibt man es preis. Der eigentlich Blamierte in dieser ganzen Affäre scheint mir der Breslauer Magistrat als Repräsentant des gebildeten Philistertums. Blamiert ist nämlich schliesslich immer nur der, der anderes tat als er wollte, oder dem man für sehr grossartig vertretene Handlungen sehr kleine, egoistische Motive nachweisen kann. Aber mit den eigenthchen Gegnern Hauptmanns ist das keines- wegs ein so einfacher Fall. Gewiss: im Vordergrund standen auch allerlei Schreier, denen politische Scharfmacherei öin trau- riges Gewerbe ist, und die Masse der Demonstranten waren ah- nungslose Puppen, am Draht von Schlagworten gelenkt. Und am Ende dieser ziehenden Schlagworte standen die Höfischen, denen es unerträglich war, dass die glorreichen Monarchen, ge- gen deren heftiges Widerstreben sich Anno l8i3 die Völker befreit haben!, nicht ausreichend zelebriert wurden, standen Pfaffen, denen die Verkündigung des lebendigen, immer noch werdenden und in allen Seelen neu zum Licht strebenden Gottes unerträglich war, standen Militärs, die es nicht ertragen konnten, dass hier der Krieg ein Übel und der Frieden ein höch- stes Ziel genannt wurde. Aber wenn man von den einfachen Lü- gen der Pamphletisten absieht, die dem bodenständigsten unserer Dichter undeutsche Gesinnung, Napoleonkult und, in den An- deutungen eines besonrleren Schubiaks, gar eine Verherrlichung des Jakobinertums vorwarfen — so wird man in höherer Instanz auch von den schlichten Egoismen, den einfach als Groll über „Berufsstörung" zu charakterisierenden Motiven absehen dürfen. 66 die im Mittel gründe des Hauptmannprotestes standen. Denn trotz all dieser Privatinteressen haben diese Menschen doch nicht ge- logen, wenn sie sagten, dass das Hauptmannsche Festspiel ihre Vaterlandsgefühle verletzte. Denn ihr Verhältnis zu Thron, Altar und Heer ist doch schliesslich auch ein Symptom dafür, dass sie in ihrem Geiste wirklich ein ganz anderes Vaterland haben, als es Kulturmenschen von der Art Gerhart Hauptmanns besitzen. Die Tatsache besteht, dass die Mächtigen, die durch Bureaukratie, Kirche, Militarismus noch immer grosse Massen in geistiger Hörigkeit halten, noch immer ganz unberührt sind von den Ideen nationaler Würde und Ehre, die unsere Klassiker seit vier Generationen zum Eigentum aller geistigen Menschen in Deutsch- land gemacht haben. Es ist der Kern dieser Ideen aus der Kantischen und Goethe- schen Welt, dass die Verwirklichung der sittlichen und ästheti- schen Kulturgüter, dass Freiheit und Schönheit, strebende Wis- senschaft und fromm hingegebene Kunst, Herrschaft der Ge- rechtigkeit und der Liebe, kurz, dass die grossen allgemeinen Menschheitsziele Sternenmündung für alle nationalen Wege sein müssen, und dass mit bewusstester Hingabe diese Ziele zu pflegen und zu ehren, die besondere Fähigkeit, die besondere Ehre — das Schicksal der deutschen Nation sei. Die schliesslich zu fühl- barster Realität anwachsende Macht solcher Gesinnung hat das neunzehnte — das „deutsche" Jahrhundert erkennen gelehrt! Der deutsche Geist, keineswegs die deutschen Fürsten und die deutschen Kanonen, haben über die Welt geherrscht. Aber frei- lich, auch die Einseitigkeit dieses „Idealismus" war zu spüren. Wie für uns der Geist nur in Leibern lebt, so kann auch das edelste, menschheitlichste Streben in einer Nation sich nicht rein entfalten, die nicht durch äussere Machtorganisationen die Ruhe und Sicherheit solcher Arbeit garantiert. Und die Deutschen litten unter dem Mangel solcher Einung so sehr, dass sie den grossen, revolutionären Organisator, den genialen Bismarck, der 5- 67 die Macht einmal aus ihrer stumpfen Beharrungsgier riss und zu neuen Formen schöpferisch machte, zu vergöttern anfingen. Durch das faszinierende Beispiel dieses grossen Mannes ist im letzten Menschenaller auch ein Teil der geistigen Jugend zu jener im Grunde ganz undeutschen Nationalauffassung verlockt wor- den, die bisher nur bei den an der Macht Interessierten und ihren Knechten lebte, die Auffassung, als sei nationale Ehre allein Machtentfaltung, Kriegsstarke und repräsenta- tiver Glanz. Das Gelühl, dass Bismarcks Werk ein Gefäss ist, das seinen Wert erst erhält, wenn wir es mit Goetheschem Geiste wieder füllen, ist viel zu vielen heute verloren gegangen. Und diese Vielen sind es, die sich gegen Hauptmanns Festspiel im Namen ihres Vaterlandgefühls erheben. Kein Zweifel, das i.st das glücklichste Volk, in dem sich diese Widersprüche gar nicht melden, das an seinem nationalen Glanz arbeitend zugleich Menschheitswerte produziert, das sich in fröh- licher Sicherheit für das „auserwählte Volk" hält, wie die Eng- länder es tun. (Und da alle Völker zur Arbeit am grossen Menscb- heitsvverk „auserwählt" sind, haben sie auch recht, solange sie nur rüstig arbeiten!) Die geniale Klarheit aber, die wellüberflie- gende Schwungkraft, die die Menschheitsidee im deutschen Geiste bekam, diese unsere klassische Leistung war vielleicht nur um den Preis eines Zwiespalts der nationalen Instinkte zu haben. Denn hier wurden vom inneren Menschen so viel Kräfte absor- biert, dass der äussere darunter leiden muss. Und aus einer be- rechtigten Beaktion musste dann wieder eine so unberechtigte Allmacht des äusserlichen, des ausserkulturellen Nationalgefühls erstehen, dass das Gleichgewicht nach der anderen Seite verletzt war. — Die höchste Schönheit des grossen geschichtlichen Schau- spiels der Befreiungskriege ist nun vielleicht gerade, dass dort für einen Moment dieser Zwiespalt zu schweigen schien, dass aus ganz geistigen Motiven eine Machtbewegung hervortrat. Denn die Gesinnung, die zu dem grossen Volksaufstand führte, 68 war von Männern wie Fichte und Schleiermaclier ausgesät, und die Organisatoren wie Stein und Scharnhorst waren ihre Schüler und schufen in ihrem Geiste. Wenn auch für das Ohr des alten Goethe die Laute der brutal entfesselten Macht schon zu ver- nehmlich herausklangen, so dass er dieser Bewegung fremd blieb, — man darf doch sagen, dass die Deutschen damals ihre natio- nale Macht für eine Menschheitssache aufgeboten haben, und dass für eine schöne Stunde die Träger der Kultur und der Ge- walt eines Sinnes schienen. Dass der Geist der Indifferenz ge- krönter und privater Philister damals die Tat entriss, das machte die Grösse jener Kriege aus, und eben dies hat Hauptmann an- geschaut und vor allem in seinem Festspiel darstellen wollen. — Aber inzwischen war aus jenem vom Geist getragenen Aufschwung der politischen Macht schon wieder jener Kultus der geistlosen Gewalt hervorgewachsen, den Goethes Befürchtung wohl vor- hergesehen hat. Unter der Nachhilfe ihres persönlichsten Inter- esses haben die Machthaber heute jenen Vaterlandsbegrilf zur Herrschaft erhoben, der für Krone, Kelch und Schwert an sich höchste Ehren verlangt, — nicht weil sie kostbarstes Mensch- heitsgut bergen und schützen, sondern weil sie möglichst juwelen- besetzter Ehrenprunk der nationalen Konkurrenz sind. Die un- praktischen Deutschen, viel zu lange als Ideologen verhöhnt, sind heute so verteufelt praktisch, dass ihnen die Instrumente der Macht wichtiger sind als die Ideale, denen sie zu dienen haben. Weil Hauptmanns Festspiel ein Bekenntnis nicht zum Leib, son- dern zum Geist, nicht zum Gefäss, sondern zum Inhalt, nicht zur Gewalt, sondern zur Idee ist, haben sie es so angefeindet. Man soll als Deutscher erkennen, wie die Dinge liegen, und soll nach der Entscheidung seines Gewissens an ihrer Entwick- lung mitarbeiten. Beklagen soll man sie nicht. Der deutsche Weg führt freilich nicht so gerad und leicht empor wie der anderer Nationen; von Exti^em zu Extrem ausschweifend führt er gewaltig um. Aber vielleicht steht zu hoffen, dass er so auch auf beiden 69 Seiten die grösseren Tiefen durcbmisst, und denen, die ihn be- gehen, für längere Fahrt reicheren Gewinn verheisst. Und das wäre ein Preis, der so mancherlei Schmerzen und Ärgernisse wert wäre. Ärgernisse, wie der Fall des Hauptmannschen Fest- spiels eins bedeutet, dessen geistiges Vaterlandsgefühl vom Pa- trioti smus eeistloser Praktiker in Verruf erklärt wurde. 70 Stadion und Bühne Ein Streitgespräch (I9i3) „»Sag was du willst, es war ein grosser Tag, ein wirkliches Ereignis, ein echtes Fest, wie es im Leben einer Nation nicht oft vorkommt. So besonders, so selten, wie alles Echte und alles Festliche sein muss. Wie die dreimal zehntausend Menschen die gewaltigen Blöcke dieses Theaterovals erfüllten, und unten in langen Scharen wohl ebenso viele Vertreter des deutschen Sports durchzogen, mit lauten Rufen den Träger der deutschen Krone zu grüssen — das hatte Gewalt und Grösse und Schönheit! Mit diesem Stadion, diesem grossen Festhaus des deutschen Sports, ist ein nationales Werk gelungen, und seine Weihe war ein Fest- tag der nationalen Kultur." „Kultur! — wenn ihr doch ein wenig vorsichtiger mit dem grossen Worte umgehen wolltet; wenn ihr euch doch nicht von jedem Massenaufgebot eurer kläglichen Zivilisation hinreissen lassen wolltet, dies erhabene W^ort zu missbrauchen. Kultur ist die Durchdringung, die Überwältigung, die Beseelung einer Men- schengemeinschaft mit Geist — und wenn einmal statt dreihun- dert junger Leute sechzigtausend ihre Beine werfen und Hurra schreien, so wird durch diese Multiplikation aus einer sehr schlicht animalischen noch längst keine kulturelle Angelegenheit." jjWie?! Ist die gewaltige Organisation, die all dies zustande brachte, die in den morastigen Kern der Grunewaldrennbahn dieses mächtige Oval tief hineinbaute, die über ganz Deutschland 71 die Verbände der Sportsfreunde sammelte und ihre Vertreter in so imposantem Zug mit dem Träger der höchsten Ma( ht konfron- tierte — ist diese ganze Leistung eine rein animalische?" „Ich sage ruhig: ja. Dergleichen Dinge erfordern Intelligenz und Energie; aber das sind schliesslich nur höchste Entwick- lungsformen unseres tierischen Wesens, und mit jenen geistigen Kräften, jenen begreifenden, deutenden, verklärenden, mit den Kräften des religiösen, künstlerischen, des philosophischen Men- schen, mit jenen Kräften, die Kultur schaffen, haben auch solche Höchstleistungen organisierender Zivilisation noch nichts zu schaffen." „Meinst du? Aber so viel wirst du doch vielleicht zugeben, dass die Entfaltung jeder Kultur eine gewisse Grundlage von äusserer Ordnung, von technischer Leistung, von Zivilisation braucht, und dass ganz ebenso in den Individuen die kulturelle Potenz nur fortbestehen kann, wenn ein gesunder Körper sie trägt. Und so gehört der körperstählende Sport doch ein wenig mit zur Kultur." „Wen wollt ihr eigentlich glauben machen, dass dieser selbst für die Berliner ziemlich entlegene Riesensportplatz dem prakti- schen Betrieb dient, dass er als Übungsfeld für die vielen hundert- tausend Sporttreibenden in Deutschland irgendeine Rolle spielen könnte?" „Darin hast du wohl recht; als Übungsstätte des praktischen Sportbetriebs wird das Stadion schwerlich das leisten, was seine Väter versprochen haben. Aber es wird das grosse Turnierfeld sein, auf dem die Besten jeden Sportzweiges sich von Zeit zu Zeit messen können, es wird der ideale Raum sein für Wettkämpfe, die Ehrgeiz und Leistungsfähigkeit der Sporileiite stählen und Anteil und Verständnis der zuschauenden Massen wecken. Die grosse Prüfungsstation und das ideale Agitationsmittel des Sports wird dieses Stadion sein. Ein grosses, deutsches Nationaltheater für Athletik, und das ..." 72 „Und das sollte dir gerade zeigen, mit wie wenig Recht da von einer kulturellen Leistung hier sprichst. Wo ist denn das Natio- naltheater für den deutschen Geist, das mit gleicher Bereit- willigkeit geförderte und vollendete Institut für die Pflege einer wahrhaft künstlerischen, einer geistig schöpferischen Kraft in Deutschland? Wo sind die hochadligen und hochmögenden Her- ren, die Generäle, Minister und höchsten Herrschaften, wenn es sich um Leistungen handelt, die als geistige-Formimg, als see- lische, sittliche Prägung unseres Lebens wirklich kulturellen Be- lang hätten!? Siehst du nicht, dass sich hier all die Mächte ver- binden, die in Wahrheit der Herrschaft des freien, in kultureller Selbstbesinnung und Selbstbestimmung reifenden Geistes feind sind?! Siehst du nicht, dass man die Jugend auf dem Umweg über Spiel und Sport nur in jene militaristische Welt locken will, die für alle anderen Menschen- und Mannestugenden Muskelkraft und Strammheit einsetzt, die dem Geiste statt jeder freien Tugend den Drill, den kritiklosen Gehorsam beibringt, die jenen höchst würdelosen ,Schneid' an die Stelle gerechten Stolzes setzt — jenen Schneid, den die Machthaber so lieben, weil diese Schneidigen sich ihre Freiheit mit einer minimalsten Teilhaberschaft an der brutalen Gewalt abkaufen lassen? Siehst du nicht, dass dieser angebliche Amateursport nur dazu da ist, die rohe Körperfreude, die Lust an Gladiatorenspielen in der Menge grosszuziehen, um sie von den gefährlichen Genüssen des Geistes abzulenken? Denn irgendwie ist der Geist immer revolutionär! Siehst du nicht, dass dieser ganze Sportkultus, dass dies ganze Stadion nur eine gleissende Walle ist in der Hand derer, die die eigentliche Kultur, den Fortschritt des Geistes verhindern wollen, weil er neue Ahnungen, Emsichten und Ordnungen mit sich bringen kann, die dem unbequem werden könnten, der da liegt und besitzt und schlafen will? Siehst du nicht, dass bei uns jeder Sportenthusias- mus zu einem geistigen Schlafmittel der Kultur wird?! Siehst du denn wirklich das alles nicht?!" 73 „Wenn das alles so wäre — und dass es bis zu einem gewissen Grade so ist, muss man freilich zugeben — , warum lasst ihr es so, ihr Geistigen? Warum lasst ihr dies prächtige Netz zum Men- schenfang in den Händen eurer Feinde, ihr Kulturellen? Ist e« eine Waffe — nun gut, warum ergreift ihr sie nicht?" „Weil sie unser nicht würdig ist." „Nicht würdig! Die ganze grosse eine Hälfte unseres Seins nicht würdig eures Interesses? Und das sagt mir ein Verfechter der künstlerischen Kultur? Ein Künstler, dessen erste und letzte Weisheit es sein muss, dass alles Geistige und Erhabene in dieser sinnlichen Welt ,verkörpert' zu finden ist? Das sagt gar ein Freund des Theaters, das uns alles Geistige einzig und allein durch Körperkunst zuspiegeln kann?" „Der Körper ist nur, wo er dient, ein Instrument der Kultur; in eurem Stadion soll er herrschen, souverän sein." „Das ist, wie Bernard Shaw sagen würde, ,hoffnungslos privat' gedacht. Siehst du nicht, dass das soziale Ganze, die Gesellschaft eine besondere Veranstaltung zur Pflege ihres Körpers so gut haben muss, wie der einzelne Mensch seine morgendliche Turn- stunde oder seinen Spazierritt? Nun, wenn du während deiner Freiübungen gerade philosophische Probleme wälzen würdest, so würden sie ihren Zweck verfehlen; auch bei der körperlichen Sache muss man „dabei" sein, und so gewiss du mit dieser souve- ränen Übungsstunde deines Körpers nur deinem geistigen Gan- zen dienen willst, so gewiss kann im Stadion die Körperpflege souverän erscheinen und doch dem Geiste der vollkommenen Sozietät dienen.* „Kann — aber du siehst ja, man lenkt es keineswegs zum Dienste des Geistes, man lenkt es zu jenem geistfeindlichen Kul- tus der Strammheit, der blossen Schneidigkeit. — " „Das ist eure Schuld, das ist die Schuld unserer Kulturellen, die die gleiche Sünde begehen wie ihre Gegner, die den Körper verleugnen wie jene den Geist." 74 „Oh, ich denke, wir hätten der überkultivierten Snobs genug, die längst den gut polierten Fingernagel über einen schö- nen Vers und neuerdings auch einen forschen Klimmzug über eine Beethovensche Sonate stellen." „Wer redet denn von diesen ekelhaften Überläufern, diesen Verrätern am Geist, die ihre plumpe Roheit als pervertierte Fein- heit angerechnet haben möchten. Nein, dass die ehrlichen, ern- sten, bewussten Streiter des Geistes nicht den Körper in ihr Pro- gramm aufnehmen, dass sie sich hochmütig jenen natürlichen und gesunden Empfindungen verschliessen, die aus einer Pflege der physischen Kraft stammen, dass sie dies grosse Feld ganz den rückständig naiven Anhängern einer wesentlich leiblichen Bil- dung lassen, das ist der Schade ! — Ihr hättet dies Stadion bauen sollen! Ihr, als eine Pflegstätte der Körperkraft, die den Menschen stolz, sicher und arbeitsfroh macht, bereit zu kühnen Gedanken und stolzen, weltherausfordernden Talen! Wenn ihr den Sport weiter als euern Feind anseht, werdet ihr unterliegen ! Ihr müsst ihn euch verbinden, ihr müsst ihn euch vergeistigen." „Hältst du das für möglich?" „Allerdings! Ich glaube nicht, dass Pheidias und Sokrates, Sophokles und Aristophanes trotz der olympischen Spiele in ihrem Volke gross geworden sind, sondern wegen dieser Spiele, die die Körper reif und ruhig, die Geister sicher und klar ge- macht haben. Wie könnt ihr die Kultur des körperlichen Hellas rühmen, und diesen Eckslein seines Baues verleugnen!" „Es ist kein Kult des schönentfalteten Körpers, den unsere modernen Sportsmatadore treiben." „Aber glaubst du denn — glaubst du denn wirklich, dass die alten Griechen zu ihren Sportfesten so gegangen sind, wie du ins Museum, um die marmorne Schönheit der Ringer und Wett- läufer zu sehen? Glaubst du nicht, dass in Olympia der Körper genau so „souverän" war, wie bei uns im Stadion — dem Geiste nur ganz indirekt, nur innerhalb des nationalen Ganzen unter- 75 tan? Die Spannungen kämpfender Körper wollte man einfühlend miterleben, den ungeheuren dynamischen Reiz, der in allern Wet- ten und Wagen liegt; jene herrlich zwecklose, frei spielende Auf- regung des Sports wollte man geniessen, die nur ein Philister , blödsinnig' findet, und die in der Überwindung aller Praxis den geistigen Spielen der Kunst doch viel verbundener ist, als ihr Ästheten euch gemeinhin träumen lasst. Ich finde es nicht viel törichter, den Wesens- und Ranguntersch ied zwischen einem Fussballkampf und einer Aufführung des , König Lear' zu leug- nen, als ihre letzte Verwandtschaft in einem tiefen Natur- grunde zu bestreiten." „Aber du gibst doch gütigst den Rangunlerschied zu. Und so wirst du es doch nicht als kulturell erfreulich rühmen können, wenn die niedere Form, wenn der Sportenthusiasmus der Kunst- begeisterung den karg zugemessenen Raum fortnimmt.^!" „Ich bestreite, dass das Sportinteresse der wahren Kunst irgend- welchen Abbruch tut. Ihre Kreise schneiden sich gar nicht, sie bieten gar keinen Ersatz füreinander; auch der Kurzsichtigste kann nicht das eine für das andere annehmen. Auf ganz anderem Felde musst du den Feind der Kunst suchen, dort, wo unter Missbrauch der geistgeschaffenen Formen sich ein blosses Körper- interesse hervordrängt, — und noch dazu meistens ein primitiv sinnliches, keineswegs zweckempfundenes, — dort in der Grotesk- komik der Pantomime, im Trikot-Ballett, in der kostümlosen Operette, bei den nervenschüttelnden Greueln und Verrenkungen des Filmtheaters, dort suche die Schädiger der Kultur, des Gei- stes, der Kunst — auch die Hinderer deines Nationaltheaters." „Darin magst du recht haben. Und doch kann ich nicht zuge- ben, dass nur ein Ran gunterschied zwischen den physischen und den geistigen Leistungen liegt; es ist eine ganz andere Art, eine ganz andere Welt. Nicht einmal aller Scharfsinn der Tech- nik kann aus der bloss physischen Überwindung des Raums und der Schwere eine geistige Tat, eine schöpferische, eine Weltprä- 76 gung machen. Kein Flugapparat erhebt uns so hoch wie drei Takte Beethovens; es ist kein göttliches Feuer, mit dem der Ma- schinenbauer arbeitet." „Du sprichst genau, wie jener Professor, genau wie dieser gänz- lich tote Professor." „Welcher Professor?" „Ach so, du kennst die Geschichte nicht. Es ist die allerschönste Geschichte eines sehr schönen Buches. Sie steht in Walter Har- lans tiefsinnig heiteren ,Familienszenen'. <,Des Fliegers Mutter' heisst sie. Des Fliegers Mutter ist die Witwe eines humanistischen Professors \'on altdeutscher, idealistischer Kultur. Sie will eben zum Konzert in Beethovens , Eroika' gehen, da hört sie, dass ihr Sohn, den sie auf der Ingenieurschule wähnt, draussen auf dem Flugplatz starten will. Sie eilt hin, und da er von seinem Vorsatz nicht abzubringen ist, fliegt die tapfere kleine Frau schliesslich mit, um wenigstens sein Schicksal zu teilen. Sie kommt aber ge- sund wieder herunter, ist berauscht von all dem, was sie dort oben erlebt hat und denkt noch in ihrer stillen Stube mit Be- geisterung daran. Da aber erscheint der Geist ihres seligen, pro- fessoralen Gatten, schmäht ihre törichte Begeisterung für bloss Physisches und sagt ungefähr wie du: Wärst du in die , Eroika' gegangen, du wärst viel höher geflogen! Und alle Geister seiner humanistischen Vorfahren kommen und geben ihm recht." „Und sie haben auch recht." „Meinst du? Ich und der Dichter Harlan und die tapfere kleine Frau, wir sind anderer Ansicht. Denn des Fliegers Mutter ant- wortet ihrem Ehegespenst: ,Ich hab's, Bruno: Auch mit dem Fleische will die Menschheit fliegen. Das ist es: Auch! Einer- seits mit der Seele, andrerseits mit Fleisch und Knochen. Denn die Menschheit will alles. Will eben alles.* — Ja, und da löst sich das humanistische Gespenst in leere Luft auf." „Das ist eben kein schlagfertiges Gespenst." „Meinst du? Ich meine, auch das Schlagfertigste könnte nichts 77 antworten. Und gerade, wenn er ein echter Humanist, ein le- bensvoller Priester der irdischen Kultur und nicht ein Schulfuchs für griechische Grammatik ist. Denn jene Geistigen, die ein ori- entalisch asketisches, ein weltüberwindendes Ideal haben, die haben vielleicht das Recht, den Körper und die Technik und den Sport zu verachten ; ihr Reich ist nicht von dieser Welt. Wer aber ein humanistisches Ideal hat, wer an eine irdische Kultur, an eine Durchseelung, Vergeistigung, Vergöttlichung unseres weltlicben Daseins glaubt, der muss vor allen Dingen auch einmal die Welt wollen, die Welt der Körper. Und alles, was den Körper erhält und pflegt und mächtig macht, muss er wollen, auch den Sport, auch die Flugtechnik. Wir können keine kulturfähige Politik bekommen, solange sich unsere Kulturellen für zu schade halten, Politik zu treiben, wir werden keinen rein erfreulicben, dem Geist befreundeten Sport haben, ehe unsere Intellektuellen nicht Sportsfreunde werden. Ihr neidet heute dem Stadion seine dreissigtausend, im gleichen Enthusiasmus ge- einten Zuschauer; ihr werdet solche Zuschauermengen für ein Theater des Geistes und der Sprache, für ein dramatisches Thea- ter nicht eher gewinnen, ehe ibr nicht euch jener volleren, run- deren Wirklichkeit bemächtigt, zu der auch die Liebe und Pflege des Körpers gehört. Erst wenn ihr empfinden und zeigen werdet, dass dieses Stadion auch für euch gebaut ist — erst dann wer- det ihr euer Nationaltheater erringen.* 78 Die Verstaatlichung des Sports (1913) Gibt es heute unter intelHgenteren Menschen eigenthch noch Gegner des Sports? Das Geschlecht deutscher Ideologen, die da glaubten, dass man vom reinen Geist leben könne und müsse, ist doch wohl im Aussterben. Und die grossstädtischen Snobs zählen ebensowenig für die menschliche Kultur mit, wenn sie aus weltmännischer Laune Tennis spielen und auf die Sechs- Tage-Rennen laufen, wie wenn sie aus ästhetischer Laune die gemeine Körperlichkeit zu verachten vorgeben. Obwohl die Walze journalistischer Phraseologie hundertmal darüber gegan- gen ist, hat das Wort vom gesunden Körper, der Voraussetzung eines gesunden Geistes sein müsse, seinen grossen und einfachen Sinn nicht verloren. Und auch das ist wahr, dass in dem Grade, wie die Kompliziertheit unseres wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Lebens wächst, die Pflege des Körperlichen wachsen muss, um ein Gegengewicht zu halten. Und zwar, wie mir scheint, nicht nur aus hygienischen und ökonomischen Gründen, damit der Mensch gesund und arbeitsfähig bleibe, sondern auch aus psychologischen und moralischen, damit der moderne Mensch, vor allem auch der intellektuelle Arbeiter, ein ständiges, natür- liches und überlegenes Bewusstsein vom eigenen Körper habe, und nicht erst durch jene schreckhaften Explosionen daran er- innert werde, mit denen sich gewöhnlich am intellektuellen Grossstadtmenschen die vergessene Physis rächt. — Wenn man nun jede Art von Sport als wertvolles Werkzeug in der notwen- 79 digen Körperpflege anerkennt, sollte man sich nicht da über jede Art von Förderung freuen, die dem Sport zuteil wird! Und bei uns ist ja in den letzten Jahren und Monaten ein steigendes Inter- esse hoher, höherer und höchster Stellen an der Pflege des Volks- sports zu merken. Ein Generalfeldmarschall hat die Jungdeutsch- land-Bewegung organisiert und schliesslich ist in Anwesenheit Sei- ner Majestät des Kaisers das grosse Berliner Stadion für Sport- zwecke eröffnet worden. Freuen wir uns also? Wir freuen uns nicht. Wir sehen uns die Leute an, die sich für das obrigkeitliche Interesse am Sport begeistern, es heraus- fordern, bestärken, bejubeln, und dann sagen wir uns mit dem alten Laokoon, dass die Danaer immer zu fürchten sind, beson- ders aber, wenn sie Geschenke bringen. Denn es ist gar kein Zweifel, dass bei all dieser amtlichen und halbamtlichen Sport- pflege der Sport Vorwand, Gelegenheit, Mittel ist, und der Hin- tergrund, die Absicht, der Zweck die Pflege einer Gesinnung — jener Gesinnung, die man in Preussen die „staatserhaltende" nennt. Das ist ein Geist, der stramm mit jeder regierenden, an der Macht befindlichen Autorität geht, und schneidig sich gegen jede Art kritischen Selbstbewusstseins kehrt. Nun kann man be- kanntlich, auch über den Wert dieser Gesinnung, sehr verschie- dener Meinung sein. Man könnte meinen, dass im tieferen Sinne ^staatserhaltend" nicht der stumpfe Geist bequemer Gegenwarts- bejahung, sondern jener mutige, produktive Geist sei, der ein respektvolles Gefühl für bestehende Güter und eine Erkenntnis geschehener Schäden zu verbinden und so an einer besseren Zu- kunft der Staatengebäude zu arbeiten weiss. Indessen, wir wollen hier gar keine politische Diskussion führen. Wir wollen auch gar nicht den Haupiton darauf legen, dass die Staatserhaltung in Preussen so vielfach nur als Deckphrase für das Selbsterhal- tun gsbedürfnis einer an der Macht befindlichen Klasse auftritt. Gestehen wir im politischen Daseinskämpfe jeder Par- tei, auch der uns autipathischen, das Recht zu, um die Seelen der 80 Jugend, des allerwertvollsten, des entscheidenden Besitzes zu kämpfen. Wenn sich den sozialdemokratischen Jugendvereinen liberale und konservative entgegenstellen, so ist das ganz in der Ordnung. Und wenn der Staat die konservativen Jugendvereine protegiert und die sozialdemokratischen schikaniert, so ist das zwar nicht in der Ordnung, aber begreiflich. Wenn aber der durchaus nicht juristisch, nur nach Personalzusammenhang be- greifliche Zug unserer neutral gedachten Staatsbehörden zur konservativen Junkerpartei so weit geht, dass ein wertvolles Werkzeug der allgemeinen Wohlfahrt dadurch gefährdet wird, dass man es in den Dienst einer „konservativen Gesinnung* stellt — dann ist für eine Behörde, die den Schein sachlicher Allgemeinfürsorge wahren will, auch die Grenze des Begreiflichen überschritten. Dies aber geschieht in der Art und Weise, wie das Sportsleben der Jugend heute von oben militarisiert wird. Die „Wandervögel" zum Beispiel waren eine prachtvolle Er- findung; sie brachten heranwachsende Grossstadtmenschen in die Natur, liessen sie wandern mit Lust und Liedern, nahmen ihnen alle Verwöhnung des Reisekomforts und stärkten, dieweil sie für Nahrung, Fortkommen, Quartier selber zu sorgen hatten, Phantasie, Erfindungsgeist, Selbstgefühl in köstlichster Weise. Diese Bewegung wird, kaum im Aufblühen, nun von einer Reihe staatlich begünstigter Organisationen an die Wand gedrückt, die statt der Gitarre die Landesfarben tragen, statt des Wander- kostüms eine Tropenuniform, und die statt zu erfinderischer Selbständigkeit, zu militärischem Drill erziehen. Es ist einfach nicht wahr, dass hier nur die allen Menschen selbstverständliche Liebe zum Vaterland und die zum mindesten allen Jungen na- türliche Lust am Kriegswesen genährt würde. Hier wird der mit ganz bestimmten Spitzen und Stacheln versehene preussische Staatspatriotismus gezüchtet, und jener Mi- litarismus, der fast ausschliesslich die Disziplin pflegt, aber Phantasie, Selbständigkeit, Abenteuerdrang verkümmern lässt. 6 B ab, Erwachen zur Politik 8l Dieser offizielle Betrieb aber hat nicht nur den Nachteil, dass er einem scbönen Sport wesentliche Werte entzieht, er scheucht Tor allem eine ganze Anzahl junger Menschen von der gu- ten Sache weg. Oder er führt nun dazu, dass nationalliberale oder sozialdemokratische Wandervereine gebildet werden. Dies ist aber genau ebenso sthJimm, wie der staatlich konservative Wanderverein. Das Wandern ist eben keine Betätigung der bür- gerlichen Gesinnung oder der Konfession; man wandert nicht als Christ oder Preusse, man wandelt als Mensch. Gerade das ist ja der psychische und moralische Weit des Sports, von dem ich vorhin sprach, dass der Mensch einmal von allen intellektuellen, sozialen, praktischen Bindungen befreit, durch seinen Körper in einen unmittelbaren fiöblichen Bezug zur Natur tritt, sich ein- fach als gesundes, starkes Geschöpf fuhlen lernt, und so erst die Kräfte erfrischt und sammelt, die er nachher in irgendeine Rich- tung der Praxis einstellen mag. Der Sport soll die neutrale see- lische Grundlage pflegen, auf der sich jede Art von Bürgertum erst entwickeln kann: den ungehemmt und rein funktionieren- den menschlichen Körper. Wer deshalb die Sport pflege mit ir- gendwelchen sozialen oder allgemein geistigen Tendenzen be- schwert, der zerbricht ihren besten Sinn und Wert. Darum muss man die Danaer lürchten, die uns das Geschenk der staatlichen Sportpflege bringen wollen. Diese edlen Seelen sind schon wieder einmal im Hejjrifr, ihrem ganz speziellen Klas- seninteresse ein wirkliches Allgemeininteresse aufzuopfern. Wenn unsere Behörden es nicht fertig bringen können, einmal ohne Be- tonung der „patriotischen" Tendenzen einer Sache rein um ihrer selbst willen zu dienen, so seien sie herzlich gebeten, doch überhaupt fernzubleiben, und das Wachstum der Körper- pflege dem gesunden Instinkt der Interessierten selber zu über- lassen. Die schöne Bewegung der Wandervögel ist ohne jeg- lichen Minister a D. und ohne jeden Generalfeldmarschall er- wachsen; der deutsche Fussballbund (der übrigens gegenüber 82 dieser „Jungdeutschland"-Bewegung eine lobenswerte Reserve zeigt) hat ohne jede staatliche Hilfe in acht Jahren einhundertund- vierzigtausend Mitglieder gesammelt. Die Sache wirbt für sich, nur möge sie Gott vor ihren falschen Freunden beschützen! Un- sere intellektuellen Kreise aber seien dringend gemahnt, sich durch jene bedenkliche Protektion nicht in eine falsche Gegner- schaft zum Sport hetzen zu lassen. Zweifellos, man protegiert von oben herab die Pflege des Körpers, um von der bedenklichen, zu so unbequemer Selbständigkeit erziehenden Pflege des Geistes abzulenken. Aber die Freunde geistigen Fortschritts mögen sich nun hüten, die Fehler ihrer Gegner zu teilen und in der Körper- pflege an sich einen Gegensatz zu geistiger Kultur zu sehen. Die Freiheitshelden der alten Griechen sind in den „Gymnasien" er- wachsen, und die olympischen Spiele waren nicht Hindernis, sondern Vorbedingung für die Bühne des Äschylos und des Ari- stophanes. Auch unsere deutsche Turnkunst ist aus dem Geiste der Freiheit geboren, aus einer patriotischen Gesinnung, die lange Zeit den Mächtigen für das Gegenteil von „staatserhal- tend" galt!! Ein sachlich und zwanglos betriebener Sport wird immer eine Pflegstätte freier Geister sein. Nicht weil er mit ir- gendeiner Propaganda irgendeiner liberalen Gesinnung Hand in Hand gehen dürfte oder auch nur könnte, sondern weil in wirk- lich gesunden Menschen der starke und sichere Körper auch dem Geist jenes Kraftgefühl, jenen Stolz mitteilt, durch den allein wir frei sind. 6* 83 Am Ende der Feste (Sylvester 191 3) Das Jahr der unendlichen Jubiläen ist vorüber, und aus der Summe glänzender Erinnerungsreden auf hundert Jahre alte Dinge und minder glänzender Gegenwärtigkeiten gilt es nun, den Sinn zu begreifen für den Weg, den das deutsche Leben im neuen Jahr und in weiterer Zukunft machen soll. — Überschlagen wir vorerst einmal den Sinn der Festreden. Wieviel völkisch Grossartiges, menschlich Begeisterndes und strategisch Kluges, historisch Naives und psychologisch Feines ist nicht über die Leipziger Schlacht, über die grosse „Völkerschlacht" geredet, geschrieben und ge- druckt worden. Aber soviel man auch das Wort von der Völker- schlacht im Munde führte, nirgends fand ich die wirklich einzige, welthistorische Grösse dieser Schlacht klar betont, die doch schon im Namen liegt. Denn es war wirklich eine Schlacht der Völ- ker: aller Völker, und zwar nicht so, dass, statt wie bei den meisten Schlachten zwei Völker gegeneinander, so hier viele verschiedene Völker als „Verbündete" gegen die Franzosen stan- den. Die erschütternd grossartige Wahrheit ist vielmehr, dass hier auf beiden Seiten Menschen nahezu aller europäischen Nationen fochten. Napoleons Heer war nicht mehr ein französi- sches Heer, als das seiner Gegner ein preussisches oder deutsches war. Iren waren es, die Blücher in die Katzbach jagte, Württem- berger und Sachsen wurden von Bülows Regimentern bei Gross- beeren erschlagen, Polen und Italiener ertranken mit den Fran- zosen beim Rückzug aus Leipzig in den Wassern der Elster. Ein 84 Teil beinahe aller europäischen Völker focht hier für, ein anderer Teil gegen Napoleon, Wenn es also hier gerade nicht der Un- terschied zweier verschiedener Nationen war, der in letzter, ent- scheidender Instanz die beiden mächtigen Heere bildete, was war es dann? Was rief ganz Europa für oder gegen diesen Mann Napoleon zu den Fahnen? — Die marxistische Geschichtser- klärung vermag nur mit wahrhaft verzweifelten Verrenkungen hier das Wirtschafts- und Klasseninteresse als Grund der gros- sen historischen Gruppierung aufzuzeigen. Aber die naive Hel- denverehrung, die die ganze riesige Bewegung jener Jahre als Begeisterung für oder gegen eine bestimmte Einzelperson deutet, ist doch noch minder möglich. Alle Suggestionskraft der Per- sönlichkeit, aller Glanz des Namens sind schliesslich doch nur Mittel, mit denen ein grosser Mann Menschen für einen Zweck in Bewegung setzt — einen Zweck, den er seinen Anhängern als ihren eigenen zu suggerieren vermag. Was aber waren die Ziele, die Napoleon den Völkern anbot? Gewiss, er hatte auch Länder und Gut und Ehren zu vergeben, aber das galt doch nur für einen sehr kleinen Teil seiner Anhänger, für die oberste Schicht seines Gefolges und einen Bodensatz von Landsknechisnaturen. Er führte nicht, wie Attila oder Tamerlan, ganze Völker zur Beute. All dies waren nur Hilfsmomente. Aber was diesen Korsen zum Kaiser der Franzosen machte, und was dann Italiener und Polen, Iren und Deutsche zu ihm hinriss, das war: er kam im Namen einer Idee. Wie bedeutsam oder ernst ihm selber diese Ideen waren, die er beständig im Munde führte, das ist eine künstlerisch interessante, geschichtlich aber fast gleichgültige Frage seiner Privatpsychologie. Entscheidend ist, dass die Ideen, in deren Namen er kam, ihm die Völker warben. Und er kam als der Vollstrecker der französischen Revolution in Europa, er war ihr letztes Wort, und die französische Revo- lution wiederum war das letzte Wort jener grossen Geistes- bewegung, die als Aufklärung seit dem Untergange des mit- 85 telalterlichen Katholizismus um die Herrschaft in Europa kämpfte. Im Namen jener ausgleichenden Menschheitsgedanken, die als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Vorurteile der Konfessionen, der Stände, der Klassen und der Nationen zu üher- winden trachteten, im Namen solcher Menschheitsideale liefen die Völker dem Napoleon zu. Und es wäre ungerecht, zu leugnen, dass, — soviel Unterdrückung, Beraubung, Unterwerfung der ge- niale Tyrann auch in die unterworfenen Länder getragen hat, — doch die Völker am Rhein und in Illyrien, wie in Italien und in Frankreich, noch bis auf den heuligen Tag eine gewaltige Zahl höchst heilsamer, vernünftig befreiender Ordnungen der napo- leonischen Verfassung verdanken. Auch hätte Bismarck schwer- lich ein Deutsches Reich zustande gebracht, wenn nicht Napoleons radikale Rationalisierung so gewaltig im Lande der vierhundert Souveräne vorgearbeitet hätte. Was aber noch wichtiger ist, die Deutschen, und nicht nur die Deutschen der damaligen Zeit haben zu einem grossen Teil Napoleon wirklich als den Träger und Vollender des Zeitgeistes empfunden. Goethe, in seinem Zorn wider die Leute, denen der Mann „zu gross" sei, ist berühmt; für Hegel war er die Inkarnation des „Weltgeisies" schlechthin, und in einem süddeutschen Manuskript der zwanziger Jahre, dessen Autor man in der nächsten Nähe des Königs von Württem- berg zu suchen hat, heisst es ausdrücklich: „Nicht als Werkzeuge blinder Willkür folgten wir Napoleon, sondern wir dienten dem Geiste des Jahrhunderts." Und auch der Hohn, mit dem die grossen literarischen Widersacher Napoleons in Deutschland wider ihn arbeiteten, zeigt ganz deutlich die ideelle Bedeu- tung, die der Mann doch in den Köpfen auch ihrer deutschen Gegner hatte. „Ihr müssig gelehrtes Volk hat all seine hohlen Gespinste in mich hineingetragen," höhnt Goerres in Napoleons Maske, und zeigt dadurch an, mit welchem Ernst immerhin die napoleonische Idee von einer Partei empfunden wurde, die man schon deshalb nicht etwa mit geringschätzigem Achsel- 86 zucken abtun darf, weil Männer wie Goethe und Hegel zu ihr gehörten. Das also war es, was Menschen aller Nationen damals für Na- poleon zu den Waffen trieb. Was aber war es nun, was Menschen aller Völker damals gegen ihn entflammte, was dem genialen Publizisten Goerres seinen höhnischen Zorn, dem grossen Redner Arndt sein stürmendes Pathos, dem hohen Staatsmann vom Stein seine schöpferische Energie einhauchte? Es war der grosse euro- päische Gegenschlag wider den Rationalismus, es war jene höchst überliterarische Bewegung, die in der Literatur die „Romantik" heisst. Es war der Aufstand all der Instinkte, die sich dem Mit- telalter noch verwandt fühlten, in denen aber auch selbständig neues Leben war. Es war die Erneuerung und Vertiefung all der konfessionellen und nationalen, klassen- und rassenmässigen Un- terschiede, die die Aufklärung verwischen wollte, es war ein Auf- ruhr des gefühlsmässigen Individualismus gegen die fran- zösische Vernunft, und darum ging (nächst den mittelalterlich- christlichen Nationen von Spanien und Russland!) Deutschland voran. — Wenn Arndt die Deutschen auf Napoleons Seite charak- terisiert: „Die Deutschen sind Kosmopoliten geworden und ver- achten die elende Eitelkeit, ein Volk zu sein. Feine, leichte und aufgeklärte Gesellen sind es, ohne Vaterland, Religion und Zorn, die nur von Barbaren für etwas Grosses gehalten werden," so gibt er in parteiischer Übertreibung — (auch ein Goethe gehört zu den hier Geschmähten!) — aber doch dem Sinne nach richtig, den grossen Unterschied, um den es sich hier handelt. Wenn man es ein wenig paradox, nämlich mit den zu engen Terminis der Literaturgeschichte ausdrücken will, so muss man sagen: die Schlacht bei Leipzig ist zwischen der Aufklärung und der Romantik geschlagen worden. Quer durch alle Nationen hindurch standen die Träger des alten, des Vernunft- ideals zu den Fahnen Napoleons, die Anhänger des neuen, des Bluts- und Gefühlskults fochten gegen ihn. Dass es wirklich 87 eine internationale Schlacht der Geister war, das ist das geschichtlich Einzige, das Ungeheure im Wesen dieser Völker- schlacht. Die Romantiker siegten, aber es ist nicht nur deshalb, dass uns ihre Sache heute als die gerechte erscheint. Was uns an der ge- fährdeten Nationalität am deutlichsten wird, das Tödliche im Übermass des Rationalismus, der alles lebendig begrenzte Leben auslöscht, das war auch als Gefahr auf vielen andern Gebieten ge- geben. Und weil die Welt für jenes wunderbare Gleichmass von Form und Freiheit, Geist und Gefühl, das Goethe vorlebte, noch nicht reif war, musste auf jene französische Unbedingtheit der Vernunft die deutsche Unbedingtheit des Gefühls antworten. Die Romantik musste siegen, und mit Recht haben wir jetzt Männer wie Arndt und Stein und Gneisenau als Helden gefeiert. Es war ein grosses, geistiges Prinzip, für das sie — von Denkern wie Fichte und Schleiermacher geweckt und gespornt — ihre Kräfte einsetzten, und das sie! — nicht die egoistischen und zu jedem praktischen Kompromiss bereiten Träger der offiziellen Macht! — zum Siege führten. Dies waren wirklich Helden. Aber auch Goethe, der höchste Träger jener Gesinnung, die vom roman- tischen Freiheitskrieg nichts wissen wollte, hat im Laufe der Geschichte sein Recht bekommen; denn auf die Befreiungskriege folgte die heilige Alliance, die Demagogenriecherei, das Mucker- tum, kurz die völlige Reaktion, nicht gegen die Auswüchse, sondern gegen die Errungenschaften der Aufklärungszeit. Und von den Stein und Arndt, den Trägern eines neuen Geistes, glitt die Gewalt zurück in die Hände der geistlosen Machthaber, die i8o3 und 6 und 6 so gründlich versagt hatten, nun aber den Sieg der grossen Bewegung für die Festigung ihrer mittelalter- lichen Besitztümer ausnutzten. — Seitdem ist Deutschland wieder zerrissen, und so sehr der Rationalismus auch heute noch bei Marxisten und Monisten und anderen feierlichen Philistern exze- dieren mag, die eigentliche Gefahr liegt heute auf der anderen 88 Seite, unser Feind ist jene missbrauchte Romantik, die nicht die lebendige Kraft bedrohter und unentbehrlicher Formen erneuern will, sondern die höchst zufälhg übrig gebliebenen mittelalter- lichen Formalitäten in ihrem ganzen lebenswidrigen Bestand ver- ewigen möchte. Wir ehren die Sieger von 1 8 1 3, ohne deren Verdienst wir heute vielleicht in einem farblos grauen Vernunft- brei ertränken, aber wir müssen heut im Namen der heiligen Vernunft wider die ungewollten Folgen ihres Werkes kämpfen. Wir danken ihnen, dass wir noch Deutsche sind; aber wir müssen vor allem um das kämpfen, was ihnen, den Söhnen der grossen klassischen Kultur, selbstverständlicher Besitz war: dass wir Menschen sind, freie, vom Gefühl unverletzlicher Geistes- und Körperwürde gehobene Menschen. — Nicht der Wille, aber die Folge der Siege von i8i3 war es, dass wir z. B. noch heute, und heute besonders, wieder eine adlige Soldatenkaste in Deutsch- land haben, die „ihre" Armee nicht als dienendes Glied der Na- tion, sondern als herrlichen Selbstzweck empfindet, und die, wo sie ihre Spezialehre bedroht sieht, straflos die Gesetze der bür- gerlichen Sozietät in Stücke schlagen darf. Die Stein und Gneisenau hätten die Junker von Zabern verabscheut: aber im Wiener Kon- gress ward die Macht, die ihr edler Geist für die Menschheit be- freit halte, in die Hände geistloser Machthaber ältesten Stils zurückgeschoben. Letzte, wenn auch wahrlich nicht geahnte ^''olge der grossen geistigen Bewegung von i8i3 ist die unerhörte Geistlosigkeit, mit der heute ein hochgestellter Wächter der öffentlichen Ordnung erklären darf, dass ein adliger Offizier zur Wahrung seiner Spezialehre gegen einen nicht „satisfaktions- fähigen" Schuster die Waffe zu grober Körperverletzung schwin- gen dürfe. — Vielleicht sind das unter vielen anderen die Dinge, die Goethe kommen sah, als er die Freude jener deutschen Fiei- heitsbewegung zu teilen ablehnte. Freilich war es damals nötig, gegen den alles niederstampfenden Begriff der gemeinsamen Men- schenrechte die Ideen der Nation und der Religion, der Rasse 89 und der Klasse wieder zu erhöhen. Aber dass es heute an der Zeit ist, recht eigenthch „Vernunft" zu predigen, und nach dem Rechte, das mit uns Menschen allen geboren ist, sehr energisch zu fragen — das ist nun kein Zweifel mehr. — Wenn wir uns durchdringen mit dem hohen geistigen Ernst, der die deutschen Napoleongegner von 18 1 3 zu ihrem gerechten Werk beseelte, dann gerade werden wir erkennen, dass der Fortschritt der Menschheit heute wieder die entgegengesetzte, die antiroman- tische Parteinahme erfordert. Übermächtig sind gerade bei uns in Deutschland heute die höchst unvernünhigen Zufallsgewalten der Geschichte. Es gilt den menschlichen Willen, es gilt die freie Vernunft einzusetzen. Und am Ende der Feste wenden wir uns mit einem ehrfurchtsvollen Gruss vor den Siegern von Leipzig neuen und anderen Zielen zu. 90 Zwei Helden (Januar 19 1 4) Friedrich Nauaiann : Alle Paragraphen in Ehren . . . aber wir brauchen Achtung vor den Menschen ... Es ist die Frage, ob die Gewalt mit Verstand und Menschlichkeit gepaart ist, ... ob das deutsche Volk, ausser der Macht auch noch Gemüt (Lachen rechts) in sich hat. Deutscher Reichstag, 23. Januar i9i4' Just in denselben Tagen, als Oberst von Reuter vom Kriegs- gericht freigesprochen und beglückwünscht, als Held und Retter der Heeresehre gepriesen und schliesslich mit einem Orden ge- schmückt ward — just in denselben Tagen erfuhr die Welt vom Tode eines Mannes, der vor anderthalb Jahrzehnten, gleichfalls als Oberst, Held und Retter der Heeresehre genannt worden "war. Das war Piquart, der französische Offizier. Wer war Piquart und was war seine Tat? Unsere Zeit hat so eio kurzes Gedächtnis, dass man schon fragen muss. Aber warum soll sie dieses Mannes Gedächtnis behalten? War er ein Genie? Hat er ungeheure Erfindungen gemacht? Schlachten gewonnen? Throne gestürzt? All das nicht — er hat nur unter gewissen sehr schwierigen Umständen bekannt, was er als Wahrheit wusste, ge- wirkt für das, was ihm Gerechtigkeit schien, nichts weiter. Aber ist das etwas Besonderes? Ist das mehr, als jeder anständige Mensch zu tun verpflichtet ist? Nein — nur ist das, was der Philister im sicheren Port den „ganz einfachen Anstand" nennt, in 91 den Stürmen des Lebens zuweilen eine Pflicht, deren Erfüllung heldische Art erfordert und auch mehr bedeutet, als manche ge- wonnene Schlacht. Von dieser Art war die Gerechtigkeitsliebe, war der Wahrheitssinn des Obersten Piquart, der seine Stellung, seine Ehre und sein Leben in die Schanze schlug, um offen zu bekennen, was er von der Affäre des Kapitän Dreyfuss wusste. Wir wollen nicht vergessen, was wir, damals noch halbe Kna- ben, empfanden bei der Haltung dieses Mannes, der mit stähler- ner Ruhe eine Sache verfocht, gegen die der Pöbel mit Stein- würfen, das Ministerium mit Erlassen, das Parlament mit Ach- tungsdekreten und die Armee mit einmütigem Hass, die Generalität mit der Erbitterung des struggle for life vorging. Aber, der Oberst Piquart hatte als Chef der Nachrichtenabteilung Spuren gefun- den, die auf die Unschuld des Kapitän Dreyfuss hinwiesen, der, wegen Hochverrats verurteilt, auf der Teufelsinsel sass; der Oberst Piquart meinte nicht, dass der Schein der militärischen Integrität vor allem gewahrt werden müsse, wie das seine Vor- gesetzten, Kollegen und Untergebenen mit der feigen Selbstliebe eitler Kreaturen meinten; er dachte nicht, dass der Glaube an die Unfehlbarkeit der Generalität gerettet werden müsse, wenn der Preis doch nur Leben und Ehre eines unbedeutenden einzel- nen, nicht sympathischen und obendrein jüdischen Mannes sei- der Oberst Piquart dachte, dass nicht der Schein, sondern das Wesen, nicht die Form, sondern der Inhalt der Soldaten- ehre gerettet werden müsse — und unter der schäumenden Wut seiner hohen und höchsten Vorgesetzten bekannte er, was er wusste. Es war keine Wallung schnellen Temperaments: der OI)erst Piquart wurde verschickt, er^urde verhaftet und be- schimpft, er wurde durch dunkle KerkelN^eschleppt und Rasier- messer wurden ihm in empfehlende Nähe gelegt — und viele Monate hindurch sagte der Oberst Piquart immer gleich ruhig und entschieden, was er wusste. Er tat es nicht unter der Lockung einer Ehre, denn hoffnungslos stand damals ein kleines Dutzend 92 Männer gegen ganz Frankreich; er tat es nicht aus Freundschaft für den Juden Dreyfus, denn er kannte den Mann nicht, und er war Antisemit! Ja, er war Antisemit, grade das wollen wir nicht vergessen! Er hatte von Geburt oder militärischer Erziehung her eine Antipathie gegen die jüdische Art Mensch. Aber stärker als alle Sympathie- und Anthipathie-Gefühle war in ihm jener tiefe „Anstand", der in jedem Menschen den Menschen und sein Recht achtet, und Gerechtigkeit vor allem und für jeden fordert. Und deshalb trug der Oberst Piquart ein Jahr und länger jede Gefahr des Leibes und der Ehre für die gerechte Sache eines Mannes, den er nicht liebte. Deshalb stand er dem Strom von Presse und Pöbel, Richtern und Räten, Generalität und Parlament, stand wider alle Mächte eines Volkes, bis die Kraft der Wahrheit ge- siegt hatte. — Dann trug ihn der schnell drehende Wirbel noch, sehr nachträglich, zu grossen Ehren : er ward General und Kriegs- minister und starb als Korpskommandeur. Jetzt ist er auf Kosten des Staates begraben worden. Uns aber scheint, wenn wir dank- bar zurückblicken auf die Jugendstunden, in denen uns die Hal- tung des Zeugen Piquart eine Ahnung von der Grösse mensch- licher Ehrenhaftigkeit gab, uns scheint, dass hier wirklich ein Held war. Und auch ein „Retter der Armee*; denn er bewies, dass das französische Heer auch ohne die Lüge leben könne, dass das französische Offizierskorps nicht getrennt sei von jenen Grundfesten der moralischen Welt, ohne die keine Art von sozia- ler Existenz mehr bestehen darf, und er bewies nicht zuletzt, dass ein französischer Soldat Mut genug besass, um für diese Grundfesten der Wahrheit und Gerechtigkeit das Leben zu wagen. Ich denke, das ist Kriegertugend — Heldentum. Was nun hat der in der Todesstunde des Obersten Piquart gefeierte Retter deutscher Heeresehre getan? Was macht den Obersten von Reuter zum Helden? Als die durch ungezogene Äusserungen eines sehr jungen Offiziers gereizte jugendliche Be- völkerung seiner Garnison sich gegen diesen und andere Olfi- 93 i ziere ungezogen benahm, da tat er nichts zur Beruhigung der Gemüter, wie es Klugheit und Gerechtigkeit einem Erwachsenen beim Streit zweier Rinder raten sollte, sondern er war „schnei- dig". Schneidig ergriff er die Partei seines Siandesgenossen, schneidig zeigte er — im Besitz der bewaffneten Macht! — den Zivilisten die herausforderndste Gebärde, schneidig riss er, als die Bürger zu murren wagten, die Herrschgewalt an sich, um zu verhaften und zu befehlen, und höchst schneidig erklärte er sein Bed.iuern, dass es nicht zum Schiessen und Bliitverj^iessen ge- kommen sei. — Mit all dem ist der Oberst von Reuter nicht im mindesten ein schwarzer Schurke; er ist nichts als der durchaus normale Durchschnittsvertreter seines Standes. Er hat genau getan, was jeder durchschnittliche, von keinem tieferen Mensch enge wissen geschärfte Vertreter seiner Kaste auch getan hätte. (Denn wenn der „Schneid" auch eine positive Qualität ist, so ist er doch eine typische Berufstugend und steht in der Hierarchie der Geister tief unter anderen Forderungen des Gewissens.) Der Oberst von Reuter hat sogar „korrekt" gehandelt und sein Frei- spruch dürfte juristisch unantastbar sein, da er si(;h ja, ehe er die Maschinengewehre gegen Zaberns Gassenjungen njobili- sierte, ausdrücklich mit der deckenden Kabinettsorder von 1820 bekannt gemacht hat. Aber eben dies nimmt ihm den letzten Schimmer von Heldentum. Was ist ein Held? Ein Mann, der für eine Sache (die mehr als sein Wohlergehen betrifft!) viel wagt! Was hat der Oberst von Reuter gewagt, als er mit den Bajonetten wider die Zaber- ner Gassenjungen loszog? Oh, schreit der deutsche Professor, der an der Universität der Hauptstadt die Jugend zu dem Welt- gefühl unserer grossen Dichter leiten sollte — oh, schreit er, hat er nicht den drei gemeinen P Trotz geboten: Pöbel, Presse und Parlament! hat er nicht deren Zorn gewagt!? Dies, Herr Professor, ist, mit Verlaub, der Schulfall einer hohlen Phrase, Einsetzung eines effektvollen Worlschalls für eine Sache. Denn 94 Sie wissen so gut wie jeder Mensch in Deutschland, dass dieser Oberst in seiner Karriere, seiner Existenz, seiner gesellschaft- lichen Geltung ganz unerreichbar ist für jene drei Mächte, die Sie, berufener Interpret der Kulturwerke deutschen Bürgertums, so tief verachten. Der Mann wusste ganz genau, dass er durch das Solidaritätsgefühl seiner Standesgenossen, durch die Gesin- nungsgleichheit seiner hohen und höchsten Vorgesetzten gegen jeden Angriff gedeckt war. Es ist nicht just Heldentum, wenn ich in einer unangreifbaren Festung auf den Feind draussen pfeife. Und das letzte sehr bescheidene Risiko — die eventuelle Unannehmlichkeit — , es war durch das korrekte Studium des Paragraphen von 1820 fortgeräumt. Hier wurde nichts gewagt. Nichts Eigenes — aber doch Sicherheit, Ehre, Gesundheit und (der Gesinnung nach wenigstens!) Leben von vielen Mitmen- schen. Für welche Sache ward diese sehr bequeme Opferhand- lung vollbracht? Die Freunde des Oberst von Reuter nennen es die ^ Ehre der Armee", er nennt es selber so, und ich zweifle nicht im mindesten, dass er glaubt, was er sagt. Nur dass das Heer, um das es sich hier handelt, in Wahrheit nichts als die gewaffnete Form des deutschen Volkes ist! Dies Heer, dem wir Deutsche nicht nur unser Geld, sondern unzählige Lebensjahre unserer jungen Menschenkraft opfern, das sind wir selbst, das hat keine andere Ehre als wir selber, und zwischen ihm und uns kann gar kein Zwist sein. Die Armee aber, für deren Spezia lehre der Oberst Reuter eintritt, das ist ein besonders ausgezeichneies We- sen, das jener ostelbische Adel , der heute noch unser Olfizier- korps wie unsre Regierung beherrscht, als Fundament seiner Vormacht zu behaupten entschlossen ist. Diese Armee hat die ausserbürgerliche, die von alten Ritterideen überhitzte Spezial- ehre, die gebietet, auf die Folgen der eigenen Fehler nicht mit einer Entschuldigung, sondern mit einer Herausforderung zu antwor- ten, — die gebietet, den Beweis eigner Furchtlosigkeit zu erbrin- gen, auch mit Gefährdung des Lebens einer Stadt von Bürgern und 95 der Rechtssicherheit Deutschlands und der nationalen Einghede- rung von Elsass — sie gebietet, einen Menschen, der bloss ein Schu- ster ist, mit dem Säbel über den Kopf zu hauen, wenn die Möglich- keit vorliegt, dass man bei ihm eine Absicht, die Standesehre eines Leutnants beeinträchtigen zu wollen, vermuten könnte! — Der springende Punkt ist, dass hier nicht für die Waffenehre des deutschen Volkes, sondern für die speziellen Ehrenan- sprüche einer privilegierten Kaste so viel aufs Spiel gesetzt wurde. Hier sind private Sympathien und Antipathien durch kein Gefühl für allgemeinere, unverwirkbare Rechte aller Menschen gebändigt. Der Oberst Reuter, der ohne eigenes Risiko die Mög- lichkeiten seines Amtes im Sinne dieser Kastenempfindung inter- pretierte, ist selber ein Glied dieses Adels — er hat also zuletzt sein Interesse gewahrt. Er ist kein Held. Man ist ganz gewiss kein Schurke, wenn man sein persönlich- stes Standesinteresse wahrt, es ist Recht jedes Daseinkämpfers. Wer dies besonders energisch tut, ist „schneidig". Ein Held aber ist, wer über solch selbstverständliches Daseinsinteresse hinaus den eignen Vorteil um einer höheren Sache willen in die Schanze schlägt. So tat Piquart, als er, anerzogene Standesbegriffe über- windend, für die grosse, die Welt erhaltende Idee der Gerechtig- keit seine Existenz wagte. Die Macht brauchen, um an der Macht zu bleiben, welcher Krämer, welcher Lands- knecht, welch Alltäglichster täte das nicht auch? — Jener Begriff aber, mit dem man den Deutschen jetzt immer wieder die Grundtatsache: dass hier um den Vorrang einer Adelskaste gestritten wird! verschleiern will — der Begriff von der Unantastbarkeit der militärischen Ordnungs- formen, der Subordination, der Disziplin, dies letzte Palladium aller Scbneidigkeit, es ist trügerisch. Ordnung ist da um des Geordneten willen, Waffen sind da für den Menschen — nicht umgekehrt! Wer aber aus der Disziplin und der Armee — von den Machtbedürfnissen seines Standes geleitel — selbstherrliche 96 Götzen macht, denen Menschen recht und Menschenleben zu opfern sind, der zerstört die Form, die er zu erhalten vorgibt. Denn er entseelt sie, und kein hohler Leib kann auf die Dauer leben. Noch stets haben alle Mächtigen den Untergang der Autorität be- jammert, wenn man es wagte, ihnen Missbrauch der Macht nach- zuweisen. Autorität ist aber nur da, um der Gerechtigkeit willen; wer sie mit dem kleinsten Opfer an Rech tsinhalt behaup- ten will, der macht sie zur leeren Phrase, setzt den Schall für die Sache, den Götzen für Gott. Der Oberst Piquart, der den Mut zur Sache, zum Inhalt, zur Gerechtigkeit hatte — er hat in Wahrheit die Form, die Autorität, die Armee gerettet, indem er ihr ihren Sinn, Würde und Recht wiedergab. Die Männer aber, die ein Gelächter anstimmen, wenn im Deutschen Reichstag die Men- schenstimme eines Friedrich Naumann nach dem Geist, der Ge- rechtigkeit, dem Gewissen fragt, um dessen willen doch alle Formen der Macht nur da sind — die zerstören das Heer, weil sie ihm seinen Wert, seinen Sinn, sein Recht nehmen. Das heulige Heer ist nicht die gewappnete Gemeinschaft der Ritter, es ist nicht die Soldschar eines Fürsten, es ist die gewaff- nete Existenzform der deutschen Menschen. Darum kann es nur als dienendes Organ dieser Menschen existieren. Wird es zum Ausdruck eines bestimmten Standesbegriffs gemacht, einer Ehre, gegen die Recht und Leben der Menschen, die im Augenblick unbewaffnet existieren, sehr gering zu achten sei — dann muss dies Volksheer zu Spott und Schande werden. Das Recht, die Ehre aller ist es, für die dies Heer leben kann und soll. — „Wohl denen, die gerecht sind und keine Götzen haben, sie wer- den nicht zum Spott." So schliesst ein Ruch der Bibel, das Buch Baruch. Wenn man in unserem Volke unbrüderlicherweise nicht vom Spott wider den (im Kern seiner Schneidigkeit gewiss nicht wertlosen) altpreussischen Adel lässt, so liegt das wohl daran, dass diese Männer nicht gerecht sind, und dass sie so sehr viele Götzen haben! 7 Bab, Erwachen zur Politik 97 Lebende Roiportage Zum Elberfelder Mordprozess (Juli 1914) Wen erschiessen wir nun? — Ich denke, das wird demnächst ein beliebtes Gesellschaftsspiel. Schliesslich haben die meisten Menschen irgend jemanden, den sie Heber nicht auf dieser Erde wandeln sähen, und unangenehme Folgen hat das Totschiessen in Deutschland ja seit einiger Zeit nicht mehr, zum mindesten, wenn man ein junges und leidhch nett aussehendes Fräulein ist» Brunhilde Wilden aus Düsseldorf zum Beispiel, die, wie man heute als vorsichtiger Mensch sagen muss, „in irgendeinem be- deutsamen Zusammenhang mit dem Tode des Assessor Nettelbeck in Elberfeld gestanden" hat, wurde glatt freigesprochen, und „einemehrtausendköpfige Menge begrüssteden Frei- spruch mit lauten Hurrarufen". Als neulich eine kleine Berliner Kokotte, die mit nicht ganz dem gleichen Erfolge auf ihren Liebhaber geschossen hatte, freigesprochen wurde, begnügte sich die anwesende Dnmenwelt nur mit lebhaftem Klatschen. Wir machen also unleugbar Fortschritte. Um vom bitteren Spass zu dem lächerlichen Ernst zukommen: Die Geschworenen geben nie Gründe ihres Urteils an. Zwei ver- schiedene Motive der Freisprechung waren aber nur möglich: entweder sie glaubten, dass die Angeklagte gar nicht den Schuss auf den Assessor Nettelbeck selbst abgegeben hatte, sondern dass er sie bei einem Selbstmordversuch verhindern wollte, und dass beim Ringen der ihn tötende Schuss sich entladen habe. Die 98 Wahrscheinlichkeit dieser Annahme leidet unter einigen Tat- sachen : die Angeklagte ist mit einem Revolver nach Elberfeld gefahren, den ihr derzeitiger Verlobter, der Mitangeklagte Dr. Nolten tags zuvor frisch gekauft hatte. Dr. Noiten hat die bevor- stehende Erschiessung des Neitelbeck einige Male ziemlich unver- hüllt angekündigt, und er hat unmittelbar nach der Tat weiter erzählt, wie die Wilden ihm klipp und klar erzählt habe, dass sie den Nettelbeck erschossen habe. Tags darauf hatte er aller- dings geäussert: „Die Sache ist doch ganz anders, das Mädchen ist jetzt zur Ruhe gekommen und hat nun erzählt, dass sie mit dem Revolver nach Elberfeld gefahren sei, um sich selbst zu er- schiessen." Dabei ist aber übersehen, dass in den dazwischen- liegenden 24 Stunden die Wilden nicht nur zur Ruhe, sondern auch zu dem sehr tüchtigen Düsseldorfer Verteidiger Rechtsanwalt Davidsohn gekommen ist, der sicherlich die ganze Suggestionskraft eines zielbewussten Advokaten angewandt hat, um ihrem Gedächtnis eine minder gefährliche Richtung zu geben. Immerhin, die psychiatrischen Sachverständigen stellten fest, dass die Möglichkeit für solche falschen Selbstbezich- tigungen, wie Brunhilde Wildens erstes Geständnis gewesen wäre, besteht; die Schiesssachversiändigen stellten fest, dass die Mög- lichkeit, dass der tödliche Schuss ein zufälliger gewesen sei, besteht. Da eine Mordtat meist unter vier Augen geschieht, so ist, wo kein Geständnis vorliegt, die Möglich kei t der Unschuld mathematisch nie ausgeschlossen, und es handelt sich eben dar- um, ob man dem Angeklagten glauben will. Die Düsseldorfer Geschworenen haben also entweder der Angeklagten geglaubt, oder Oder, das kann das andere Motiv sein, sie haben ihr im Gegen- teil so wenig geglaubt, dass sie sie für unzurechnungsfähig, für geistig unverantwortlich hielten. Dass sie eine durch und durch hysterische Person war, haben die Arzte allerdings zweifellos be- stätigt. Aber hier macht sich nun schon die in einer ganz liefen 7' 99 sittlichen, ja einfach logischen Verwirrung wurzelnde Schwäche unserer heutigen Strafrechtspflege geltend. Entweder ich glaube nur an eine gefährliche Disposition des Individuums, und dann hört die Verantwortlichkeit keineswegs auf. Mordtaten ohne einen gewissen stark nervösen Zustand sind ja einerseits über- haupt nicht gut vorzustellen; und andererseits kann als gewiss gelten, dass in zahllosen Persönlichkeiten die gleichen nervösen Dispositionen liegen, die wir (ich scheue mich nicht im minde- sten, das unmodische Wort in den Mund zunehmen — auch seine Verächter wissen recht gut, was damit gemeint ist!) als sitt- lich achten. Ihr menschlicher Wert und ihre soziale Achtbar- keit liegt aber gerade darin, dass sie diese Dispositionen zu be- herrschen und zu unterdrücken verstehen ; ja, der Philosoph Simmel hat mit grossem Recht einmal betont, dass die Grösse vieler hervorragender Persönlichkeiten vielleicht gerade dariu ruht, dass sie aus der Überwindung verbrecherischer Instinkte, denen gemeine Naturen nachgeben, eine ungeheure Schnellkraft gewinnen. (Hier liegt der wahre Zusammenhang von Genie und Verbrechertum.) — Oder aber ich glaube nicht bloss an eine ge- fährliche Disposition, sondern an eine solche Seh wache des ganzen Menschen, dass dieser Disposition nicht widerstanden werden kann. Dann ist natürlich von einer straf baren Handlung und von einer sittlichen Verantwortlichkeit nicht mehr die Rede, aber dann ist es heller lichter Wahnsinn, dass ein Freispruch erfolgen kann, der nicht zugleich die lebenslängliche Überweisung in eine Anstalt für gemeingefährliche Irre in sich schliesst. Statt dessen wird jetzt ein geistig minderwertiges Wesen, dessen Gemeinge- fährlichkeit erwiesen ist, zum beliebigen Gebrauch seiner Frei- heit wieder auf die Gesellschaft losgelassen, und von unserer Ge- sellschaft, die das Ungewöhnliche vom Wertvollen über- haupt nicht mehr unterscheiden kann, die nirgends mehr das Fruchtbare, sondern nur das Sensationelle will, wohl gar als besonders „interessantes" Mitglied wieder aufgenommen. 100 Und damit erst kommen wir zu dem eigentlich kulturellen Problem, das in diesem Prozess liegt. Die Geschworenen haben wahrscheinlich nur getan, was sie nach bestem Gewissen und nach dem höchst mangelhaften, ihnen zu Gebote stehenden Rechtsapparate tun konnten. Sie entschuldigt obendrein, wenn sie einen rechtlichen Fehlspruch getan haben sollten, die kaum qualifizierbare Haltung des Vorsitzenden, der mit jedem Wort, das er sprach, Stimmung gegen die Angeklagte zu machen suchte, und dadurch bei Leuten von einigem Selbstgefühl natür- lich die entgegengesetzte Stimmung auslösen musste. Nichts aber entschuldigt die mehrtausendköpfige Menge, die „den Freispruch mit lauten Hurrarufen" aufnahm. Mit dieser Menge, zu der im weiteren Sinne auch eine ganze Zahl von Journalisten, sogar ei- nige gute Journalisten gehören, muss jetzt noch ein Wort geredet werden. Denn die Stimmung dieser Tagesschreiber, die vor den schönen Augen des Fräuleins hinschmolzen, und die der Mitwelt ihren Fall als einen interessanten, einen menschlich bedeutenden, einen dichterischen gar! aufreden wollen, das wird womöglich auch die Stimmung gewesen sein, die die Geschworenen bewog, in der immer offenen Frage nach der möglichen Unschuld den Versicherungen der Verteidigung Glauben zu schenken. Hier aber ist das einigermassen Wichtige an dem ganzen Vorgang. Es liegt kein nationales Interesse vor, ob dieser eine Mensch schuldig oder unschuldig ist, ob er seine Zukunft im Gefängnis, im Sanatorium oder im Ballsaal verbringt; aber es ist von höchster kultureller und politischer Bedeutung, was ein Volk als interessantes, wertvolles, als Hebens- und achtungswertes Leben empfindet. Zugegeben sei, dass in einem allerletzten Sinne jedes lebendige Wesen, aber dann Kröte und Katze genau so gut wie der Mensch, Anspruch auf unsere Liebe und Achtung hat. Aber dies zugegeben, weiss ich inner- halb der Skala sozialer Kulturwerte keinen tieferen Punkt als den, auf dem sich dieser hässliche und verächtliche Elber- 101 fei der Vorfall bewegte! Hier war nirgends Natur und Wahrheit, hier ist überall vergiftete Zivilisation und eitle Lüge. Dies ist nicht ein Stoff für Dichter, sondern schlechte Literatur, die wie- der Fleisch geworden ist: lebendige Roiportage. Aus was für einer grundgemeinen, von keinem Gefühl, son- dern vom gemeinsten Strebertum regierten Welt kommen schon die beiden Männer dieses Dramas. Auf der einen Seite ist der Assessor, der (wörtHch) „auf das Lebensglück anderer pfeift", wenn man ihm „seine Karriere verderben" will; auf der anderen Seite der Arzt, der dafür ist, seine Verlobte durch „eine Ehe pro forma" mit dem anderen zu rehabilitieren; der dann aber zum mindesten durch kräftige Redensarten die Möglichkeit seiner Er- schiessung nahelegt, und nach der Tat, die nicht er getan hat, in brutalster Weise triumphiert. Alle beide aber laufen sie bei jeder Gelegenheit zum „Ehrengericht", werfen mit Zweikampf- forderungen um sich und handhaben ohne einen Funken wirk- lich ritterlichen Gefühls den ganzen vorgeschriebenen Apparat der Ritterlichkeit kolossal schneidig und korrekt. Die ganze seelenlose Kulissenwelt des hohlsten preussischen Re- serveleutnants und Korpsbruders tut sich vor uns auf. Das sind die rivalisierenden Helden — und nun die Jungfrau in der Miite. Wenn man einfach sagte, hier ist ein armes, durch und durch krankes Geschöpf, ein trübes, durch und durch faules Produkt unserer Gesellschaft, die man in möglichst schmerzloser Weise an weiteren gemeingefährlichen Handlungen verhindern muss, so wäre kein Wort mehr über Rrunhilde Wilden nötig. Nachdem man sie aber als einen Typus leidender Weiblichkeit, unglücklichen verfolgten Menschentums hinstellt, wird es nötig, ein sehr deutliches Wort zu reden über den Unterschied zwischen leidenschaftlich erschütterter Natur und hysterisch vergifteter Zivilisation, zwischen einem Stoff der Poesie und einem Produkt der Kolportage. — In jeder oberbayerischen Messerstecherei und vollends in jedem süditalienischen Totschlag letzten Ranges liegt loa mehr natürliche Wahrheit und künstlerische Möglichkeit (es ist ein und dasselbe) als im Schicksal der Brunhilde Wilden; dies ist in jedem anderen Sinne als im zeitpathologischen vollkommen un- interessant. Denn hier kam nichts von unten her, aus den leiden- schaftlichen Notwendigkeiten der Natur, hier kam alles von oben, von aussen, aus der Literatur; hier schielt jede Geste, jedes Wort nach dem Vorbdd in Roman und Theater: die Kolportage wan- delt. Und für die Pathologie der Zeit freilich ist es interessant zu sehen, bis zu welchem Grade sich die Natur durch schlechte oder schlecht verdaute Literatur vergiften lässt. Die Vergiftung beginnt offensichtlich schon mit der Geburt. Ein wenig ist Brunhilde Wilden belastet und nicht nur, wie fest- gestellt, in physischem Sinne. Der Geschmack der Eltern, die zum Namen Wilden den romanhaft prachtigen Vornamen Brun- hilde fügten, so einen wahren Filmtitel erzeugend, verrät so man- ches. Nachdem sodann die Rede des Staatsanwalts verriet, dass, nach den Ergebnissen der unöffentlichen Verhandlung, Brunhilde Wilden in sehr jungen Jahren nahezu gleichzeitig mit drei Män- nern in einem sexuellen Verkehr gestanden hat, wird man wohl nicht umhin können, Brunhilde Wilden in einem zunächst mög- lichst objektiven Sinne des Wortes als eine dirnenhaft veranlagte Natur zu bezeichnen. Dies ist ja bekanntlich für hervorragend moderne Leute ein beinahe positives Werturteil. Ich persönlich erlaube mir zwar nach wie vor zu glauben, dass alles, was unser Leben kulturvoll, geistig, schön, ja auch nur erträglich macht, mit einer vertieften Konzentration der Gefühle zusammenhängt, die derartige sexuelle Vielseitigkeit ausschliesst. Aber wenn man zugeben will, dass eine Dirne grossen Stils, die ein mächtiges Naturell schrankenlos auslebt, den geringeren aber sehr wohl noch beachtlichen Wert einer elementar-rohen Naturkraft haben kann, so gewinnt auch in diesem Sinne Brunhilde Wilden uns immer noch nicht das geringste Interesse ab! Denn einerseits macht auch ihre Sexualität nicht den Eindruck einer Kraft, son- io3 dern nur einer Schwäche, sie scheint weniger sinnlich als hem- mungslos; sie scheint so durch und durch hysterisch, dass ihre Handlungen viel mehr klinisches Mitleid, als irgendein positi- ves oder sittliches Interesse einflössen können. Aber aus eben diesem Grunde verlieren ihre Handlungen auch ganz und gar den ästhetischen Reiz eines Naturpliänomens, denn niemals geben sie sich frei, immer sind sie mit unverdauter Literatur bemäntelt — das grässliche Beispiel der entfesselten höheren Tochter, des von Emanzipationsliteratur vergifteten Backfisches. Sobald Brun- hilde Wilden in diesem Prozess den Mund aufmachte, kam etwas Gedrucktes, etwas fühllos Verschwollenes, kurz Kolportage heraus. Die gerührten Augenzeugen mögen uns noch so viel von der schlichten Haltung, der einfachen INatur des Mädchens reden. Das Wort müssen sie stehen lassen. Und so sind diese Worte: „Ich schrieb ihm-, dass ich unsere Verlobung nunmehr für erledigt hielte, da ein Vertrauensverhältnis zwischen uns unmöglich sei." — „Mir sind die Schleier zu früh vom Gesicht gerissen worden." — „Mir ist so heiss im Gemüt, ich kann kaum noch Atem holen, ich ersticke fast. Ich werde krank, wenn ich dich nicht mehr sehe, und du bist doch kaum drei Wochen von mir fort, du Heissgeliebier. Was soll das noch werden, ich fühle, ich kann nicht mehr leben, ohne dich. Brunhilde." Das letztere ist ein Brief, der (notabene kurz nach anderen Liebschaften, und kurz vor der Verlobung mit Noiten) an den nunmehr erschossenen Nettelbeck geschrieben wurde. Alle Köchinnen werden in Rüh- rung schmelzen; der Kolportageroman, den sie so lieben, kommt auf dem Umweg über das Leben zu ihnen zurück. — Ferner sagt Brunhilde: „Ein Mann hat eine Dame unter allen Umstän- den zu schützen" und „ich musste eben jemand haben, der für mich handelte". Hier haben wir das charakteristische Gegenstück zu den Herren mit den Kavaliersma- nieren ohne einen Funken wahrer Ritterlichkeit. Hier hat ein Weib alles, was die Pflicht, die Würde, die Lei- io4 stung einer Dame ausmacht, zugunsten hemmungsloser Triebe abgelehnt, aber die Prätentionen der Dame, die Forman- sprüche, die ihr das Leben leicht machen sollen, die bleiben bestehen. Und weiter sagt Brunhilde: „Ich wollte mein Lebensglück nicht auf einer Lüge autbauen" — und ein liebens- würdig ahnungsloser Rechtsanwalt bekennt, dass diese Antwort auf ihn „einen sehr guten Eindruck" gemacht habe. Dieser ahnungslose Engel weiss offenbar nicht, dass hier ein wörtliches Zitat nach Ibsen und hundert Ibsenepigonen vorliegt, dass hier schon wieder die Bücher statt der Natur sprechen. A ber wie sollte auch ein Rechtsanwalt dergleichen wissen, wenn der Gerichts- vorsitzende schon wieder die empörende Unbildung zeigt, das Andenken Friedrich Nietzsches zu lästern, und diesen Propheten der höchsten und strengsten Selbstzucht verantwortlich zu ma- chen für die widerwärtigen Bequemlichkeiten nervenschwacher Kreaturen. Den Höhepunkt aber bedeutet hinsichtlich der geisti- gen Schlamperei wohl jenes Zitat, das ich dem „Berliner Tage- blatt" entnehme, und das der Reporter, der Vorsitzende und die Angeklagte gemeinsam verantworten mögen: „Auf Befragen durch den Vorsitzenden erklärte die Angeklagte Wilden, dass es ihr im Gefängnis zur Gewissheit geworden sei, dass es einen Gott gebe. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass das alles passieren könnte." Dies ist so grotesk, dass man schon darüber weinen könnte — weinen vor Empörung, wenn nicht über die skrupellosen Gehirne, die hier mit den grössten Begriffen Schind- luder treiben, so doch über die Journalisten, deren ganzes Talent in sentimentaler Sensation besteht, und die uns ihrem Metier zuliebe die Schauspiele der Nervenschwäche und der Geistes- schwäche als eine Menschlichkeit von irgendwelchem Belang, als ein Drama, eine Tragödie einreden wollen. Es hängt mit dem verruchten, gewissenlos „sensiblen" Literatentum unserer Tage, diesem Zwilling des sensationellen Journalismus, zusammen, wenn man es heute wagen kann, uns diese hässliche Blamage io5 unserer Zivilisation als ein irgendwie bedeutsames Naturspiel, dieses Minus an geistigen Hemniungen als ein Plus an Lebens- kraft, und dies Produkt der Kolportage als Stoff dichterischen Gefühls einreden zu wollen. — Um die Gesellschaft dieses Pro- zesses ist Verwesungsgeruch. — io6 In der Katastrophe Gedanken im Kriege (Herbst 1914) Thomas Mann und der Krieg wenn man das grösste Ereignis des letzten Menschenaliers, das tragische Schicksal un- serer Tage ohne allen Spott mit dem Namen eines einztilnen Menschen zusammen nennt, so ist dies eine so grosse Huldigung, dass man von vornherein gegen den Verdacht geschützt ist, die- sen Mann zu verkennen oder zu missachten, auch wenn man noch so entschieden gegen ihn zu polemisieren gedenkt. In der Tat scheint mir Thomas Mann einer der wenigen deutschen Künstler und Schriftsteller von heute, die formale Kraft und geistiges Gewicht genug haben, um mit ihrer Lebensfrage, ihren Werken, nicht neben der ungeheuren Frage der gegenwärtigen Geschichte sogleich zu verschwinden. Im Gegenteil: Starke und schöne Bezüge scheinen mir zu wal- ten zwischen der Kraft, die heute Deutschland siegesfähig und siegeswürdig macht, und der Energie, von der Thomas Manns Werk lebt. Es ist ein wundervolles Deutsch, das dieser Schrift- steller schreibt: sinnlich und sachlich, straff und stark, wohl- klingend und zielgerecht. Und um einen Mittelpunkt, der gewiss von wahlloser Leidenschaft gesetzt ist, zieht seine Hand klar und planvoll den runden Kreis künstlerischer Wirkung. Da die Natur die Identität von Kern und Schale im Künstler immer am rein- sten zu enthüllen pflegt, so ist eigentlich derselbe Prozess, die- selbe leidenschaftliche Willensspannung, von der bei Thomas Mann diese klare und harte, musikalisch logische Form geschaf- 109 fen ist, zugleich der Inhalt, das Thema all seiner Werke. Immer wieder gestaltet er in hundert Variationen den Zusammenstoss klarer, hauender, hürgerlich zuchtvoller Instinkte mit den ele- mentaren Stimmen des Abgrunds, mit dem schönen Chaos der Sinnlichkeit. In der Tat wächst jedes Werk, und das des Künst- lers zumeist, ja nur dort, wo Chaos den Formwillen speist, Geist die Natur bezwingt. Im Erschlaffen der Bildkraft, im Erlöschen der zu bildenden Feuermasse ist gleichermassen der Tod. Dies ist es, was Thomas Mann immer wieder gestaltet hat, von sei- nem ersten berühmten Roman, den „Buddenbrooks", deren Fa- milie verfällt, weil die bürgerlich bauenden Instinkte mit der Zeit von den ästhetisch betrachtenden ganz verdrängt werden, bis zum „Tod in Venedig", der den grossen Schriftsteller ereilt, da der straffe Zügel seines Arbeitswillens ihm entgleitet und die Welt sinnlicher Selbstzufriedenheit ihn verlockt. Alles gestaltet im Grunde dasselbe Schauspiel: das Schauspiel dämonischer Kräfte, die ins Uferlose schwärmen möchten, sich aber im stren- gen Kulturgewissen und in harter Selbstzucht zu einer Leistung begrenzen. Dieses Schauspiel, das uns Thomas Manns Kunst der Form wie dem Inhalt nach gibt, ist gewiss nicht das Schönste, das Leichteste, das Glücklichste der Welt. Es ist nicht das „Glück" Goethes, wie es Schiller in seinem schönsten, schmerzlich neid- vollen Gedicht geschildert hat, aber es ist ein Schauspiel in dem harten, angespannt ringenden Sinne Schillers und noch mehr Hebbels, es ist norddeutscher, ja (politisch gewendet) preussischer Geist, der sich so in harter Selbstzucht und tiefen Gewissens- kämpfen frei, und fruchtbar macht. Dieser Künstler, dem es durchaus nicht gegeben ist, das Rechte blind mit dem Griff der schönen Seele zu erfassen, der es sich aber in harter und sieg- reicher Mühe erobern kann, ist wirklich berufen, das Leben des grössten Preussen, Friedrichs des Grossen — so wie er es vorhat — zu schildern. Ist doch sein ganzes Werk eine Apotheose frucht- bringender Selbstzucht. Und in diesem tiefen Sinne ist allerdings HO Thomas Mann sehr zeitgemäss und mit seinem ganzen Wesen und Schaffen ein durchaus richtiger und wichtiger Autor für die deutsche Gegenwart. Er selbst aber hat seinem Verhältnis zur Gegenwart, der Ver- wandtschaft, die er mit ihrem erschütternden Aufschwung spürte, eine Deutung gegeben, die nicht unwidersprochen bleiben darf. In der „Neuen Rundschau" hat er unlängst „Gedanken im Kriege" veröffentlicht, einen Aufsatz, der nicht nur ausgezeichnet ge- schrieben ist, sondern auch im einzelnen, namentlich über das deutsch-französische Verhältnis, viel Vortreffliches enthält. Seine Grundlage aber scheint mir falsch, und eine begriffhche Miss- deutung von Thomas Manns eigener Welt zu sein. Er baut eine Antithese von Kultur und Zivilisation, die er auf den Unterschied zwischen Geist und Natur zurückführt. , Kultur ist Geschlossen- heit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles noch so aben- teuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar, Kultur kann Ora- kel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafes, Veitstanz, Hexenprozess, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfas>en. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Säntiigung, Sittigung, Skeptisie- rung, Auflösung — Geist." Von hier kommt Thomas Mann zu dem Schluss, dass, wie die Kunst, so auch der Krieg der Kultur, als ein der Zivilisation, der bürgerlichen Ordnung feindliches Element, als ein Dämonisches, verwandt sei, und dass der Krieg deshalb die Freude der Künstler sein müsse. Hier liegen zwei aus der Tradition romantischen Denkens be- kannte Irrtümer vor. Einer liegt ganz obenauf. Es ist ein schli« h- ter, logischer Trugschluss, zu glauben, dass, Aveil C ebenso wie B nicht A ist, B und G wesensgleich sein müssien. C kann näm- lich ein Drittes, ein beiden Entgegengesetztes sein. Das Bereich des Möglichen ist zwischen Kultur und Zivilisation nicht kontra- diktorisch aufgeteilt, vielmehr sind beide als positive, das Leben III formende Mächte vereint, und den neg^ativen, zerstörenden, we- sentlich auflösenden Mächten gegenübergestellt. Dass der Krieg nicht ausschliesslich, aber zunächst und im Grunde eine solche ne- gative, äusserlich und innerlich zerstörende Macht ist, das dürfte doch nicht verschwiegen werden. Gewiss besteht seine positive Fähigkeit vielleicht darin, dass er, wie jedes grosse Unglück, die Menschen aufrüttelt, das Philisterium stört, die Behaglichen und Bequemen in Bewegung setzt. Aber wenn nun wirklich Zivilisa- tion gleich Ordnung und Ruhe, Kultur gleich schöpferische Be- wegung wäre, so wäre der Krieg durch diese gemeinsame Gegner- schaft gegen das Ruhende noch immer keine Kulturerscheinung. Immer wieder hat die gemeinsame Feindschaft gegen die Phi- lister freilich das romantische Denken verführt, das dichterische Gleichnis mit dem Krieger ernst zu nehmen und den ungeheuren Unterschied zu übersehen: dass der Kulturarbeiter den Beruf, zu schaffen, zu erzeugen, der Soldat den Beruf, zu töten und zu zer- stören hat. Der zweite und tiefere Irrtum liegt in der Grundvoraussetzung, in der Scheidung von Geist und Natur. Dass der menschliche Geist, das höchste, organische Naturprodukt, nicht Natur sei, dass ein Gedanke Newtons, ja ein Witz Voltaires weniger elemen- tar sei, weniger notwendig, weniger naturgezeugt und zeugend sei, als der Brunstschrei einer Löwin oder das Mondlied eines lyrischen Dichters: das ist eine ebenso alte wie völlig verkehrte Behauptung. Was ist das für eine Ehrfurcht vor der Natur, die ihr das Eigentumsrecht an ihren sublimsten Leistungen plötzlich abspricht?! Der Geist kommt aus der Natur und hat keine andere Tendenz als wieder in die Natur zu wirken. Voltaire hat eine so gewaltig reale Sache wie die französische Revolution, Newtons deutsche Schüler haben etwas so Materielles wie die chemische Industrie mitgeschatfen. Spinozas, Kants, Rousseaus Ideen sind als Glieder in der zeugenden Reihe wahrhaftig nicht weniger naturhaft als eine Blütendolde, eine Tigerin oder ein Menschen- 112 weib. Damit fällt aber der ganze radikale Scheidungsversuch voa Kultur und Zivilisation zusammen. Keine Kulturschöpfung, nicht einmal die sehr fragliche eines Vitzliputzli-Kults, reift ohne zivi- lisatorischen Unterbau, und jede menschbeitlich bedeutende Kul- turleistung (der Vitzliputzli-Kult ist das just nicht!) hat das tiefste Bedürfnis, auf die Zivilisation fortbildend zu wirken. Wie will- kürlich Thomas Mann absolute Trennung dieser zwei Nuancen einer grossen Farbe ist, das beweist die Tatsache, dass er Goethe für seine „Kultur" in Anspruch nimmt, obschon dieser freilich zugleich dämonische Mann doch mit tausend Wurzeln aus der deutschen Aufklärung hervorwächst, gerade im Alter immer wieder und wieder seine rein zivilisatorischen Absichten betont und im Faust ein dämonisches Schöpferleben in grosser zivilisa- torischer Arbeit höchstes Genügen finden lässt. Über dem, was Mann kulturelle und dem was er zivilisatorische Arbeit nennt, schwebt derGeist der Menschheit in einem höhern, gemeinschaft- lichen Sinne, dessen Ziel wir mit armen Worten, wie Mensch- lichkeit, Gerechtigkeit, Liebe, umschreiben. Und Thomas Mann wird mir vielleicht zustimmen, dass alle grossen Leistungen der Kultur, genau so wie der sozialen Zivilisation diesem Ziele zu- streben (jedes Kunstwerk ist ein Aufruf zur Wellliebe!), während der Krieg all diesen Werten zunächst einmal feindlich gegen- übersteht, weil er — wenn auch vielleicht um einer Liebe willen und für eine Liebe — doch den Hass, die Vernichtung, den Tod fordert. Es ist wohl auch nicht schwer, zu zeigen, dass das Leben, das Thomas Mann mit seinen eigenen Werken gestaltet hat, in dieser Gegensatzformel von Kultur und Zivilisation gar nicht unterzu- bringen ist. Ist nicht der grosse Autor, der den „Tod in Venedig" stirbt, als eine kulturell Schöpferisc he Persönlichkeit gemeint, und ist nicht doch jenes von norddeutschen Beamten ererbte Pflichtgefühl, das ihn aufrechterhält, zivilisatorischen — der bacchantische Rausch aber, dem er erliegt, (nach Manns Termi- 8 Bab, Erwachen zur Politik Il3 nologie) kulturellen ürsprun{»s?! Und wenn Thomas Mann in der „Fiorenza" Lorenzo di Medici und Savonarola als zwei grosse Menschentypen gegenüberstellt — will er den grossen Staats- mann, den Schirinherrn aller schönen Künste, rein der Zivilisation und den dämonischen Priester, den Feind aller schönen Sinnlich- keit, rein der Kultur zurechnen? Erkennen nicht vielmehr in der Schicksalsstunde beide Feinde die grosse Gemeinschaft, die sie als schaffende, fruchtbare, ganze Menschen, gegenüber den Klei- nen, Bequemen, Nichtigen verbindet?! Es scheint also, dass die dämonisch schaffenden und die sozial ordnenden Kräfte gänzlich unscheidbar ineinander wirken, überall, wo Wirkliches geleistet wird; und dass es nichts gibt als den Gegensatz zwischen dem im grossen Gleichgewicht schwingenden Leben und dem in irgendeiner Masslosigkeit entarieteo Tod. Dann aber veihielie sich der Krieg nur so zur dämonischen Naiurkraft, wie das feiste Friedens-Philisterium zur sozialen Geisteskraft. Gewiss ist es wahr, dass der Krieg auch segensreich wirkt, so- fern er die in fettes Behagen, in geile Selbstzufriedenheit entarte- ten Zivilisationsprodukte zersetzt. Gewiss ist es wahr, dass der Krieg, weil er Hingabe, Enthusiasmus, Kührdieit verlangt, das Philistertum vernichtet, dass er Kräfte somit wachruft und in Anspruch nimmt, deren sich auch der Künstler zu bedienen hat. Wie die Kunst zerstört der Krieg allerdings die Burgen von Phi- listerien. Aber zu verschweigen, dass er dies nur tut, weil er überhaupt eine zerstörende und also auch kulturfeindliche Kraft ist, den Künstler, den grossen Liebhaber des Lebens, zu einem Bruder des Soldaten zu machen, dessen ganze Tugenden doch auf Zerstörung des Lebens gerichtet sein müssen: das scheint mir ein grosser und bedenklicher Irrtum. Bedenklich deshalb, weil wir diesen Krieg zwar mit aller Hingabe, mit allem Ernst und allem Eifer führen müssen, da das tragische Verhängnis einmal das Fortbestehen unsrer nationalen Kuliur an ihn geknüpft hat. Um der Zukunft dieser Kultur willen aber dürfen wir auch im 114 Kriege das Gefühl nicht verlieren, dass das dämonische Werk der Zerstörung allem Schaffen entgegengesetzt ist, und dass sein Ver- schwinden aus der Well ein Ziel aufs innigste zu wünschen bleibt. Mir scheint, dass die stolze, die mutige, die siegversprechende Haltung unsres Volkes nicht germger, sondern nur erhabener ist, wenn es allen Irrtümern über die schreckliche Natur des Krieges entsagt. Darum muss man, scheint mir, die Kriegsphilosophie des Dichters Thomas Mann ablehnen. Seine Gedichie aber möge das deutsche Volk auch heute auf sich wirken lassen als Beispiel eines leidenschaftlich gespannten Schöpferwillens, der dunklen Stoff zu edler Form zwingt. 8* Il5 Blinder Eifer (Herbst 191 4) Wenn irgend etwas mit dem Jammer des grossen europäischen Krieges, mit dem furchtbaren Schaden, den die sichtbare Welt durch Kugeln und Kanonen an Leben und Gütern, die unsicht- bare durch die wiederbeschworenen Geister des Hasses und des Blutvergiessens an Humanität und Kultur nehmen muss, wenn irgend etwas mit dem unsäglichen Jammer dieser Zeit versöhnen kann, so ist es die Sturzwoge plötzlich erwachten Einheitsgeistes, die wenigstens die geschlossene Nation jetzt überflutet, so ist es der Sozialismus der Not, der hoch und gering plötzlich zu- sammenbindet, zwischen Landwirten und Gewerkschaften Bünde stiket, Generalkommando und sozialistische Partei zu hochach- tungsvoller Begrüssung bringt, Bürger als Soldaten, Soldaten als Bürger empfinden lässt und tausende von Existenzen, die bisher in gedankenlosem Egoismus sich selbst zu leben glaubten, mit ungeheurer Wucht in das Gesamtleben hineinschleudert, von dem sie ein Teil sind. Diese Kraft des Enthusiasmus ist unser Trost und zugleich unsere beste Hoffnung in dieser Zeit. Deshalb mag es man- chem gefährlich und falsch scheinen, irgendeiner Äusserung die- ses Enthusiasmus mit Zweifel und Kritik zu begegnen. Aber auch das muss sein; die Situation ist zu ernst, als dass man es sich ge- statten könnte, die Schönheit eines Gefühlsaufschwungs an sich zu geniessen: Heute muss alles nützen. Nur die Gefühle dürfen wir schätzen, die zu unbedingt möglichen Handlungen führen. Der Eifer ist gut, aber der „blinde Eifer schadet nur". 116 i Nach aussen scheint der grosse Eifer des deutschen Volkes im Augenblick sehend und sachlich zum Nützlichen gerichtet; der Heeresmechanismus funktioniert mit einfach wunderbarer Zweck- mässigkeit. Die Präzision unserer Mobilisierung, die Energie und mindestens ebenso die Vorsicht unserer ersten Schläge, die Knapp- heit und grösstmögliche Ehrlichkeit unserer offiziellen Meldungen — all das erfüllt mit schönstem Zutrauen: dies ist die Mischung von Besonnenheit und Eifer, auf die das Geschick den Erfolg als Preis zu setzen pflegt. Nicht gleich wohl gerichtet scheint bisher unser stürmischer Eifer im Innern. Dies aber ist eine sehr ernste Sache, denn mit viel Recht ist schon betont worden, dass dieser Krieg mindestens ebenso von der ökonomischen wie von der militärischen Dis- ziplin, Dispositionsfähigkeit und Ausdauer der Völker entschie- den werden wird. Die Engländer, denen der Welthandel offen bleibt, die Russen, deren unermessliche Länder noch in geschlos- sener Naturalwirtschaft wenigstens leben können, die Franzo- sen, die nicht entfernt in dem Grade wie wir ihre Wirtschaft industrialisiert haben, stehen vor einer viel leichteren Aufgabe als die Deutschen, die plötzlich vom Welthandel abgeschlossen, also mit einer zu vierfünftel stockenden Industrie, nahezu vierzig Millionen Menschen, die bisher von Handel, Handwerk, Gewerbe jeder Art lebten, ernähren sollen. Die Möglichkeit ist dazu nach unserer Nahrungsmittelbilanz und bei der ausgezeichneten Ernte des Jahres glücklicherweise gegeben! aber mit einer un- geahnt elementaren Gewalt fällt hier alles Gewicht auf das so- ziale Verteilungsproblem. Deutschland kann sich selbst er- nähren, wenn es gelingt, die vorhandenen Lebensmittel einiger- massen gleichmässig unter die vorhandenen Menschen zu ver- teilen. Was dem tiefer Blickenden immer offenbar war: dass der sozialgefühllose Wirtschaftsegoismus zugleich ein nationales Verbrechen ist, das wird im Licht der ernstesten Situation nun auch dem schwächsten Auge ingrimmig deutlich ! 117 Hier aber ist es, wo der Neulingseifer eben erst zu sozialem Bewusstsein Erweckter bedenklich dilettantische Formen an- nimmt. — Für die zurückgebliebenen Familien der Verheirate- ten unter den Soldaten im Feld scheint staatliche und private Bemühung noch am zureichendsten vorzusorgen. — Auch die Ernte, deren Einbringung durch die militärische Abberufung von vielen tausend Landarbeitern gefährdet schien, dürfte im gegenwärtigen Augenblick geborgen sein. Aber schon hier galt es für die wenigen Einsichtigen blindem Eifer kräftig zu brem- sen; denn es war nationalökonomisch mindestens so verwerf- lich als es privatim liebenswert war, wenn sich Schüler und Studenten unentgeltlich zu einer Arbeit drängten, für die tau- sende von brotlosen Industriearbeitern bereitstanden und die zu entlohnen der Grundbesitzer (als der wirtschaftlich am wenig- sten gefährdete Mann der Nation!) heute mindestens ebenso wie in Friedenszeiten verpflichtet sein müsste. — Nun aber die Le- bensmittel für die nächste Zeit gesichert scheinen, erhebt sich die schwerere Aufgabe, ihre rechte Verteilung zu sichern — d. h. einerseits für vernünftige Preissetzung und Organisation des Ver- kaufs zu sorgen — (hier haben die Staatsgewalten zumindest gute Anfänge gemacht!) — und andererseits die Einkaufskraft zu orga- nisieren, d. h. zu sorgen, dass jeder Mann und jede Frau ein Minimum von Arbeit, Verdienstmöglichkeit, Geld erhält. Es ist dies letzte Gebiet, auf dem der blinde Eifer am meisten Schaden tut. Schön ist es, wenn jeder jetzt im Dienste des Ganzen etwas wirken will — aber ein nationales Verbrechen ist es, wenn jetzt Rentnerexistenzen den Notleidenden Arbeit weg- nehmen und zu Bezahlendes unentgeltlich tun. Rentner- existenzen sind in diesem Sinne all die Unmündigen und die Frauen der oberen Stände, für die einstweilen noch gesorgt wäre, die aber Stellen an sich reissen, mit deren Ausfüllung viele be- reits brotlose Familien zu versorgen wären. Dass diese Kinder und Damen grösstenteils Neulinge der Arbeit überhaupt sind ii8 und deshalb ihre in einer (von allerlei Beimischungen der Eitel- keit keineswegs freien!) Wallung übernommenen Arbeiten meist sehr massig ausführen, kommt hinzu. So ist es doppelt unent- schuldbar, wenn sogar Behörden und grosse Organisationen aus diesem dilettantischen Zulauf einen kleinen und egoistischen Vorteil schlagen: dass die Post, statt nach Kräften Arbeitslose einzustellen, freiwillige Schüler beschäftigt, ist nicht Stoff für nette, rührende, patriotische Bildchen, sondern ein schwerer nationaler Schaden! Und dass das „Rote Kreuz", vom Andrang der plötzlich inflammierten Damenwelt übersättigt, gelernte Krankenpflegerinnen auf der Strasse stehen lässt, ist eine Schmach! („Unsere pflegenden Damen haben Anno 70 mehr Sol- daten umgebracht als die Franzosen," soll ein Generalarzt kürz- lich gesagt haben.) Es ist jetzt nicht Zeit, die Eitelkeit all dieser Strohfeuerenthu- siasten zu schonen; eherner Grundsatz soll sein: Arbeit nur für solche, die sie verstehen, und für solche, die sie brauchen. Es ist gemein, jetzt durch den Enthusiasmus begüter- ter Dilettanten Löhne sparen zu wollen! — Die Frauen aber werden mehr Gutes tun, wenn sie sich auf die Sicherung und Förderung ihres Hauses und all des Bedürftigen, das ihre nächste Umgebung ihnen doch weisen wird, konzentrieren. Die Schüler mögen lieber mit doppeltem Ernst ihre Lernarbeit aufnehmen — denn unserm Lande durch das Chaos der Kriegs- zeit hindurch eine kulturelle Kontinuität zu sichern: auch das ist eine nationale Tat! Wer im Sturm der Begeisterung hin und her läuft, mehrt nur die Gefahren der Verwirrung; wer fest auf seinem Platze steht, solange er kann, und aus dem Enthusiasmus nur doppelte Kraft für seine Arbeit zieht, der nutzt allen. Solange er kann — denn viele wird die bittere Not ohnedies zu einem Platzwechsel zwin- gen. Ich sprach von Handel und Industrie — aber es muss auch der mehreren Millionen Deutscher gedacht werden, die von 119 freien Berufen lebten und von denen eigentlich nur die Siaats- oder Kommunalbeamten (Lehrer, Pfarrer usw.) einstweilen ge- sichert sind. Die Ärzte werden freilich nicht weniger gebraucht aber weniger bezahlt werden; die Praxis der Anwälte muss mit dem allgemeinen Wirtschaftsleben einschrumpfen; und nun gar Schriftsteller und Künstler die Gesellschaft hört nicht gern davon, dass diese Leute, die sie vielleicht so nötig hat wie Bauern und Handwerker, auch essen müssen. Es ist aber so, und ihr Verdienst, die Kulturindustrie — die rauhe Zeit entschuldigt das rauhe Wort — ist als erste zusammengebrochen! Die- ser Mittelstand leidet ebensoviel Mangel wie das Proletariat — und ist vielfach schlechter dran, weil er keine organisierte Hilfe und mehr soziale Gene hat. — Die Not wird gross sein, um ihr zu steuern ist es wichtiger als Wohltätigkeitsfonds sam- meln, Arbeitsgelegenheiten schaffen und erhalten! So wenig Kündigungen als irgend möglich; und lieber Gehalts- reduktionen, Verteilung des verringerten Gagenetats an alle, als Entlassungen! Wenn ein Betrieb gar bei stürmischer Frequenz — wie die Berliner Strassenbahnen bei der Stadtbahnstockung! — den Betrieb nicht vermehrt sondern vermindert, so ist das so- zial ganz und gar unverantwortlich. Zuletzt freilich wird wohl doch — gut „sozialistisch" — der Staat eingreifen müssen, um Mittel — hoffentlich nicht für Almosen, sondern für Arbeitsgelegenheiten! — durch wich- tige Vermögenssteuern zu schaffen. Anders wird die Lebensmittel- verteilung, von der die nationale Selbsterhaltung im Augenblick abhängt, doch nicht durchzuführen sein. Bis dahin und dann möge der Rat der Weitsichligen allen Eifer zum Ziele lenken ! Keinen positiveren Abschluss könnte ich dieser Betrachtung ge- ben, als indem ich den Namen des Mannes hersetze, der in diesen Tagen den allersehendsten Eifer gezeigt und durch seinen Rat dem Lande nicht weniger genützt hat als ein siegreicher General. Es ist der Doktor Franz Oppenheimer in Berlin, der als erster 120 für die Arbeitslosen der Industrie die Ernte in Anspruch nahm, als erster vor dem Dilettantismus unbesoldeter Enthusiasten warnte, und der in so entscheidender Stunde dem Worte „prak- tische Nationalökonomie" ein ungeahnt starkes Leben gab! Mögen unsre Staatsleiter Einsicht genug haben, die wahrhaft ausserordentlichen Krake dieses Berliner Dozenten nach Gebühr zu nutzen. Das wird ein starkes Mittel sein, um allen Eiler sehend, alle Begeisterung nützlich zu machen. 121 Frank-Mannheim f (1914) Das mächtige Drama, das unter dem Titel „Deutschland* heute auf der Weltbühne agiert wird, scheint auch in den Ein- zelheiten des Dialogs mit tragischen Epigrammen von wuchtigster Schärfe gearbeitet zu werden. Dass der Zar als Beschützer des Fürstenmords und der französische Ministerpräsident als lang- jähriger Sozialistenführer die Kriegsfahne entrollten, das war gleich ein kräftiger Anfang. Nun steht auf der schon beklemmend langen Verlustliste des deutschen Heers zum erstenmal ein Name von nationaler Bedeutung, und dieser erste Gefallene, dessen Tod unmittelbar nicht nur den Kreis seiner persönlichen Freundschaft, sondern die deutsche Öffentlichkeit trifft, ist der Führer der jünge- ren deutschen Sozialdemokratie: Ludwig Frank aus Mannheim. * Sie haben jahrzehntelang gesagt, dass sie das neue Reich brin- gen. Sie haben sich mit mächtigen Reden anheischig gemacht, für den Weltfrieden zu bürgen. Sie haben, mit einem Blick auf die vier Millionen Wahlsiimmen und die mächtig wachsenden Gewerkschaften, das Versprechen abgegeben, am Tage der Kriegs- erklärung durch den Generalstreik in allen Ländern die Regie- rung matt zu setzen, die Heere aktionsunfähig zu machen. Da kam die Stunde — plötzlich, über Nacht war er da, der Krieg! — und wie Staub prasselte ihre ganze Herrlichkeit auseinander. Der Widerstand des einen Jaures war dem Zarismus immerhin noch einen Schuss Pulver wert — aber die andern Führer sitzen 122 heute in den französischen und belgischen Kampfministerien. In Deutschland wurden im ersten noch dunkeln Anfang einige harmlose Protestversammlungen in Berlin N abgehalten; dann bewilligten die einhundertelf sozialdemokratischen Reichsboten die Kriegskredite, der „Vorwärts" wurde auf den Bahnhöfen er- laubt — und der erste Deutsche ron überprivatem Ruf, der in diesem Feldzug fiel, war der Kriegsfreiwillige Frank-Mannheim. Blut, Blut war wieder einmal unendlich viel dicker gewesen als Hirnwasser. Und die Ideologie hatte auf dem Altar der Wirk- lichkeit ein furchtbar prächtiges Siihneopfer gebracht. Des Opfer- brands Rauch beisst uns in die Augen, dass sie übergehen. * Dieser Ludwig Frank war nicht ein sozialdemokratischer Partei-Obmann wie andere mehr. Dieser junge jüdische Anwalt mit der märchenhaften Lassalle-Ähnlichkeit war einer der ganz wenigen wirklichen Redner des Reichstags; er galt seit bald einem Jahrzehnt für das Haupt des Revisionistenflügels, und war bei Mannheims Arbeiterschaft in einem Grade persönlich beliebt, wie es ausser Bebel in Berlin und Vollmar in München vielleicht kein Führer sonst in seinem Stammort war. Er leitete die Politik der badischen Fraktion und stand in Magdeburg an der Spitze der Budgetbewilliger, die sich von der prinzipientreuen Majorität das Recht auf praktische politische Arbeit nicht nehmen lassen woll- ten. Wenn er sich nach Bebeis Tode zuweilen ein radikaleres Air gab, so war dies wohl nur, um jene allseitige Fühlung zu suchen, jene mittlere Stellung, die das künftige Parteioberhaupt braucht. Tatsächlich kam, dem Temperament und dem Talent nach, ausser Frank kaum jemand für die wirkliche und endgül- tige Nachfolge Bebeis in Frage. Und so hätte es ganz wenige Männer gegeben, die für die deutsche Entwicklung nach dem Krieg bedeutsamer gewesen wären. Kann nach dem gros- sen Schiffbruch der Prinzipien das Wrack der stärksten deutschen Oppositionspartei zwischen 123 der Scylla der weiterhin mpiustoten marxistischen Prinzipienreiterei und der Charybdis einer un- schädlich sozialisierenden Regierungspartei noch hindurchgesteuert werden? Das wird im Augenblick nach dem Krieg eine Lebensfrage der nationalen Kultur sein. Der Abgeordnete Frank-Mannheim, der sie am allerehesten hätte be- antworten können, liegt seit acht Tagen zu Baccarat bei Luneville mit zwei andern badischen Landwehrmännern in der Grube. * Es fehlt nicht an Stimmen ausser uns und in uns, die es wahn- sinnig, auch gerade im nationalen Sinne durchaus verwerflich nennen, ein Leben von so nationaler Bedeutung dem Zufall der Kugeln preiszugeben, grosse, vielleicht nur ihm vorbehaltene Auf- gaben liegen zu lassen, um einen Platz zu füllen, den Tausende und Millionen andere gerade so gut versehen hätten. Aber wer so spricht, hat doch die tragische Tiefe der Situation kaum in den Grund verfolgt. Hier gab es keinen Fehler und Irrtum, der zu vermeiden war: hier waltete Notwendigkeit. Wenn Natur- gewalten die Stunde regieren, wenn Blut der Massstab der Welt geworden ist, so liegt alles Entsetzliche, aber auch alles Grosse, kurz: alles Tragische darin, dass „die Vernunft aufhört", dass jede Möglichkeit, andere Werte in Rechnung zu stellen, aufhört! Dass der Krieg schon, wie sein ältester Sohn : der Tod, alle Men- schen gleichmacht: das ist seine schreckliche Grösse. Mit ihr ist nicht zu paktieren. Wer körperlich stark genug war und als Führer einer grossen Partei eben für äussersten Kraftaufwand zum Schutz des Vaterlandes gestimmt hatte, der hätte ohne Sinn für die Konsequenz der Stunde sein müssen, wenn er nicht selbst die Waffen ergriffen hätte. Die vier Millionen Wähler konnten es so gut von ihm verlangen, dass er nicht daheim blieb, wie die sechzig Millionen Deutschen von ihrem Kaiser. Frank hatte in gefährlicher Nähe einer Theorie gelebt, die lebendige Unter- schiede durch tote Prinzipien auszugleichen unternimmt — nun 124 ihm in düsterster Gestalt die Gewalt des Blutes begegnete, die wahrhaft gleichmacht, musste er zeugen. Mit seinem Blute zeu- gen. Und ward ein Blutzeuge. Der Tod Ludwig Franks ist aus dem Gedächtnis der deutschen Arbeiter noch weniger wegzu- bringen als der vierte August. Und der tote Frank wird in der Entwicklungsgeschichte der Sozialdemokratie vielleicht eine grössere Rolle spielen, als der lebendige das je vermocht hätte. Und das ist der tiefe versöhnende Sinn dieser Tragödie. * Dieser höchst ungewöhnliche Parteiführer hatte lebhaftes In- teresse für ein Buch über Bernard Shaw, worin ich der deutschen Sozialdemokratie eine Reihe sehr bitterer Meinungen gesagt habe. So wurden wir bekannt. Und Ludwig Frank aus Mannheim ist heute zugleich der erste persönliche Bekannte, den mir der Krieg geraubt hat. Darum darf ich auch noch davon sprechen, wieviel rein menschlich Verbundene an diesem gescheiten und liebens- würdigen, bescheidenen und heiteren, gebildeten und energischen Vierzigjährigen verlieren. Und deshalb darf ich jetzt, nachdem ich ohne mürrisch vernünftelnden Abstrich der Notwendigkeit dieses Schicksals gehuldigt habe, doch noch einmal heraus- schreien, wie entsetzlich, wie entsetzlich dies ist, dies eine unter abertausend wesensgleichen: da ging ein junger, starker, gesun- der Mensch auf der Höhe seines Lebens und glücklichen Wirkens in die Kaserne, drei Wochen trug er Kasernenluft und unge- wohnten Dienst mit Festigkeit und Laune, eines Tages ist Ab- marsch, ein paar tausend Mannheimer Arbeiter umdrängen den Wagen, werfen Blumen und rufen: „Frank wiederkommen!" — und achtundvierzig Stunden danach ist ein schöner Morgen, die Sonne scheint auf Tau, und durch helle Luft und Wind geht das Regiment in sein erstes Gefecht, eine Weile liegen sie im Schützengraben, dann ein Signal: Zum Angriff! sie springen vor, und seitwärts in der hohen Stirn, die so an Lassalle erinnerte, sitzt ein kaltes Stück Blei. 125 Friedensopfer (1914) Die von den Kugeln fallen, oder von den Krankheiten im Feld, die die Not daheim erdrückt — es sind noch nicht die emzigen Opfer, die der Krieg verlangt. Es gibt da noch eine kleine Gruppe von Existenzen, denen er das innere Wurzelwerk abgräbt, die er gleichsam von innen her in die Luft sprengt, die er aus einer Welt gehen heisst, für die sie nicht geschaffen sind. Man spricht von Opfern der „Kriegsangst" — aber „Angst" ist ein ins Ober- flächliche irreleitendes Wort für eine Seele, die, plötzlich aus allen ihren Zusammenhängen gelöst, ins Leere gleitet, und der „Krieg" ist am Ende nicht so sehr ihre Todesursache als der faule Friede, in dem sie vorher gelebt. Der „faule" Friede, der sie nicht etwa zu Soldaten bloss, sondern zu wollenden, glau- benden, in einem Überprivaten lebenden Menschen verdorben hatte. Sie sind Friedensopfer. — Und dabei sind sie die Schlech- testen nicht! Es gehört schon eine gesteigerte Empfindung dazu, um einen veränderten Luftdruck so unleidlich zu fühlen, und ein feinerer Sinn für des Lebens Gleichgewicht, um, seiner verlustig, nicht mehr leben zu wollen. Es waren die Schlechtesten nicht, die so starben: seltsam, in ihrer vordersten Reihe, sieht man ein paar Gesi( hter, die nur lachend bekannt waren. Ein deutscher Schauspieler, Viktor Arnold, vielleicht die zarteste und stärkste komische Begabung der jüngeren Generation, war einer der ersten, die dieser Krieg erwürgte. Eine Art Verlolgungswahn hrach mit Kriegsbeginn bei ihm aus und raubte ihm schliesslich das Leben. 136 Bei Viktor Arnold fiel auf ein sozial wohl wenig? geschultes Hirn, auf geschwächte Nerven und ein melancholisches Gemüt das grosse soziale Erdbeben mit so zerrüttender Macht, dass der Lebensnerv zerriss. — Auf ein melancholisches Gemüt — der „traurige Clown", dies elementare Paradoxon aller höheren Psy- chologie, wird vom Philister nie begriffen. Weil der nie in die Tiefen hinabfühlt, wo die Gegensätze sich bedingen — wo der Schmerz lacht und Lachen schmerzt. Er hält sich an Ausserlich- keiten und kann deshalb den Possenreisser, der mit losgelösten Lebenssymptomen jongliert, nicht unterscheiden vom komischen Künstler, der leidend die Schranken der Menschheit erlebt, in- nerlich die Hemmungen fühlt, deren Anblick von aussen so ko- misch ist! Solch ein Komiker, der sich aus dumpfer Bedrängnis seines Privatseins als Künstler ins Lachen rettet, war Viktor Arnold. Er war das älteste Mitglied des Reinhardischen Unternehmens. Als vor dreizehn Jahren einige abtrünnige Schauspieler Brahtns Unter den Linden ein „Kleines Theater" eröffneten, ein Kaba- rett, das die tolle Laune ihrer „Schall und Rauch"-Abende dem grossen Publikum vorführen sollte, da stand Arnold als ein ge- plagter Theaterdirektor und bald darauf als unvergesslicher „Serenissimus" auf den Brettern. Die strahlend selbstzufriedene und deshalb so liebenswürdige Dummheit dieses höchstgestellten Herrn brachte er mit so hoheitvullem Nackenschütteln, mit so grundlos entschiedenen Kopftönen zum Ausdruck, dass hier zum erstenmal die menschendarstellerische Eigenart eines besonderen Künstlers durchleuchtete. Indessen überwog bei Arnold doch noch längere Zeit der Eindruck einer bald scharf, bald komisch charakterisierenden Geschicklichkeit, und erst im letzten Jahr- fünft trat unter dem tüchtigen mimischen Handwerk stärker und stärker die künstlerische Persönlichkeit hervor, der Mensch, der uns wichtig und wert wurde. Da waren die köpf- und hirnwackelnden guten alten Greise 127 mit der endlosen Geschwätzigkeit, der trippelnden Betulichkeit. Sie wickelten uns ein, überspülten, ertränkten uns beinah mit dem endlos selbstgefälligen Schwall ihrer Worte — sie umkrei- sten, umflatterten, umhüpften das Niehts ihrer kleinen Existenz miteinem unaussprechlichen Vergnügen. Diedurchaus von selbst funktionierende Sprache verschaffte ihnen einen Wahn geistiger Betätigung, an dem sie sich ganz bescheidentlich berauschten. Polonius, der bei alldem doch ein liebevoller Vater und ein ehr- licher Diener seines Herrn war, stand an der Spitze der Schar; der kataraktgleich quasselnde Friedensrichter Schaal an ihrem Ende. Wie stolz war er auf seine schon verschimmelten Jugend- sünden, aufsein wohlsituiertes stumpfes Behagen, auf seine witzig gemeinten Albernheiten — dieser schale Schaal, der vergnügliche Philistergreis. Und das waren die anderen Geschöpfe Arnolds: die Philister- männchen. Mit rausgesteckter Brust, gestrafften Muskeln, un- proportioniert schneidigem Ruck und selbstbewusstem Kräh- laut: der ganze Kerl eine Phrase auf zwei Beinen, ein ungeheu- res und ungeheuer unbegründetes Selbstgefühl. Ein behauptetes Heldentum, das sich in dem dickbreiten kleinen Körper, im dün- nen Stimmchen, in der gelegentlichen Verwirrung des Blicks immerfort als blosse schlechte Angewohnheit dementierte. Schon im sanft unbescheidenen Wagner Fausts, der es „so herrlich weit gebracht hatte", war der Keim davon; Sternheims üppig blü- hender Philister, der ganz „Maske" war, bildete das Zentrum dieser Schar. Der sentimentalisch säuselnde, selig seine unter- grundlosen Gefühlchen pflegende Wolke aus „Bürger Schippel* war eine Spielart, und noch der brave verlegene Handwerks- mann, der im „Sommernachtstraum" mit ängstlicher Hast und doch ein wenig stolz die „Tipse" agierte, war aus dieser Familie. Aber in ihrer rührenden Dummheit, ihrer ängstlichen Ver- legenheit, warThisbe auch schon aus einer anderen Rasse. Und da waren die kleinen gedrückten verschüchterten Kreaturen Ar- ia8 nolds, die anspruchslosen Kleinbürger, über deren hilflose Ver- suche „Haltung" zu beAvahren man Avohl lächelte — deren arme gehetzte Existenz aber vor allem rührend wirkte. Da war der George Dandin, der geprellte Ehemann, über den Moliere alle lachen lässt, und über den Arnold uns weinen machte. Da war Androklus, das rührende, sanfte, drollig schüchterne Schnei- derlein Shaws, aus dessen Mund — als sie mit Peitschen gegen Menschen angehen — eine Kraft der Verzweiflung, ein Schrei, ein Toben fuhr, dass wir in der Tiefe erbebten. All dies war in dem kleinen breitnackigen Mann — und wenn man tiefer hineinsah, war all das eines — eines gab er mit die- sen ruckig zielunsicheren Bewegungen, dieser überhellen, dünn schwankenden Stimme, diesem unsicher suchenden Blick: be- drängte, schwache Kreatur — den Menschen, der seine Schwäche drollig maikiert, läppisch verrät, demütig trägt, verzweifelt her- ausschreit — den „kleinen" Mann. Sein Leben liebte, fühlte, gestaltete Arnold — er war der Unheldenspieler par excel- lence. Sollen wir uns wundern, dass diese aufs äusserste ge- spannte Heldenzeit ihn erschlagen hat? Aber sollen wir nicht trauern, dass soviel schmerzlich lächelndes Gefühl, so tief spü- rende Menschengüte, so grosser Sinn für das kleinste Leben im rauhen Sturm dieser Tage zusammenbrach ? * Und dann starb Gustav Wied, der Däne, der über alle und alles zu lachen gewohnt war; dem der Mensch vom Tier sich wirklich nur durch sein „Getue" unterschied, der die „Idiotie des Sichernstnehmens" mit unerschöpflicher Virtuosität verhöhnte. Raffiniert und sehr amüsant war er im Aufdecken von höherem Schwindel jeder Art — ; aber auf der Kehrseite seiner Medaille stand freilich auch nicht viel mehr als ein gutgepflegtes Tier: ein Bohemien mit Nacktkultur. — „Wollen" war Unsinn! Aber plötzlich klaffte der Boden der Zeit in furchtbaren Rissen des Willens auf — und der lachende Bohemien versank im Abgrund. 9 B ab, Erwachen zur Politik I29 Wied war ein sehr begabter, zuletzt auch ein sehr bekannter Mann — zu einer europäischen Berühmtheit langte es nicht ganz. Dazu fehke es dem porzellanglatten, graziös giftigen Witz de& Dänen doch an Schwere, an Leidenschaft, an Grösse des Zorns, Er war ein kleiner Materialist, dieser Wied; innig überzeugt, dass der Mensch nichts ist, als was er isst, und voll verächtlichen, scharfäugigen Hohns für alle jene in grossartige Redensarten ge- hüllten Selbstlinge, denen 2X2 = 5 ist, wenn sie es so bequemer haben. Nur dass er nie so recht herausrückte mit der Wahrheit, die ihm nun der Unbequemlichkeiten wert schien, und dass all seine positiv gemeinten Figuren deshalb meist platt und nichts- sagend wurden. Nur Kmder und kindliche Greise gelangen, dort wo er liebte, seinem im Grunde idyllischen Temperament. Sicher hatte er in seiner boshaften Haut ein grundgütiges Herz stecken — gerade wie seine Lieblingsfigur, der Zöllner Knagsted, die ^leibhaftige Bosheit" es hat. Aber in seinem bewussten Gtist war kein Glaube, kein Wissen um den Sinn und die Sendung der Güte auf dieser Welt. Er war in aller Feinheit seiner Sinne ein oberflächlicher Kopf — und deshalb einem so grundumwühlen- den, schrecklich grossen Ereignis, wie dieses Jahr es über die Welt gebracht hat, nicht gewachsen. Wie jeder Materialist, jeder blosse Spötter stand er zuletzt hilflos vor dem Elementaren. Er hatte nicht die Leidenschaft, die den Krieg will — und auch jene seltenere nicht, die gegen den Krieg will. Er verstand in seinem spöttischen Alltagssinn die Welt nicht mehr, in der soviel — ganz offenbar wider die Bequemlichkeit! — gewollt wurde. Es ist indiskret und unnötig, die besonderen Wege nachzuspüren, auf denen diese Grundverwirrung den Dichter Wied zum Freitod trieb. Die Grundtatsache, dass diese wildgläubige Zeit den ganz ungläubigen Spötter zu traurigem Ende führen musste, sie ist klar und erschütternd genug. i3o Wäre vielleicht doch etwas Wahres am Bibelwort, dass man nicht auf der Bank der Spötter sitzen solle? Wobei freilich der Gegensatz zum „Spötter" nicht der immer Gravitätische wäre, sondern der immer Strebende, der zum ernsten Ziel (vielleicht auch mit Hohn und Witz) Gewaffnete. Wie denn der zweifellose, der unüberhörbare Befehl der Zeit auch noch nicht so sehr lautet, Säbel und Gewehr — als einen Willen fassen! einen Glauben als Gewalt wider die Gewalten draussen werfen! — Partei haben auch im grossen, inneren Weltenkriege: Religioo haben. — Heut lässt sich nicht mehr ohne Religion leben — oder doch nur von den Stumpfsinnigsten. Das ist das Fazit. Lessing sagt: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.* Vielleicht glauben wir nicht mehr wie Lessing an „den" Menschenverstand; aber dann gilt, dass es für jede besondere und von begrenztem Verstände organisierte Persönlichkeit bestimmte Dinge gibt, die so an die Wurzel ihres Seins greifen, dass der Mensch seinen Verstand verlieren muss. Der Krieg, der plötzliche Aufbruch der Welt zu Entscheidungen von vernunftlos grosser Leidenschaft, war für ein Geschlecht zartbesaiteter, leicht lachender, stets witziger Ma- terialisten solch ein Ding. In ihrem Abgang liegt eine noble Kon- sequenz, die dem hastigen und fragwürdigen Kompromiss so mancher Wesensgleicher gegenüber fast wie Grösse wirkt. Sie waren die Schlechtesten nicht — aber auch nicht die Besten, — Denn das sind jene, die „dem Schicksal gewachsen" sind. i3s An Verhaeren (1914) Lieber und bewunderter Meister — denn das werden Sie für mich bleiben. Es ist mir nicht möglich, mein menschliches Teil mit allem, was es Ihnen verdankt, im National gefühl zu ersticken. Aber wiederum ist mein Gefühl nationaler Zugehörigkeit mit der Sprache, die ich spreche, der Luft, die ich atme, dem Brot, das ich esse, ein zu unlöslicher und wesentlicher Teil meines Mensch- seins, als dass mich nicht tief betrüben sollte, was Sie jetzt getan haben. Hören Sie nun nicht in feindlicher Gereiztheit sogleich hinweg, Sie grosser Dichter, den ich meinen Freund nennen zu dürfen glaubte. Ich will ja nicht als Landesfeind zu Ihnen spre- chen, sondern als Mitmensch. Ich will Sie ja nicht anklagen — nur klagen will ich! Klagen über den Zusammenbruch nun auch dieser hohen und stolzen Brücke, die mich deutschen Menschen noch hinüber zum Leben anderer Menschheit zu tragen schien! Klagen — es mag unkriegerisch, unmännlich gescholten werden, in dieser Zeit zu klagen, und irgendeinen Angriff anders als mit Gegenangriff zu beantworten. Aber was haben all diese wechsel- seiligen Anklagen bisher geholfen, diese Verlästerungen, Verur- teilungen, tiefern Verfeindungen? Sollten die Walter geistigen Gutes nicht lieber bedenken, dass sie nicht da sind, mitzuhassen — dass sie ihres Amtes so treu wie der Soldat seines tötenden Berufs walten, wenn sie zu versteben trachten? Wenn sie nicht blinden Hass durch blindem vergelten. „Und hört der Krieg im Kriege nicht schon auf — wie soll er enden?" So will ich nicht Sie anklagen, sondern klagen über die Zeit, die selbst einen Mann wie Sie so führen musste. Musste? Ich will es glauben, denn wenn dieser Verwirrung nicht das gütigste Herz, der menschlichste Sinn, die kühnste Phantasie trotzen konnte — wer kann es dann? Wie lange ist es her, dass ich Sie mit ein paar huldigenden Worten dem Kreise Ihrer Bewunderer in der deutschen Hauptstadt vorstellen durfte? Und wieviele grosse Städte Deutschlands gibt es, in denen ich nicht während der letzten Jahre mit bedeutenden Vortrag^künst- lern im Bunde für Ihre grosse Kunst, für Ihr stolzes Gesicht von der neuen Menschheit geworben habe? Immer betonte ich, wie nach Ihrem eignen Wort Ihr flandrisches Wesen in die Mitte gestellt sei „zwischen dem feurigen Frankreich und dem schwe- ren Deutschland", und wohl immer liess ich viele Deutsche zu- rück, denen Ihr Name — dieser niederdeutsche Name, den kein Franzose auszusprechen vermag! — fortan Siegel eines hohen Erlebnisses geblieben ist. Zwei Jahre erst ist es her, dass ich über Brügge und Brüssel und das Monser Kohlenland zu Ihnen kam. Sie wohnten dicht an der Grenze nach Frankreich zu, wir spra- chen von Arras, Ihrer nächsten Stadt, und wir genossen den köstlichen Frieden Ihres kleinen einsamen Hauses im Walde. Über all dies Land sind nun seit Monaten die Granaten geflogen, und es verging wohl kein Tag, wo ich nicht angstvoll Ihrer ge- dachte. Ich dachte an Sie, als das Volk, dessen üppige Kraft Sie so oft gepriesen hatten, als die „race tenace" in furchtbarem Mord gegen die Soldaten meines Volkes sich erhob — und weil ich an Sie dachte, konnte ich verstehen, wie starkes Blut in verführender Stunde, just weil es stark ist, entsetzliche Wege führt, und ich fluchte nicht. Jeden Tag dachte ich an Sie, an so vieles, was da um Sie und in Ihnen zerstört werden musste; ich hörte nichts von Ihnen, und ich freute mich Ihres Schweigens, das mir Zeichen einer grossen und würdigen Trauer schien. Aber nun haben Sie doch gesprochen. Deutsche Zeitungen i33 bringen einen Artikel: „Verhaeren verleumdet". Und da ste- hen Verse, Verse, die mit Ihrem alten, grossen wilden Schwung den — „germanischen Sadismus" schildern, die „abgeschnittenen Kinderfüsse" in der Tasche der deutschen Soldaten! Musste es nun doch sein? Sie dürfen der Eile eines Zeitungsschreibers das Wort „Verleumdung" nicht verübeln. Freilich ist der Verleum- der ein Mensch, der unwahre Dinge wissentlich und eigennützig verbreitet. Aber so gewiss, wie ich glaube, dass die Dinge, für deren Verbreitung Sie hier wirken, unwahr sind, so gewiss glaube ich, dass Sie daran glauben, dass Sie ihre Verkündung sogar für heilige Pflicht halten und manch privaten Vorteil an Freundschaft und Beziehung bewusst dieser Pflicht aufopfern. Nimmermehr steht mir Ihre Moralität in Frage — ich klage nicht an. Aber tief, tief beklage ich die mangelnde Kraft, mit menschlicher Ein- sicht den Dunst nationaler Verhetzung zu durchdringen — den Dunst, dem offenbar nun auch Sie erliegen mussten! Ja, Sie konnten im Dunstkreis Ihrer französisch-englischen Informationen nichts davon wissen, dass die deutsche Nation, in einen Existenzkampf gedrängt, eine Neutralität brechen musste, die, wie jetzt am Tage ist, von der andern Seite längst gebrochen war. Konnten nichts wissen von den schrecklichen Taten des belgischen Volkes, die unseren Soldaten zu verzweifelter Abwehr zwangen. Aber konnte nicht, wirklich nicht, ohne alles Wissen Ihr Gefühl, Ihr Dichtergefühl für menschliches Wesen Sie davor bewahren, einem ganzen Volk, das in Waffen geht, Schändung, Meuchelmord, Sadismus nachzusagen? Mussten Sie so alles glau- ben, was man Ihnen gewiss tausendfach zutiug? Kannten Sie, Dichter, nicht die gigantische, pestartige Kraft des Gerüchts, der unwahren Ausstreuung? Und wenn — das wird niemand einfach abschwören können — einige Einzelheiten, wie Sie sie schildern, wirklich vorgekommen sind: wissen Sie nicht, dass es in jedem Millionenheer ein paar Verbrechernaturen geben muss? Dass auch im deutschen Heer (das schon Bestrafte nicht aufnimmt!) i34 der Schrecken des Krieges in einigen Einzelnen grässliche In- stinkte entbinden muss? ündwarum, Dichter, Anwalt der Mensch- heit, wandten Sie Ihren Zorn nicht gegen den Krieg und die Welt des Krieges, die solche Abscheulichkeiten bei allen Kriegführen- den vereinzelt erzeugen müssen? Warum, warum mussten Sie An- walt einer Partei werden, ein Anwalt, der mit gehässig advoka- torischer Verallgemeinerung aus vier Millionen deutscher Men- schen eine Horde wahnsinniger Mörder macht?! Parteileiden- schaft war selbst in Ihnen stärker als Menschlichkeit; das ist es, was ich beklage. Ich klage die übermächtige Verwirrungskraft dieser Kriegsluft an, nicht Sie. Aber nun kommt wohl wieder die Antwort: „Was willst du? Du bist nicht gemeint! Ich weiss das geistige Deutschland vom militärischen zu trennen! Nein, ich habe nicht vergessen, wie ihr, du und tausend Deutsche, die hohen Menschlichkeiten, die ich euch gab, zu würdigen wusstet! Nicht ihr seid gemeint, son- dern der Militarismus, der euch wie uns bedrückt!" Vielleicht steht so ein Kompliment an das Volk Goethes und Beethovens sogar im ersten, hier noch nicht bekannten Teil Ihres Gedichts. Aber verzeihen Sie: wir können diese gütige Ausnahme nicht gelten lassen. So gewiss, wie Sie mit rechtem Stolz darauf be- stehen würden, ein Flame zu sein, wenn ich alle Belgier als ein Volk von Mördern verfluchen wollte — so gewiss will ich Volks- genosse, Blutsbruder und Schicksalsgefährte all der Landsturm- leute, der bitter entschlossenen Familienväter und todbereiten Knaben sein, die Sie Hunnen und germanische Sadisten nennen. Es ist die Gemeinschaft dieser Menschen, aus denen unser Geist wuchs. Elend und gemein wäre es, wollien wir jetzt in der Mei- nung und im Schicksal der Welt ein ander Los als sie! Nichts steht heute für Deutschland im Feld als der Menschenschlag, dessen nur im Bewusstseinsgrad fortgeschrittenere Repräsentan- ten Sie und Ihre Kunst in Berlin begrüssten! Es ist wahr: wir haben oft bisher einen Gegensatz zwischen deutscher Kultur und i35 deutschem Militarismus empfunden — aber nur so, wie alle Völ- ker eine Kluft zwischen ihrer Machtorganisation und ihrer besten Sehnsucht empfinden. Nun hat die Machtorganisation aller Völ- ker zu einem Krieg geführt, der Deutschland zwingt, nicht zu sein oder seinen ganzen vollen Menschengebalt in dieses Heer hineinziitun. Gleichviel, von wem und wie dieses Heer geschaf- fen wurde : heute ist das ganze deutsche Volk im Heere — in dem Heere, dem Sie andichten, „germanischen Sadismus" durch die Welt zu tragen. Dichter Verhaeren: ein paar Stunden, nachdem ich diese schrecklichen Strophen gelesen hatte, kam zu mir herauf der Portier des Hauses, in dem ich wohne. Ein Landwehrmann, Dichter Verhaeren, der schon drei Monate Innendienst getan hat, jetzt zur Front muss und vorher einen Tag Urlaub hatte, seine Frau, seine drei Kinder noch einmal zu sehen. Er sagte mir Le- bewohl, sprach ein Wort von seinen Kindern, drehte sich um und weinte nicht. Als er gegangen war, flammten mir diese ab- scheulichen Verse von den abgeschnittenen Kinderfüssen, die unsere deutschen Soldaten charakterisieren sollen, durchs Hirn. Eine Minute empfand ich brennende Scham für Sie, Dichter Verhaeren. Bin ich doch in den Ton der Anklage gekommen? Ich wollte es nicht. Ich muss schon glauben, dass niemand der giftigen Luft blendenden Hasses widerstehen kann — niemand, wenn es dies grosse Herz nicht konnte. Ich will nicht authören, an die Schönheit und Kraft Verhaerenschen Dichtens und Wollens zu glauben. Aber doch werde ich nun fremd in seinem Hause sein — mitmeinen deutschen Schicksalsgefährten hat mich Veihaeren ausgewiesen aus seinem Herzen. Ich „klage nur das bittere Schick- sal an und wiederhole nur: auch Sie, auch Sie!" i36 Deutschlands „Ausländerei" (1914) Bei Leuten von einfacherer Gemütsart ist und bleibt die Kur des Dr. Eisenbart weitaus die beliebteste Methode. Sie besteht bekanntlich darin, dass man bei Zahnschmerzen den faulen Zahn mit der Pistole herausschiesst, und ganz bestimmt bekommt dann der Patient nie mehr Zahnschmerzen. Alle Übel des Lebens wer- den mit dem Leben zugleich wirklich beseitigt. Aber als Ziel der Heilkunst kann solch Verfahren doch nicht gut erscheinen. Gleich- wohl wird es immer wieder angewendet, und nicht nur in bezug auf Individuen, sondern auch auf Völker. Da ist z. B. die Judenfrage. Das jüdische Problem besteht darin, dass die ausserordentliche Leistung der Juden in der Welt, ihr ganzer Charakter, ihr Daseinsrecht davon stammt, dass sie das Beispiel einer Menschengemeinschaft gegeben haben, die sich ohne staatliche Organisation, durch rein geistige Bande Jahrtau- sende hindurch behauptet hat; selbstverständlich unter grossen Opfern und Leiden. Aber diese Opfer und Leiden, diese Schwie- rigkeiten des Juden in der Welt will nun die Bewegung des Zionismus dadurch beseitigen, dass sie den „Judenstaat" pro- klamiert, also das charakteristische Wesen, den Sinn, die Eigen- art, die geistige Existenz der Judenheit aufhebt. Das reinlichste Beispiel einer politischen Eisenbartkur! Nicht ganz so deutlich, aber doch ähnlich genug, kommt das Eisenbartverfahren wieder in jener Politik, die man mit einer unmöglichen Begriffszusammenstellung „deutscher Chauvinis- 13: mus" nennen muss, und die den Deutschen die „ Ausländerei " abgewöhnen will. Wer nämlich für ein Volk eifert, der tut es doch wohl, um sein Wesen, um alles, was dies Volk im Laufe der Geschichte grossgemacht, vor allen ausgezeichnet hat, zu er- halten, zu fördern, zu bewahren. Es ist aber nicht sehr schwer zu zeigen, dass zum eigensten Wesen, zur höchsten Leistungs- fähigkeit des deutschen Menschen viele der Qualitäten gehören, die der Chauvinist ihm als Ausländerei anrechnet. Alles, was dem deutschen Namen bisher Glanz gegeben hat, hängt mit der Fähigkeit zusammen, das Seelenleben anderer Völker freier, duld- samer zu verstehen, als Engländer, Franzosen oder Russen es vermögen — und mit der auf dieser Fähigkeit gebauten Kraft übernationale, menschheitliche Gefühle zu ergreifen, zu verfolgen. Von zwei ganz grossen Leistungen lebt der deutsche Ruhm in der W^elt: zweimal hat Deutschland die Welt beherrscht und allen anderen Völkern vorangeleuchtet: Einmal im Mittelalter, als die Deutschen es waren, die die grosse Idee dieser Epoche, die Idee des im christlichen Glauben geeinten Weltreiches, des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" ergriffen und mehr als drei Jahrhunderte lang auf ihren Schultern trugen, Dass nicht die Fürsten in Frankreich, England oder Italien, son- dern der deutsche König es war, der die römische Krone auf sein Haupt setzte, das kam über allen geschichtlichen Zufall hinweg aus dem innersten Wesen des deutschen, vom grössten Gedanken der Zeit entflammten Menschen heraus. Die Hingabe an die grösste politische, die überpolitische Idee des Zeitalters hat die Deutschen damals, zur Rlütezeit des echten Mittelalters, tatsächlich zu „Her- ren und Richtern unter den Völkern" gemacht. Der Idee nach, und unter Herrschern, wie der dritte und der sechste Heinrich es waren, auch fast der Tatsache nach, waren alle Fürsten Euro- pas Vasallen des römischen Kaisers deutscher Nation. Die deutsche Kultur, die damals erblühte, hat zwar ihre Grundform von den Franzosen erhalten, die auf ihrem Boden in ganz anderer Menge i38 Reste der antiken Kultur vorfanden, und gerade wegen dieser Mischung im Mittelalter politisch schwach und zivilisatorisch führend waren. Aber die Leidenschaft, mit der die Deutschen, die in ihrer politischen Macht doch den eigensten Gedanken des Mittelalters verkörperten, dann in Literatur, bildender Kunst, Theologie usw. die französischen Formen aufnahmen und neu schufen, hat der ersten grossen deutschen Epoche doch auch un- vergängliche eigene Geislesdenkmäler geschaffen. Weil die deutsche Kraft sich so innig der mittelalterlichen Idee verbunden hatte, musste das Ende des Mittelalters, der christlichen Einheitsidee, freilich auch die deutsche Volkskraft viel schwerer treffen als andere Völker. Je mehr der Name des römischen Kaisers blosser Schall wurde, desto mehr schwand auch Einfluss und Ansehen des deutschen Königs dahin, während Staatswesen wie England und Frankreich, die nur im loseren Zusammenhang mit der mittelalterlichen Idee gestanden hatten, nun, von jeder Fessel befreit, mächtig emporblühten. Aber die grosse, weltgeschichtliche Leistung der Deutschen war es auch hier, dass sie die Menschheitsaufgabe, die Errichtung des neuen Weltideals, wieder auf sich nahmen : die deutsche Re- formation beendigt das Mittelalter, aber sie beginnt auch eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte; sie ist nach dem Scheitern des mittelalterlichen, des katholischen Einheitsideals der erste Schritt auf der Suche nach einer neuen, vom freien Ge- wissen der Individuen gerechtfertigten Menschheit. Und während Deutschland nun in den Kämpfen um dieses neue Glaubensideal all seine Kraft zusetzt, während das herrschende Reich des Mit- telalters wirtschaftlich arm, politisch nichtig vor den Völkern wurde, da wuchs im Innern Deutschlands zum zweitenmal die Kraft, die durch die reinste Verkörperung aller Menschheitsideen Deutschland zur Führerschaft in der Welt bestimmte. Mitten in dem armen und verachteten Deutschland entstand die klassische Literatur, der deutsche „Idealismus", schlugen Kant und Goethe i39 die Entscheidungsschlachten für die neue, von der Reformation begonnene Menschheitsidee. Und das „Volk der Dichter und Denker" ward unentbehrhch und führend für alles geistige Stre- ben, alles sittliche Wollen in der ganzen Welt, weil es den Kul- turbesitz aller anderen Nationen aufgenommen, verarbeitet und mit deutscher Glut weltgemäss umgeschaffen hatte! Nun ist gewiss nicht zu leugnen, dass diese genialste Fähigkeit der Deutschen, diese Fähigkeit zu übernationalem, wellumspan- nendem Denken und Handeln, so wie jede grosse Kralt einer Per- son oder einer Nation, ihre Schattenseiten, ihre Gefahren und Schwächen bedingt. Die nationale Existenz des Volkes, seine po- litische Sicherheit und Kraft bleibt die Grundlage auch für seine übernationalen, seine menschheitlichen Leistungen. Wie Deutsch- land seine erste, glänzende Weltstellung, seine Verkörperung der mittelalterlichen Mensch hei tsidee schliesslich fast mit seiner na- tionalen Existenz bezahlen musste, habe ich ja schon erwähnt. Und Heinrich der Löwe, der glänzende Kolonisator der Ostmark, der der italienischen Weltpolitik seines kaiserlichen Freundes Friedrich Barbarossa widerstrebte, ist nur für sentimentale Poe- ten schlechthin ein treuloser Vasall — in Wirklichkeit ist er der erste deutsche Staatsmann, der bewusst Nationalpolitik statt Welt- politik treiben wollte und damit — freilich vergeblich — an der Schaffung eines höchst notwendigen Gegengewichts arbeitete. Solch ein Gegengewicht ist dann in den Zeiten der deutschen Ileichsauflösung durch das dynastische Staatsgefühl, vor allen Dingen der Hohenzollern, geschaffen worden; aus dem partiku- laren Selbstbewusstsein einzelner deutscher Staaten ist später ein neues deutsches Selbstgefühl geschmolzen worden — in je- nen wundervollen Frühlingstagen von i8i3, die vielleicht des- halb der grösste Augenblick der deutschen Geschichte sind, weil hier menschheitlicher Idealismus und nationales Selbstgefühl im schönsten Gleichgewicht, in lebendigster Verbindung waren! Wenn dann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die deut- 140 sehe Einheit ein mächtiges Anschwellen des reinen NationaIj;e- fühls gehracht hat, so wollen wir doch nicht vergessen, dass der berechtigte Stolz auf Deutschland, der Anspruch Deutschlands, unter den Völkern zu glänzen, immer auf die grossen weltgeschichtlichen Leistungen zurückführt, die gerade den übernationalen Zug des Deutschen zur Voraussetzung haben: seine Fähigkeit, fremdländisches Wesen zu verstehen und mit dem eigenen zu einem höheren Menschheitsbegriff zu verschmelzen. Nun sind wir ganz gewiss heute in einer Situation, die zu aller- erst Pflege des politischen Selbstgefühls verlangt. Aber ich glaube, dass gerade auf politischem Gebiet eine jahrhundertlange Schule der Deutschen Selbstbewusstsein stark genug gemacht hat. Eher wäre ihnen auf dem Gebiet der äusseren Kultur, wo der Hut und der Witz aus Paris, der Rock und die Verbeugung aus London noch immer als Vorbild galten, ein gesteigertes Selbstgefühl zu wünschen; und auch unsere innere Kultur ist unter der Herr- schaft des humanistischen Gymnasiums, das mit seinem antiki- sierenden auch einen romantischen Geschmack lehrt, so ent- wickelt, dass sie noch viel mehr Selbstgefühl vertragen könnte. Wenn etwa unsere Kunstbegriffe statt an Raffael und Correggio an Grünewald und Eembrandt gebildet wüiden, so wäre dies ein sehr berechtigter Forlschritt nationalen Selbstgefühls. Denn hier gibt es deutsche, germanische Leistungen, die, wenn nicht höher als die anderer Völker, so doch die überhaupt höchst möglichen sind — so dass es unser gutes Recht ist, Gott und Welt in dieser uns am meisten gemässen Sprache zu loben. Dagegen kann es niemals deutsch sein, ein schlechtes deutsches Bild, nur weil es deutsch ist, besser zu finden, als ein vortreffliches französisches. Oder einen Flachkopf, nur weil er in deutscher Sprache schreibt, höher als einen russischen Denker zu stellen. Dergleichen zutun entspricht allerdings dem eingewurzelten Hochmut englischen, der leidenschaftlichen Beschränktheit französischen Wesens. Es ist i4i aber ganz und gar undeutsch, weil die grosse spezifisch deut- sche Leistung eben immer in der grossen Sachlichkeit bestanden hat, in der Fähigkeit, Dinge, Menschen und Taten nach ihrem allgemeinen, inneren Wert, unbekümmert um ihre nationale Herkunft, abzuschätzen. Nicht trotz der heutigen, gerade wegen der heutigen Situation muss man jeden Angriff auf diese deutsche Grundtugend abwehren. Wer uns rät, die Borniertheilen unserer Feinde dadurch zu vergelten, dass auch wir in kulturellen Din- gen nicht den sachlichen Wert, sondern die nationale Herkunft entscheiden lassen, dass wir die „Ausländerei" ausrotten sollen, indem wir nicht mehr die beste, sondern nur noch die deutsche Leistung suchen und anerkennen, auch auf Gebieten, wo nicht (wie auf erfreulich vielen anderen!) die deutsche Leistung tat- sächlich die beste ist — der rät uns zu einer rechten Eisen- bartkur! Es hiesse das deutsche Volk seiner edelsten Kraft, seiner ranggebenden Tugenden in der Welt, ja seiner innersten geistigen Existenz berauben, wollte man es seiner Neigung, mit sachlicher Treue übernationale, menschheitliche Werte zu emp- finden und zu ehren, abwendig machen. 142 Shakespeare und der Krieg! (i9i5) Man kann dies Thema, nach dem berühmten Beispiel, das Lessing in der Behandlung der Akademieaufgabe „Pope ein Me- taphysiker!" gab, überhaupt nur mit einem ironischen Aus- rutungszeichen behandeln. Was kann in der deutschen Sprache, die seit vielen Generationen den Shakespeare und seine geistige Lebensbezwingung als allerköstlichsten Kulturbesitz hegt — was kann in deutscher Sprache für ein diskutierbarer Zusammenhang ausgedrückt werden zwischen diesem geistigen Phänomen Sha- kespeare und der grossen Weltkatastrophe, in der sich mit scharfen Messern und giftigen Gasen, mit Bomben aus der Luft und Minen aus der Erde die Menschen zerfleischen ? — Aber da kommt nun der gebildete Philister, der am Oberflächlichsten der Oberfläche haftet, und erinnert sich, dass diese grosse Shakespearesche Geistes- welt zum Verfasser einen, geschichtlich nicht sehr bekannten. Mann haben soll, der vor dreihundert und etlichen Jahren in England lebte; und da wir heute mit England im Kriege stehen, so erhebt dieser geistlose Verstand die Frage, ob nun Shakespeare- sche Dramen auf deutschen Bühnen gespielt werden dürfen?! Des- halb also „Shakespeare und der Krieg" — ! Es ist nicht gerade rühmlich zu verzeichnen, dass die Direktion des „Deutschen Theaters" in Berlin, in dem viele noch die füh- rende deutsche Bühne sehen möchten, von diesem Philistergeist wenn nicht erfüllt, doch so verängstigt ist, dass sie ihren Haus- dichter Shakespeare, der im vergangenen Jahre nahezu allein 143 alle Abende des Theaters füllte, nicht zu spielen wagt, ohne sich vorher durch eine Enquete bei einem Dutzend deutscher Be- rühmtheiten attestieren zu lassen, dass dies eine erlaubte Hand- lungsweise sei. Ausser etlichen Professoren hat man sogar zwei Reichskanzler, den vorigen und den gegenwärtigen, in dieser Sache bemüht. Dass alle diese Herren sich dafür aussprachen, dass man Shakespeare spielen sollte, ist ja selbstverständlich; dass einige es mit einer Kürze taten, die nach dem Arger über die unvernünftige Frage schmeckte, ist erfreulich — dass aber andere diese Selbstverständlichkeit feierlich begründen zu müssen glaubten, das ist bedauerlich. Bedauerlich, denn jeder Versuch, eine Angelegenheit der gei- stigen Menschheit vor dem Forum des nationalen Gegensatzes zu judizieren, ist an sich verwerflich. Genau so verwerflich, wie die Umkehrung: die Verhandlung kriegerischer Notstandsfragen vor dem Forum der künstlerischen Kultur. Hier herrscht in den meisten Köpfen noch eine bedauerliche Unklarheit. Die Frage, ob deutsche Bühnen Shakespeare spielen „sollen", und die Frage, ob deutsche Kanonen auf die Kathedrale von Reims schiessen „durften" — sind ungefähr gleich dumm, sie beruhen auf der gleichen Verwischung der Denkgebiete. Religion, Kunst, Wissen- schaft, kurz die Geistesdinge des Kulturlebens, sind Menschheits- angelegenheiten, sind ihrer völkerverbindenden, körperlosen, rasselosen Natur nach der unteilbare Besitz aller. Staaten und Völker, Heere und Kanonen, das Körpersubstrat, aus dem jene schwerelose Seelenwelt aufwächst, sind ihrer Natur nach zu Kampf und Streit geschaffen. Sie stehen unter dem Gesetz feind- licher Abschliessung wie jene unter dem verbindenden Mitge- fühls. Diese Körperschaft erlebt eben jetzt eine grosse, furchtbare Krise: den Krieg. Gewiss hängt diese Katastrophe mit gewissen Unzulänglichkeiten auch der Geisteswelt zusammen, gewiss muss man hoffen, dass nach der Umwälzung dem durchschütterten Boden eine neue bessere Geistessaat entwachse. Aber die 144 Stunde regiert Mars — der Krieg ist ganz und gar Sache kämp- fender Gewalt. Wohl mag sich noch im kämpfenden Leibe der edler gewöhnte Geist darin zeigen, dass er die unnötige Zer- störung, die blosse Grausamkeit verschmäht. Aber sicher ist, dass der Krieg kein höheres Gesetz als das der Vernichtung des An- greifers kennen kann und darf. Und ein Volk, das zum Krieg entschlossen ist, beginge einen lächerlichen Dilettantismus, wollte es sich von irgendwelchen kostbaren Bildern oder ehrwürdigen Kathedralen aufhalten lassen, die dem Feinde als Schanze dienen. Der Krieg ist „ein rohgewaltsam Handwerk", man kann ihn „nobel" treiben — aber wer ihn durch unsachliche Sentimenta- litäten entmannen will, hindert nur die Entscheidung, den Sieg, die Wiederkehr des Friedens ! Ein ebenso unsachlicher Dilettantismus aber, wie in der Kriegszeit über einem zerstörten Rubens zu jammern, scheint es mir, in der Friedensarbeit einen weltbedeutenden Dichter nach dem Nationale zu fragen. Denn die friedliche, die Kulturarbeit kann und soll ja im Kriege nicht aufhören. Wohl steht mit furchtbarem Recht der Soldat im Vordergrunde der Zeit; wer aber dahinten blieb, der fasse seine Friedensarbeit, fasse die Er- haltung der Kulturgüter, der menschenverbindenden Geistig- keiten nicht minder als Pflicht, nicht minder als ernst und rein zu verrichtendes Werk auf. Alle sagen, dass (wie der Körper um der Seele), so der Krieg um des künftigen Friedenswillen da ist! So müssen denn aber auch einige dafür sorgen, dass der Friede, wenn er kommt, noch seelische Güter, menschheitiiche Gemein- samkeiten vorfinde! Diese aber können gegen ihre Aufgabe nicht ärger sündigen, als wenn sie in ihr Reich die Gesichtspunkte der streitenden Heere, die nationalen Feindschaften bringen. Solch Irrtum, der den Krieg gefährlich in die letzte Zuflucht des Frie- dens hinüberspielt, hat sich leider auch bei uns verschiedentlich gezeigt — dass er durch ähnliche Irrtümer ausländischer Geister herausgefordert war, sollte dem deutschen Denkerstolz keine aus- lo Bab, Erwachen zur Politik l45 reichende Entschuldigung sein ! So ist es nicht gut, wenn deutsche Dichter und Kritiker zu einem Boykott ausländischer Literatur aufgerufen werden. Es ist nicht gut, wenn ein Bernard Shaw we- gen gewisser superkluger Äusserungen, die er in den ersten Kriegs- wochen getan haben soll, und die inzwischen von ihm selbst durch viel weitsichtigere überholt sind, im Bausch und Bogen als ein blöder Clown, und ein Romain Rolland wegen gewiss nicht gerechter, aber immerhin begreifliclier Übertreibung seines na- tionalen Schmerzes als ein frecher Kerl „erledigt" wird. Es ist nicht gut, wenn eine Daumier-Ausstellung aus dem königlichen Kupferstichkabinett auf nationales Verlangen entfernt werden muss. Es ist nicht gut, wenn deutsche Gelehrte in corpore die Ehrenzeichen ablegen, die ihnen gelehrte Gesellschaften Englands verliehen haben, und dadurch noch eines der wenigen Bänder durchschneiden, die die in Nationen zerrissene Menschheit heut noch zusammenhalten. Man muss sich freuen, dass eine Anzahl Männer gerade der exakten naturwissenschaftlichen Fakultät den Mut und die Klarheit des Denkens hatte, gegen diesen Schritt zu protestieren, daran zu erinnern, dass man um des gegenwärtigen Krieges willen nicht die Friedenszukunft der Welt ohne Not be- drohen, ins Gebiet idealer Gemeinsamkeiten nicht nationale Feind- schaft tragen dürfe. Gebt dem Kriege was des Krieges — aber dem Frieden was des Friedens ist! und so ist es auch nicht gut, auch nur die Frage aufzuwerfen, ob man heute auf einer deutschen Bühne Sbakespeare, den gröss- ten Menschenbildner und Menschheitsberater aller Zeiten und Völker, spielen dürfte. Für die Bühne, die ein Kulturinstitut sein will, ist das die selbstverständlichste aller Pflichten. — Wenn ein gereiztes Nationalgefühl heute gewisse ausländische Bühnen- schreiber zweiten bis fünften Ranges, deren ganzer Reiz vielleicht in ihrem ausländischen Gebaren lag, von der Bühne verbannt, so kann das in jedem Sinne nur gut sein. Wo es sich aber um zweifellose hohe Werte der Seele handelt, da hat der Nationali- 146 tätenhadei' einfach zu schweigen, denn die Bühne ist nicht sein Schlachtfeld. Shakespeare ist kein Landsmann von Sir Edward Orey und General French — er ist, nach Hebhels Wort, „so wenig ein Brite wie Jesus Christus ein Jude". Für die Bühne als Kunststätte gilt heute nur ein Kriterium ; welcher Dramatiker ist stark, gross, gewaltig und heiter genug, um durch den Sturm dieser Tage hindurch Menschenherzen zu erreichen? Dann aber hat überhaupt niemand den Vorrang vor William Shakespeare, dessen Dramen in hundert bitteren und heiteren Klängen die Geburt der versöhnenden Seele aus den Kämpfen des wilden Leibes verkünden. H7 Neue Frauen Feindschaft (1916) Die voraussichtliche Wirkung des Krieges auf die Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft wird merkwürdig verschieden beurteilt. Es gibt da (vom Standpunkt der Frauenbewegung aus gesehen) Optimisten, dieeine wesentlich erhöhte Geltung der Frau nach dem Kriege prophezeien. Denn, so argumentieren sie, die Frau hat jetzt m hundert Berufen, in die sie notgedrungen ein- rückte, unerwartet glänzende Befähigungsnachweise geliefert. Und wer nicht um der Gleichheit, sondern gerade um des Unterschieds willen eine verstärkte Geltung des weiblichen Elements wünscht, der argumentiert als Optimist, dass die Welt, von der Entfaltung spezifisch männlicher Kräfte in diesem Kriege mehr als übersät- tigt, nun leidenschaftlich sich dem weiblichen Wesen zuwenden wird. Umgekehrt folgert der Pessimist, dass jeder Gleichheitsan- spruch nun fundamental widerlegt sein werde, weil das Kriegs- geschäft, zu dem die Frau nicht tauge, über Nacht wieder das wichtigste der Welt geworden sei, und weil die auf Kampf ge- stellte Welt auf lange hinaus keine anderen als die vSpezifisch männlichen Kräfte werde gelten lassen. Ich möchte, meine pri- vate Meinung im Herzen bergend, mich in den Streit der Pro- pheten nicht mischen, aber ich möchte feststellen, dass eine Wir- kung bereits da ist, und dass diese Gegenwart zu optimistischer Beurteilung der Zukunft nicht gerade Anlass gibt. — Im grossen und ganzen hat ja der Krieg, hier wie überall, viel weniger das Wesen und die Anschauung der Menschen als ihre Ausdrucksart i|8 berührt. Die Tatsache, dass die Frauen in Stellvertretung der Männer jetzt so vieles leisten, wird zwar von den alten Anhän- gern und den alten Gegnern der Frauenbewegung mit Genug- tuung festgestellt; aber wer genau hinhört, vernimmt, dass sie beide dabei sagen: na also! Denn die einen folgern, dass nun die stets behauptete, viel mannigfachere Verwendbarkeit der Frau erhelle; die anderen folgern im Gegenteil, dass jetzt nach klar- gestelltem Unterschied zum Männlichen, der weibliche Typus jetzt seine erfreuliche Eigenart wieder entfalten könne, wesent- lich im Charitativen, und wo es darüber hinausgehe, doch nur^ weil man bewusst als Ersatz, als dankbare Aushilfe für die Män- ner und nicht mit Rivalitätsanspruch die Arbeit aufnehme. In- soweit also ist nun alles beim alten geblieben ; aber bedeutsamer ist, dass sich eine neue Art von Frauenfeindschaft bereits jetzt sehr sichtbar herausarbeitet. Doch ist „Frauenfeindschaft" eigent- lich schon zu viel gesagt. Diese durchaus geistige Art von Pole- mik stammt nicht aus der schlichten Konkurrenzfurcht, auch nicht aus dem gedankenlosen festen Abscheu altvaterischer Mo- ral, und auch nicht aus jener tiefen erotischen Überspannung, deren grossartiges Beispiel Strindberg ist. Sie geht vielmehr von einer Grundanschauung, die ich teile, von der Erkenntnis der polaren Verschiedenheit des männlichen und weiblichen Prinzips zu grundsätzlichen Folgerungen über, die ich für falsch halte, und sie richtet sich damit weniger gegen Wesen und W^ert der Frau, als gegen die Frauenbewegung, soweit sie nicht rein wirt- schaftlicher Natur ist. Man bekämpft den „Feminismus", wie man das nennt, und meint damit besonders jene verächtlichen Männer, die nicht von der unbedingt und alleinseligmachenden Natur des männlichen Weltprinzips überzeugt sind. Diese Gesinnung zieht nun aus dieser Zeit auf zwei merkwür- dig entgegengesetzten Wegen neue Nahrung. Auf der einen Seite stehen die, die den Krieg für das grosse rettende Glück unserer Kultur halten, für die alles reinigende und klärende Erfrischung, i49 und sie verkündeten sofort und mit steigendem Nachdruck, „der Krieg hat die Frauenfrage gelöst". Er hat die gebührende Allein- herrschaft des Mannes im öffentlichen Leben wiederhergestellt, denn der Mann allein ist es, der kämpft, und die Frau darf höch- stens Wunden heilen. Die Gesellschaft der Krieger ist wieder eine rein männliche geworden und wird die Schmach der Verweib- lichung von sich abtun. Dieser Standpunkt scheint mir in sich logisch und leicht zu verstehen. Viel merkwürdiger ist, dass man von dem entgegengesetzten Standpunkt zu derselben Folgerung kommen kann. Unter denen nämlich, die den Krieg für den gros- sen moralischen Bankerott der europäischen Gesellschaft halten, in ihm nicht das natürliche Stahlbad, sondern die tiefe Ohnmacht unserer Kultur erkennen, wird gefolgert, dass ein Triumph des Geistes, eine innerlich mächtigere Kultur nur durch reine Män- nerbünde, also wiederum durch Ausschaltung des verweichlichen- den weiblichen Prinzips, zu erreichen sei. — Es wäre leicht ge- nug, diese beiden Folgerungen aneinander zu widerlegen; denn ist dieser Krieg ein Gut, so hat ihn der bisherige weibliche An- teil am öffentlichen Leben jedenfalls nicht hindern können, und ist dieser doch jedenfalls sehr männliche Krieg ein Übel, wie hofft man ihn künftig durch weitere Zurückdrängung des weiblichen Elements zu vermeiden? — Aber wichtiger als solche logische Fechtstücke scheint es zu sein, diese sich neubildend% Gegner- schaft in ihrer geistigen Grundgesinnung ernsthaft zu erkennen. Das Wort, das diese Männer, die sich immer wieder verwahren, die Frau als Naturgeschöpf geringzuschätzen oder ihren wirt- schaftlichen Existenzkampf missbilligen zu wollen, immer wieder im Munde führen, ist das alte „mulier taceat in ecclesia". Und dieser Grundsatz, der die Frau von jedem Anteil am öffentlichen Leben ausschliesst, ist nicht ohne Grund ein katholischer. Denn katholisch ist das Prinzip, dass Geist und Natur zu einer irdisch ewigen, erst im Jenseits tilgbaren Feindschaft auseinanderreisst; katholisch ist es überhaupt, alle Gegensätze ins reine Absolute i5o zu treiben, und dadurch das Leben eigentlich zu einer unlösbaren, auf jenseitige Vermittlung angewieseneu Sache zumachen. Die geistige Grossartigkeit des Katholizismus geschieht auf Kosten des Individuums, das überall, wo es sich frei entfalten darf, die lebendige Vermittlung der prinzipiellen Gegensätze zu irdischer Fruchtbarkeit vornimmt! Da nun ein zweifellos gegründetes Ge- fühl dazu geführt hat, den geistig aktiven Pol der Seelenkraft, den kulturschöpferischen, nach dem männlichen, den naturhaft ruhenden, gelühlsmässig vermittelnden nach dem weiblichen Geschlecht zu nennen, so folgert die katholische Kirche daraus die unbedingte Minderwertigkeit aller Weiber für jedes geistig öffentliche Geschäft. Dabei war aber die Tatsache des Menschen, des Individuums, das immer von einem Mann und von einem Weibe abstammt und (obwohl allermeist durch eine Polnähe charakterisiert) stets nur eine Mischung männlicher und weib- licher Kräfte darstellt, völlig unterschlagen. Die ungeheure Tat- sache des Menschen wiederentdeckt zu haben, das macht die über alles Trennende hinweg tief gemeinsame Richtung von Re- naissance und Reformation aus. Der aus dem Dogma, aus den nie vereinbaren Prinzipien entlassene und damit irdisch lebensfähige, der persönliche Mensch, er ist die ungeheure Tat der grossen Weltwende. Jede Art von Emanzipationsbewegung, die politi- sche, die soziale, die sexuelle, geht deshalb auf den Protestantis- mus zurück, und jede Reaktion ist im tiefsten Sinne katholisch, weil sie nicht die Entfaltung des (immer individuellen) Lebens, sondern die Reinheit der grossen geistigen Gegensätze will. Des- halb darf, obwohl jedes geniale Individuum ein Beieinander miänn- licher und weiblicher Kräfte aufs deutlichste vorlebt, für solche Augen das Weib in der geistigen Gesellschaft nichts als ein stö- render Fremdkörper sein, und jeder Mann, der dies nicht ein- sieht, ein aller Mannheit bares Geschöpf, ein „Feminist". Seit die Grenzen des Liberalismus aufgefunden sind, seit man die oft übersehene Gebundenheit des Individuums im Sozialen wieder i5i zugibt, haben die Neukatholiken wieder Oberwasser. Und ob- schon eine Leitidee durch Einsicht in die Schranken, innerhalb deren ihre Realisierung allein möglich ist, gewiss nicht entwertet wird, so sind doch heute hundert superkUige Jünglinge dabei mit jener Grossartigkeit, die der blosse Logiker dem „blossen" Rea- listen gegenüber so leicht aufbringt, die ganze Arbeit des Prote- stantismus, des Liberalismus, der Revolution für eine bedauer- liche Dummheit, eine leidige Sackgasse der menschlichen Ge- schichte zu erklären. Tatsächlich hat aber alle, ausschliesslich alle sozialen und geistigen Bedingungen, von denen die heutige Menschheit (die Herren Neukatholiken nicht ausgeschlossen!) lebt, der protestantische, revolutionäre Liberalismus geschaffen. Sein oberster Grundsatz aber war, höher als die Schei- dung derPrinzipien im Ewigen ihre irdisch fruchtbare Kreuzung im Individuum zu achten! Der im Geistesgrunde katholische, prinzipienfeste, willenleugnende Marxismus kommt nur vermöge des in seinem Unterbewusstsein versteckten und mit genialer Unlogik durchbrechenden Liberalismus zu einer revo- lutionären Bewegung und auch zur Frauenbewegung. Durchaus logisch dagegen ist Feindschaft gegen die Frauenbefreiung dort, wo eine, im tiefen gegen die Arbeit der letzten dreihundert Jahre gerichtete „reaktionäre" Gesinnung herrscht. Von dieser Art ist zum Beispiel die Stimmung, von der ein so ernster und edler Kopf wie der Kunst- und Kulturkritiker Karl Scheffler sich mehr und mehr beherrscht zeigt. Das sno- bistische Vergnügen, mit grossartiger Geste gegen den Strom zu schwimmen, das so viele der vorher erwähnten Neukatholiken treibt, kommt als Motiv für einen Mann von seiner geistigen Reinlichkeit nicht in Betracht. Vielmehr handelt es sich um einen leidenschaftlichen, gut norddeutschen Sinn für Ordnung und Klarheit, der das unsichere Tasten der neuen Lebenskräfte so peinlich empfand, dass ihm die Ordnung schliesslich wichtiger wurde als das Leben. Er mag die Reife der neuen Formen nicht 162 mehr erwarten, er lehrt die Einfügung, die Prinzipienklarheit um jeden Preis und achtet nicht, dass in die alten Formen, die allein er zu bieten hat, das neue Leben nur unter Aufopferung köstlicher Kräfte (durch deren Befreiung es eben so formlos un- ruhig wurde!) zurückgezwungen werden könnte. So begrüsst Scheffler den Krieg, der ja freilich vielfach die grimmig klaren Unterscheidungen alter Zeiten wiederherstellt, den neuen Un- sicherheiren gegenüber wie ein Kulturglück, so verkündet er auch, die Frauenfrage sei gelöst. Mann und Frau „mit mächti- gem Ruck wieder an den Platz gestellt, wohin sie ihrer Anlage nach gehören". In welcher Art und in welchem Grade er dies meint, zeigt vielleicht eindringlicher als prinzipielle Äusserungen ein Aufsatz, in dem er vor einiger Zeit das „ Männertheater " ver- kündete. Scheffler hat in Lille einer Vorstellung der „Iphigenie" vor Soldatenpublikum beigewohnt und unter diesen einmal ein- zigen Bedingungen, wie man ihm wohl glauben darf, einen un- geheuer tiefen Eindruck empfangen. Er folgert daraus, dass das Theater mit rein männlichem Publikum das einzig wahre sei, und dass die künstlerisch ernsthafte Schaubühne in Deutschland nur durchzusetzen sein werde durch Ausschluss der weiblichen Zuschauerschaft. Schon die praktische Seite dieser Vorstellung ist von einer belächelnswerten Unwirklichkeit. Wenn man die im Schefflerschen Sinne als echtes Publikum eines geistigen Theaters in Betracht kommenden Männer aus ganz Deutschland auf einen Fleck sammeln könnte, so wäre immer noch nicht Menschenmaterial genug da, um eine der vierhundert Schaubüh- nen am Leben zu erhalten. Von der Verführung, der Mitläufer- schaft, der Mode (die, selbst kein geistiger Wert, für die Ver- breitung auch geistiger Werte doch ein unentbehrliches Mittel der Kulturgeschichte ist!) lebt unsere Schaubühne und hat in Wahrheit wohl jede auf Massenanteil gestellte kulturelle Ein- richtung immer gelebt. Das Publikum von Athen war von einer älteren und stärkeren Mode sicherer geführt, die wirklich geisti- i53 gen IndividucD sind in ihm bestimmt nicht zahlreicher gewesen als in dem heutigen Publikum. Dass aber die Frau auch zu allem Guten leichter verführbar und deshalb als „Publikum", als Mode- irägerin ganz unentbehrlich ist, das wird auch vom aniifemini- stischen Standpunkt aus nicht zu bestreiten sein. Wichtiger aber ist es, von der geistigen, der prinzipiellen Seite her das Recht der Schefflerschen Vorstellung zu prüfen. Ist wirklich in dem idea- len geistigen Publikum, das mit reiner Hingebung überpersön- lichen Kunstwerken folgt, kein Platz für die Frau?? Man braucht den polaren Unterschied männlichen und weiblichen Wesens, und die Tatsache, dass die freie geistige Schöpfertat der Frau nur in seltenen Ausnahmen und wohl nie ganz i-ein gelingt, kei- neswegs zu verschleiern und kann doch die Behauptung, dass die Frau ein weniger vollkommener Zuschauer reinster künstlerischer Schöpfung sei als der Mann, für völlig verkehrt halten. Ich möchte geradezu umgekehrt folgern, dass jene Veranlagung, die die Frau am künstlerischen Schaffen hindert, jenes Gesamtgefühl, das ihr die für den Künstler unerlässliche Konzentrierung auf einen einzelnen sinnlichen Naturausschnitt so schwer macht, dass diese Kraft die Frauen zu einem prachtvollen künstlerischen Publikurai macht, — wenn auch nicht zu guten Kritikern. Denn wenn sie vielleicht auch das Werden einer künstlerischen Wirkung nicht immer richtig auffasst, so weist sie ihr Gesamtgefühl doch leich- ter als den durchschnittlichen Mann zu dem letzten Ziel, auf das es dem Künstler ankommt, zu jenem Gesamtgefühl, jenem reli- giösen Sinn, jenem W^elterfassen, das aus dem gebotenen Welt- ausschnitt zu vermitteln der letzte symbolische Wille all und je- der Kunst ist. Das Kleben am Stoff, das Ablenken der künstleri- schen Wirkung in einen privaten oder doch nur sozial praktischen Sinn wird bei einem ästhetisch minderbegabten Mann (und frei- lich auch bei gewissen männlich verbildeten Frauentypen der letzten Jahrzehnte !) ebenso häufig wie bei der rechten und reinen Frau selten sein. Auf dieser besonderen Zuschauereigenschaft i54 «der Frau beruht es ja, dass sie allein in der zwischen Aufnahme und Schöpfung gelagerten Schwellenkunst des Theaters, in der Schauspielerei, Ausserordentliches, den besten Männern Eben- bürtiges geleistet hat. Und damit kommen wir zu einem Punkt, wo Schefflers eigenes Beispiel sich prachtvoll gegen seine Folge- rung wendet. Wie ist es mit der Iphigenie? Soll sie durch einen Mann dargestellt werden? Oder wie sollte ein Ge- schlecht, das sich nicht einmal zum Anhören einer Kunst eignet, imstande sein, nachschöpferisch in ihr zu wirken? Und will ein Kunstkenner wie Scheff ier behaupten, dass in ein Werk, das ihn so tief ergreift, nur zufällig und bedeutungslos die FVau mit einer solchen Rolle gestellt sei? Wird er nicht vielmehr zugeben, dass ein Werk, das aus einem so tiefen Gefühl weiblichen Wertes ge- flossen sein muss, auch eine weibliche Darstellung und damit am Ende auch eine weibliche Zuhörerschaft haben soll? Man müsste dann schon ein wenig konsequenter sein und diese ganze weibische Dichtung mitsamt dem Feministen Goethe, der hier eine Frau zur Trägerin des höchsten geistigen Prinzips macht, ablehnen. Von dieser schier imposanten Konsequenz ist denn in der Tat Hans Blüher, den wir als Vertreter jener revolutionären Jun- gen betrachten wollen, die vom entgegengesetzten Ende her zu gleichem Ziel wie der konservative SchefYler kommen. Blüher ge- hörte dem Kreise des „Aufbruch" an und hat auch an Hillers „Aufruf zum tätigen Geist" in dem Bande „Das Ziel" mitgewirkt. Er gehört also zu jenen, die im Kriege eine Schande der europäi- schen Menschheit sehen, die durch die Herrschaft des reinen Geistes gesühnt werden müsse. Dieser reine Geist kann aber nach Blüher nur erzeugt werden in Männerbünden, die alle Frauen aufs strengste ausschliessen. Diese entschiedene Wendung des scheinbaren Revolutionars gegen die eine Hälfte des Men- schengeschlechts erklärt sich nur dadurch, dass Menschen wie Blüher nicht von einer Ehrfurcht und Liebe des wirksam zu ent- i56 faltenden Lebens geleitet sind, sondern dass sie im Grunde eine theoretische Leidenschaft treibt, ein starres Dofjma, die Verehrung unbedingter (nur den gerade herrschenden entgegengesetzter) Prinzipien. Solche Revolutionäre werden im Augenblick, wo sie die Macht erhalten, als die schlimmsten, lebensfeindlichsten Ty- rannen offenbar, die sie in Wahrheit sind! Maximilian Robes- pierre war von dieser Art. Wenn auch wenig Grund zur Befürch- tung ist, dass Hans Blüher in der deutschen Geschichte eine ähn- liche Rolle spielen könnte, so wird es immerhin lohnend sein, unter diesem Gesichtspunkt seinen „geistigen Antifeminismus" zu betrachten. So nennt Hans Blüher nämlich seinen Standpunkt im Gegensatz zu dem „bürgerlichen Antifeminismus", wie er im „Deutschen Bunde gegen die Frauenemanzipation" vertreten ist. Dass sich dieser geistige Revolutionär mit seinen Sätzen von je- nen groben Philistern eigentlich nur im Punkte der „freien Liebe" unterscheidet, sollte ihn eigentlich etwas misstrauisch gegen sich selber machen. Und von diesem Misstrauen ist denn wohl auch die Broschüre diktiert, die Blüher unter dem Titel: „Der bür- gerliche und der geistige Antifeminismus" veröffentlicht hat. Dies ist indessen ein so unübersichtliches, mit anspruchsvollen Un- bewiesenheiten von Nietzsche, Weininger, Freud und Fliess über- schwemmtes Produkt, es wirrt mit so naiver Distanzlosigkeit die grossen Dinge der Weltgeschichte und ernste, aber sehr bescbei- dene Versuche der Gegenwart, wie Wandervogel und Freie Schul- gemeinde, durcheinander, dass es mir nicht diskutabel erscheint. Ensthafter und besser geformt war ein Aufsatz von Blüher im „Aufbruch": „Was ist Antifeminismus?" Und dieser Aufsatz ist es, der nicht der Absicht, aber meinem Gefühl nach, seinen Höhe- punkt in dem Satze hat, derdie Iphigeniedes „Feministen Goethe" mit ihren „unwahren priesterlichen Umwegen" ablehnt. Dies ist auch wirklich nur konsequent für einen Menschen, der den Frauen keine andere Wirkung als durch den Eros zugesteht und die Be- hauptung aufstellt, dass die ganze Entwicklung des Geistes Schöp- i56 fang reiner Männerbünde sei. Für jene, wie ich glaube, recht zahlreichen Deutschen, die in dem aussererotischen Seelensieg der Iphigenie, in ihrer alle Gebrechen sühnenden reinen Mensch- lichkeit, in ihrer weiblichen Priesterschatt des Geistes den einst- weilen hellsten und höchsten Punkt unserer Kultur erblicken — für diese folgt ebenso unbedingt, dass sie Blühers Meinung von der Frau ablehnen müssen, dass sie aus der ihr tatsächlich feh- lenden, elementar schöpferischen Qualität noch lange nicht ihre Unfähigkeit folgern, in der Breite des Kulturlebens Träger des Geistes zu sein. Denn um bei dem sehr günstigen Bilde Blühers zu bleiben, die Religion wird vom Propheten geschaffen, aber sie wird von Priestern getragen und erhalten, und der wahre Priester ist für die Menschheit eine weniger glänzende, aber ebenso wichtige und fast ebenso seltene Erscheinung wie der Prophet. Zur Priesterin in diesem Sinne ist aber die Frau besonders be- rufen — aus ganz ähnlichen Gründen wie zur Priesterin Tha- liens und zur Zuschauerin. Nicht die entzündende Zusammen- drängung des reinen Geistes in einmalig grosse Zeichen, aber die Hut und Pflege solcher Symbole, die Ausgiessung des umfassen- den Weltgefühls ins Alltagsgetriebe ist Werk der wahren Frau — ,die so selten, aber auch nicht seltener ist, alsder wahre Mann! Die Dogmatiker folgern aus der grösseren Polnähe des Mannes zum geistigen Prinzip sofort, dass nun das Weib überhaupt nichts mit dem Geist, nur mit der Natur zu tun hat, dass es nur für die Familie, nie für den Staat Sinn haben könne (Blüher). Dabei wird wieder die entscheidende Tatsache des Menschen unter- schlagen, des lebendigen Menschen, der stets an Mann und Weib, an Geist und Natur Anteil hat, der in verschiedener Art doch stets der letzten Endes einen Lebensidee dient und der deshalb Anspruch auf jene unveräusserliche letzte Achtung hat, die jedem mensch- lichen Geschöpfe zuteil wird. Von diesem Standpunkt aus erhebt seit vierhundert Jahren die liberale Idee die Forderung einer nie anders als durch das Mindestmass sozialer Notdurft zu beschrän- i57 kenden Selbstbestimmung^; erhebt sie auch für die Frau und predigt immer vorbei an den Ohren der Dogmatiker, die nur Geist und Natur, Herrscher und Untertan, Männer und Frauen, aber nie die grosse Mitte aller dieser Gegensätze, das Leben und den Menschen kennen. Die neue Fraiienfeindschaft beruft sich mit Vorliebe auf die hellenische Kultur, die erst in ihrer höch- sten Reife und Überreife mit nahezu reinen Männerbünden aus- kam. (In denen immerhin noch für eine Äspasia Platz war.) Tat- sächlich kann und darf aber diese antike Kultur nicht die unse- rige sein; vielmehr ist sie, wie das orientalisch-katholische Chri- stentum, eine der grossen Aufgaben, die zu bewältigen, in eige- nem neuen Geist aufzuarbeiten das Ziel, die Aulgabe der neuen germanischen Völker war und ist. Die grosse romanisch-germa- nische Kulturarbeit aber, die nun immerhin auch schon bald zwei- tausend Jahre alt ist, kennt den Ausschluss des Weibes aus der geistigen Gemeinschaft durchaus nicht: in der altgermanischen Heldenzeit, in der französischen Ritterzeit, in der italienischen Renaissance und wiederum im deutschen Weimar finden wir Frauen als einen überaus wesentlichen, höchst geehrten und sehr bestimmenden Teil jener Gesellschaft, die die jeweilig neuen Formen geistigen Lebens ausprägt. Gewiss sind es nicht die Frauen, die die neuen Formen schaffen, aber sie schaffen die Atmosphäre, die das Blut der schöpferischen Männer nährt, und in der die neuen Schöpfungen wachsen und Wirkung haben. Ihre Gegenwart nährt gerade in den schaffenden Männern jene weib- liche Grund kraft, jenes einende, ruhende Gesamtgefühl der Welt, ohne das der ganze, der vollkommene, der im höchsten Sinne schöpferische Mensch nicht besieht. Goethe hat wohl gewusst, warum er die am tiefsten versöhnende, die reinste und reinigend- ste Kraft seines Werkes mit einem Frauennamen nannte, und die letzten Zeilen des „Faust" sind aus unserer Kultur so wenig wie das Werk und wie der Mann, der es geschaffen hat, zu tilgen. Der reine Männerbund ist an allen grossen Taten der neuen i58 Kultur tatsächlich unbeteiligt, er ist ein Phantom von Theore- tikern, die sich vor der Ganzheit des Lebens fürchten und lieber saubere Schubladen voll Puppen als einen unklassifizierbaren Lebendigen haben möchten. Walter von der Vogelweide hat es genau so gut gewusst wie Dante und wieder Goethe, was unsere Kultur an veredelnder Zucht weiblichem Wesen verdankt, und gerade im Sinne dieser jüngsten geistigen Revolutionäre sollte es nicht gegen die Frau sprechen, dass das ganze gi'ossartig grausige Wesen des Krieges allerdings nur als das Werk einer „reinen Männergesellschaft" vorzustellen ist. Das Weibliche aus der Öf- fentlichkeit eliminieren, hiesse einen der Pfeiler durchsägen, die den ganzen Boden unserer Kultur tragen. (Wie entsetzlich bald würde Schefflers Theater nur für Männer das abscheulichste Ding von der Welt: ein Theater »nur für Herren" werden!) Dem weiblichen Wesen aber — und zwar sowohl in Männern wie in Frauen! — in der von beiden gebildeten menschlichen Gesellschaft die Entfaltung und den Einfluss sichern, zu dem es berufen und fähig ist, das heisst der Welt den rechten Arzt ver- schreiben, der die furchtbaren Wunden zu heilen vermag, aus der sie jetzt blutet, und der vielleicht auch künftigen neuen Krankheiten vorbeugen kann. Denn das bindende, vereinende, alle notwendigen Sonderungen der Natur immer wieder über- brückende und somit eigentlich religiöse Element heisst uns des- halb das weibliche, weil die Frau zu seiner Erhaltung, zu seiner unerschöpflichen Erneuerung in der W^elt eingesetzt scheint. 169 Vater landspartei und Volksmehrheit (Bisher unveröffentlichtes Manuskript. — Oktober 1917) Die Schwierigkeit jeder reinlichen Mehrheitsvermittelung be- steht ja immer darin, dass die Anbänger der jeweils Mächtigen es so viel leichter, gefahrloser haben, ihre Meinung zu äussern, als die Opponierenden. Dies ist der natürliche Vorsprung jeder konservativen vor jeder revolutionierenden Partei. Jede gerechte Stimmenordnung ist deshalb immer darauf gerichtet, die Oppo- nenten nach Möglichkeit zu sichern — denn es ist ungerecht, von dem einen für Erfüllung derselben staatsbürgerlichen Auf- gabe Märtyrermut zu fordern, die für den andern keinerlei Wagnis einschliesst. (Dies ist der grosse Sinn der geheimen Wahl.) Diese Gerechtigkeit gefährdet jeder Kriegszustand und der ungeheuerliche der Gegenwart ganz besonders. Er tut es sicher heute in fast allen Ländern der kriegführenden Erde gleich stark — aber jedes Sache sollte es sein, die Dinge zu besprechen, die er zuverlässig aus eigener Erfahrung kennt — , und Sache der Deutschen ist es, deutsche Schäden zu behandeln und zu be- beben. Dass nur ein hässlicher Vogel sein eignes Nest beschmutzt, zitieren die heimischen Schmutzfinken ja doch immer gegen den, der sich an die Beseitigung ihres Unrats macht! Bei uns also ist es so, dass — von dem offiziellen Druck des Kriegszustandes ganz abgesehen — etwa sechzig Pro- zent aller Männer, das heisst alle von achtzehn bis achtundvierzig Jahren unter der unmittelbaren Gewalt der Militärmäch- 160 ti gen stehen. Nicht nur die gerade Uniform tragen! jeder Zivilist kann jeden Augenhlick in Uniform gesteckt werden. Dass dieMih- tärmächtigen aber ihre Macht skrupellos politisch gebrauchen, dass immerfort Soldaten an besonders gefährdete Posten strafver- setzt, Zivilisten eingezogen und drangsaliert werden w egen po li - tisch missliebiger Meinungsäusserung, das ist eine Tat- sache, die trotz aller Leugnung nach dem Kriege tausendfach zu belegen sein wird. Diese Gewalt macht also auch innerhalb der engen vom Kriegsgesetz gezogenen Schranken für sechzig Prozent der Männer politische Äusserung oppositioneller Art nur dann möglich — wenn sie Märtyrer mut besitzen! Auf dieser Art indi- vidueller Grösse ist aber noch nie eine Gesellschaftsmehrheit ge- baut worden — und es ist Hohn, wenn die Mächtigen diese Art des persönlichsten Heroismus für ihre Gegner als Probe wahrer Gesinnung aufstellen, während sie doch gerade blinde höchst unpersönliche und sehr bequeme Gefolgschaft der Macht betätigen und verlangen. (Dass sie ihr Leben vor die Granaten werfen, oder doch wenigstens auch das Leben der Ihren das beweist in diesem Zusammenhange gar nichts; sie müssen es tun und der leidenschaftliche Revolutionär und Friedensfreund muss es genau so. Das ist soziale Schwerkraft, keine Tat.) Nun aber sind unsere Militärmächtigen, deren gutes Gewissen und gute Absicht dabei noch gar nicht angezweifelt zu werden braucht, nach Abstammung, Erziehung und Beruf Menschen, denen die positiven Seiten des Krieges in ganz unnormal und unmassgeblich überwiegendem Grade vor Augen stehen müssen imd die deshalb für den Willen, diesen Krieg und den Krieg überhaupt nach Möglichkeit bald zu enden, gar kein Verständnis haben können. Sie sind also im Streit um Friedensziele, innere Machtlagerung — das alles ist ja zumeist ein Streit zweier so- zialen Weltkräfte! — geborne Partei, Partei der selbstzufrie- denen Macht gegen den revoltierenden Geist. Und sie gebrauchen ihre Macht, um unter den sechzig Prozent deutscher Männer, II B ab, Erwachen zur Politik 10 1 deren Leben sie in der Hand haben, jede ungenehme Meinung niederzuhalten. Wenn also etwa die so selbstgefälhg genannte „Vaterlands- Partei" — ich wähle diese Organisation der Mächtigen nur als Beispiel aus vielen, weil sie so charakteristisch ist in ihrem Hass gegen den Reichstag, der heute allein noch in Deutschland ein bescheidenes Stück echter Mehrheitsbildung, gleichsam aus frü- heren Erdperioden verkapselt, herübergerettet hat — wenn also die Vaterlandspartei vierhunderttausend Akklamationen erhält, so beweist das, selbst wenn die Äusserungen alle freiwillig sind, wenig — denn acht Millionen gegnerischer Stimmen müssen schweigen bei Gefahr ihres Lebens. Das ist die ungeheure Verfälschung der politischen Mehrheit in Deutschland. Natürlich beruht die sogenannte „Stimmung im Heere" erst recht überall auf der gleichen Lüge der Macht, die keine andere Stimmung laut werden, gehört werden, gemeldet werden lässt, als die ihre. — Dabei geht der stärkste Druck nicht von der höchsten Spitze aus, die immer etwas Verantwor- tungsgefühl und Weitblick abbekommen muss. Nicht das Armee- oberkommando, das Kriegsministerium, der Generalstab üben viel- fach die Tyrannis — sie geht vom Inhaber des stellvertretenden Generalkommandos eines Armeekorps bis zum Feldwebel. Beim Unteroffizier beginnt in der Mehrzahl der Fälle schon die (ohn- mächtige) Oppositionsstimmung, weil hier die Verführung durch Machtteilhaberschaft schon allzu gering ist. Für den Leutnant reicht sie meistens noch. Der korrekte Phraseur antwortet schneidig : „Wie die Erfüllung vaterländischer Dienstpflichten als Bedrohung, Gefahr, Märtyrer- tum??" Nichts ist widerlicher und gemeiner, als die Heuchelei, die, um im Besitz liegen zu bleiben, sich hinter der Vollkommen- heit der Idee verschanzt, wo es sich gerade um den Kampf mit den Un Vollkommenheiten ihrer Verwirklichung handelt! Ein Arzt, der sich über die Trägheit des Gelähmten entrüstet: 162 „Müssiggang ist aller Laster Anfang!" Die Krankheit, die unsere Bewegung lähmt, besteht ja gerade darin, dass das Heer, wie der ganze Staatsapparat nicht reiner Ausdruck der Volksgemein- schaft, sondern wesentlich InstrumentderimBesitzBefind- lichen ist. Diese Korrektesten haben also nie gehört von dem Stabsarzt, der auf einen ungeduldigen Wink von oben den Un- tauglichsten zu grässlichen Qualen in die Kaserne schickt? — von dem Regimentsschreiber, der auf einen halben Blick hin den notdürftig Garnisondienstfähigen zu einem sichern Untergang, nicht durch Kugeln, sondern durch Herzschwäche etwa ! ins Feld schickt? — von dem Feldwebel, der ohne eine fassbare Ungesetz- lichkeit einen „missliebigen" Mann zu Tode schikaniert? Sie wissen nicht, dass ein Gewalthaber, ein „Vorgesetzter" stets in einer strafrechtlich unfassbaren Weise einen Menschen zumal von geistiger Art (und um solche handelt es sich ja gerade) bis zur Verzweiflung brutalisieren kann?! All das wissen die Herren nicht? Aber es ist so! es geschieht täglich hundertmal und nach dem Krieg, wenn die Gewalt nicht mehr die Münder zuhält, werden tausend Zungen es ausschreien. — Es muss wohl sogar solch Missbrauch da geschehen, wo schwachen Menschen die Handhabung von soviel Gewalt zugemutet wird. Mit diesem Mittel aber wird das wichtigste Vierteil des deutschen Volkes an jeder — auch an der kriegsrechtlich noch erlaubten Meinungs- äusserung gehindert, sobald sie oppositioneller Art ist. Dass Männer, die im Trommelfeuer stehen, nicht politisieren können, ist freilich wahr; aber um so schlimmer ist die Gewalt, die all die andern Millionen der dienstpflichtigen Altersklassen von freier Meinungsäusserung abhält. Was ist das bisschen immer überall von den Machthabern geübter offiziöser Beamtenbeeinflussung, von der man jetzt viel Aufhebens macht, gegen diese ungeheure Mehrheitsverfälschung ! ? Die Männer der militärischen Gewalt haben freilich recht, wenn sie aus der heutigen Situation ihre Unentbehrlichkeit fol- iT i63 gern. Aber sie sind in einem circulus vitiosus uns gegenüber — denn sie haben diese Situation (im letzten geistigen Sinn gewiss!) geschaffen. Kein Wunder, dass sie zu ihnen passt! Wir aber wollen nicht nur aus der heutigen Situation heraus, sondern aus dem ganzen Zustand, der sie schuf! Diese beiden Probleme müssen — obwohl sie sich zunächst hemmen — miteinander gelöst werden. Das ist die wahre Aufgabe der Zeit und der tiefe Einheitspunkt der äussern und innern Politik. Diesen Einheitspunkt, den jeder INichtmilitär in Entsetzen des ersten Kriegsmoments intuitiv ergriff, nach langen Irrwegen na- tionaler Erbitterungen wieder und endgültig erreicht zu haben, ist für viele vielleicht der erste sichere grosse Gewinn des Welt- krieges. Dabei kommt es freilich darauf hinaus, den Kriegsmächtigen den Wahn ihrer Unentbehrlichkeit zu rauben und man kann es ihnen also nicht verdenken, wenn sie sich wehren — mit aller Gewalt! Aber die Klügeren unter ihnen sollten doch ahnen, dass irgend einmal der Krieg zu Ende sein inuss, und dass dann die niedergedrückte Meinungskraft der Millionen die paar tausend Unterdrücker genau so hoch und so zermalmend in die Luft schleudern muss, wie sie durch Niederdruck angespannt wor- den ist. 164 Aus meinem Tagebuch (1917/18) Sommer 191 7. Aus einem Brief: . . . Was nun den Krieg angeht, so finde ich nicht, dass Du zu wenig von ihm redest, sondern zuviel — frei- lich zuviel nur im Verhältnis zu Deinem Wissen. Wenn auch alles Erkennen sich an dieser ungeheuren Tatsache die Zähne ausbeisst, so ist es doch für mich um so unerträglicher, über sie vom blossen Gefühl aus dilettieren zu hören. Gefühl versteht sich wie das Moralische von selbst und hat, wo es sich nicht in Er- kenntnis und Willen umsetzt, zu schweigen. — Andererseits frei- lich, jeder wirkliche Wille, das heisst ein Gefühl, das durch Er- kenntnis der Wirklichkeit zu Blut und Kraft gekommen ist, soll reden; mag er noch so ohnmächtig sein, er ist das Sandkorn, das jeder zur sittlichen Weltbalance schuldet — seine Äusserung ist Pflicht. — Das Minimum von Vergesslichkeit, das wir zum Wei- terleben brauchen, erzielt — leider! — die Natur, ganz ohne dass wir es uns absichtlich bequem machen. Januar 1918. Auf der Fahrt steigt in Wormditt in ein Coupe zweiter Klasse ein alter soignierter Gutsherr und zwei junge Komtessen ein. Alle strahlend gesund, heiter, leuchtend sauber, sehr gut ange- zogen, funkelnd von einer Lebenskraft, die nun vielleicht nicht grade kultiviert, aber doch sehr durchzivilisiert ist. Sie sprechen von ihrem Gut, auch von der Natur, von ihren Reisen, von der grossen Gesellschaft, auch vom Hofe. Ich variierte in meinem i65 Herzen: „Ein guter Demokrat kann keinen Junker leiden, doch ihrem Leben lauscht er gern" Schade, dass man diese durchaus fertige Kultur zerstören muss — aber freilich muss man, wenn irgend noch ein gutes neues Leben in Deutschland aufkommen soll. Denn sie ist genährt vom Lebenswerk der gan- zen grossen übrigen Nation. Übrigens, was geschieht in der Welt? Geht der Krieg in die proletarische Revolution über, kommen längst nicht reife Massen zur Gewalt? Geht die Welt unter?? — Oder doch zum mindesten unsre Welt? Stehen wir zum mindesteii so gründlich an einem Ende und Neubeginn der Kulturgeschichte wie Anno 4oo etwa, als es mit der römisch-alexandrinischen Welt zu Ende ging? Leichter ist es jedenfalls heute, die Symptome der Auflösung festzustellen, als die des neu beginnenden Lebens. März 1918. Der Bursche eines Arztes (der offenbar ein Lazarett leitet) kommt zu mir — klappt mit den Hacken — steht stramm. Ver- suche, einen menschlichen Ton anzuschlagen, scheitern vollkom- men — grauenhaft! — Am grauenhaftesten ist mir aber der Gedanke, dass einem Menschen diese entmenschende Tyrannen- pose, vor der der Andere stramm steht, Spass machen könnte. — Hier klaffen wirklich Welten zwischen uns und den anderen. So werden nicht viele begreifen, dass ich in der Zeit als ich Uniform trug und täglich fünfhundertmal bis zum Physischen gefühlte Qualen durch das Grüssen litt — dass damals der see- lische Kern meines Widerstandes nicht etwa war, dass ich durch diese Handlung entwürdigt würde. Nein umgekehrt! Meinem Instinkt war durch keine Einsicht klar zu machen, dass die an- deren Menschen durch solch eine unmenschliche Zeremonie sich nicht verhöhnt und beleidigt fühlen sollten. Ich schämte mich unerträglich in die Seele der Gegrüssten hinein. Ich musste mich zu dieser von mir so gefühlten Beleidigung erst jedesmal 166 wieder zwingen. — Darin lag und liegt vielleicht die letzte hoff- nungslose Tiefe zwischen dem Menschentum, dem ich mich zu- gehörig fühle, und dem Militarismus ausgedrückt. Für die entmenschende Roheit übrigens, die dieser Betrieb notwendig mit sich bringt, ist dies mir persönlich der stärkste Beweis. Ich habe in meiner „Ausbildungszeit" keine Wüteriche, keine pathologischen Bösewichter zu Vorgesetzten gehabt; der- artige stets mögliche Unglücksfälle würden ja auch gar nichts beweisen. Aber dass die normal braven und anständigen Men- schen innerhalb dieses Systems zu absolut unmenschlicher Roheit von Instanz zu Instanz gezwungen wurden, das ist das Vernich- tende für das System. Jeder kennt Dutzende von Fällen, wo Unteroffizieren von Feldwebeln, Feldwebeln von Leutnants, Leutnants von Hauptleuten sehr übel mitgespielt wurde, weil sie nicht „schneidig" genug gegen die Untergebenen waren. Aber ich kenne eigentlich nur einen einzigen Fall, wo ein Unteroffizier — der Mann hiess Sellnow, war Kinooperateur und ein Urberliner, und ich weiss nicht, ob er heute noch lebt — Genialität des Her- zens genug besass, um seine Menschlichkeit mit den Anforderun- gen dieses Dienstes zu vereinen : er hatte die Praxis, die Angebrülls, ohne die ihn seine Vorgesetzten für unfähig gehalten haben wür- den, so ins Groteske zu übertreiben, dass jeder Rekrut die harm- lose, gutmütige Meinung hindurchfühlen musste. — Was ist aber ein System wert, dessen Willen nur von einem wirklichen sittlichen Genie so weit betrogen werden kann, dass es mit einer menschlichen Behandlung der Menschen vereinbar wird! April 191 8. In Heinrich Manns Roman „Zwischen den Rassen" steht ein ausserordentlicher Satz: „Der Schwache, der zufällig zur Macht gelangt, kommt in Gefahr, die Herrschaft über seine Nerven zu verlieren, die abscheulichsten Triebe des primitiven Menschen werden wieder in ihm herauf dürfen. Denken Sie an die neuras- 167 thenischen Könige von jetzt . . . Kein Mensch kann verächtlicher sein, als solch ein Schwacher, der den Geist und die Menschlich- keit, für die er ausgestattet wäre und denen er verpflichtet wäre, verleugnet und sich zu den Starken und Rohen schlägt." Das ist wahrhaft gross und schön gesagt und spricht den tiefen Hass aus, den ich sehr viel mehr als gegen das herrschende Jun- kertum gegen die ihm akklimatisierten literarischen Snobs habe. Künstlerisch aber ist zu sagen, dass dieser Heinrich Mann trotz der Echtheit und Grösse seines Grundgefühls doch immer irgend- wie im Halbechten, theoietisch Rhetorischen stecken bleibt. Und zwar möchte ich sagen, dass dies an der Geduldlosigkeit seines Temperaments liegt. Die Geduld zur Gestalt ist aber des Künst- lers höchste schaffende Tugend und mit der wahren Liebe iden- tisch. Die geduldlose Hast, die jede Gestalt zur Karikatur ver- kürzt, beweist, dass die Güte des Künstlers doch in der Theorie stecken blieb und nicht wirklich Leben spendende Kraft wurde. Mai 19 18. Man bekommt mehr und mehr den Eindruck, dass es auf den Weltuntergang, mindestens auf den Kulturuntergang abgesehen ist. Seit den sogenannten deutschen Siegen vollends! Sie reichen niemals aus, um einen Frieden zu erzwingen — aber ganz, um die Ritter bei uns obenauf zu bringen, den letzten Rest vernünf- tiger Menschlichkeit zu verjagen und so die Friedenschancen weiter zu verschlechtern. Was wir jetzt da im Osten machen: in der Ukraine Minister verhaften! Fürsten anfertigen für Finnland! Ein Schock Grossgrundbesitzer als das Volk behandeln in Esth- land! — das ist so haarsträubend, dass es alles, was die Welt seit drei Jahren gegen preussische Junkerei gesagt hat, noch nacb- iräglich rechtfertigt. Die Menschheit will eben doch auch für die tüchtigste, ordent- lichste, korrekteste Verwaltung — !^ob die preussische das ist, lassen wir dahingestellt — aber auch, dass sie es zu sein glaubt. ist ja schon ein Wert) — die Menschheit will auch für eine solche prächtige Verwaltung nicht ihre Würde einhandeln! Sie will lieber in Freiheit verhungern als aus der Sklavenkrippe fett werden. Von dieser höchsten Ehre der Menschheit begreifen diese Männer nie etwas — darum müssen sie weg! Aber vielleicht sind sie stark genug, die Welt im Sturz mitzureissen. So wenigstens ist, wenn überhaupt, nur nach Jahren ein Frieden der Ermattung möglich, der schlimmer als der Krieg von Waffen starrt, die Feldwebel zur Vollherrschaft bringt, jeden Sparpfennig zu Schiesspulver umsetzt und schon das Kind im Mutterleibe drillt. — Ich muss an den Handelsmann aus Bialystok denken, einen durchaus zivilisierten Juden, den ich in der Bahn sprach; der erzählte, wie man vor zwei Jahren in seiner Stadt die Deutschen mit Tränen der Begeisterung aufgenommen habe, wie besonders die jüdische Bevölkerung den Befreiern vom russischen Joch zuge- jauchzt habe. Und heute hat es die masslose Anmassung und Nicht- achtung der preussischen Militärbureaukratie so weit gebracht, dass diese Liebe in glühenden Hass verwandelt ist und man sogar die Russen wieder herbeiwünscht. Man will lieber im Einzelnen hundertmal misshandelt als im Ganzen dauernd missachtet sein. — Ich habe ganz Ähnliches aus der Türkei und aus Finnland und sogar von den Deutschen in Biga gehört. Und ich denke, es macht den Menschen im Grunde die höchste Ehre, dass ihnen für keinerlei materielle Wohlfahrt auf die Dauer die Freiheit und die Selbst- achtung feil ist, die ihnen das neudeutsche Prinzip verweigert. Was man von der Front jetzt hört und an Todesnachrichten sieht, ist so grauenhaft, dass man sich schämt, zu leben! Wenn nicht in diesem Krieg, so müsste man gegen diesen Krieg ster- ben — sonst gäbe es nur noch eine Rechtfertigung — eine jen- seits der Zeit: — in unerhörtem Masse glücklich sein, und so die Ehre Gottes aus seinem Chaos retten. — Aber so im mittleren, leicht beeinträchtigten Wohlbehagen weiter vegetieren, das ist abscheulich und unerträglich. 169 Sommer 1918. Bei Rahel Varnhagen finde ich heute folgende Stelle: „Es Avird eine Zeit kommen, wo Nationalstolz ebenso angesehen wer- den wird, wie Eigenliebe und andre Eitelkeit, und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zustand widerspricht unsrer Religion. Um diesen Widerspruch nicht einzugestehen, werden die ent- setzlichsten, langweiligsten Lügen gesagt, gedruckt, dramatisiert." Diese Worte, so gross und rein im Umriss, wie alles, was sie in einer guten Stunde gesagt hat, schreibt Rahel am 3. Nov. 1819. Lange danach aber setzt ihr Gatte die triumphierende Anmer- kung hinzu: „Dieses ist an einem bedeutenden Orte, im gross- britannischen Parlamente schon wahr geworden! Sitzung des Unterhauses am aS. Februar i83o." Ach du lieber Gott Gibt es Worte, um auszudrücken, wie töricht tler Verstand der klügsten Menschen sich ausnimmt, wenn sie sich beim Prophezeien ertappen lassen, und wie kindlich wir immer wieder Tempo und Darstellungsart der geschichtlichen Entwick- lung, falls es überhaupt erlaubt ist, von derartigem zu sprechen, überschätzen. Sommer 1918. In dieser grossen Garnisonstadt machte ich noch zuletzt eine Erfahrung, geeignet jeden Rest an Hochachtung zu zerstören für den preussischen Militarismus, dessen ewig latente Tyrannei über uns so ungeheuer akut geworden ist: • — Hier ist jetzt eingezogen als Landsturmmann ein junger Berliner Millionär — aus einer der bekanntesten Geldfamilien Deutschlands, man schätzt ihn auf siebzig Millionen. Als Resultat dieser siebzig Millionen aber haust er nicht, wie das beispielweise mir und anderen älteren geistigen Arbeitern von einigem Ruf ergangen ist, in einer Barackenbude mit achtzig Mann, sondern er hat im ersten Hotel der Stadt eine Flucht von Gemächern inne. Sein Dienst steht nur auf dem Papier; ein naiver Feldwebel, der einmal versuchte, damit Ernst 170 zu machen, ist von höherer Instanz sehr unsanft angefasst wor- den. Dafür besitzt er, obwohl doch offiziell alle Pneumatiks längst eingezogen sind und es keinen Benzin gibt, ein eigenes Auto und gondelt täglich mit guten Freundinnen und Freunden an die See und aufs Land. In seinem Vorzimmer ist ein richtiges Warenlager von Leder, Seide, Esswaren jeglicher Art, — kurz allen Dingen, die seit Jahr und Tag in Deutschland kontingentiert, verboten und für den „durchhaltenden" Staatsbürger unsichtbar sind. Trotzdem das Telephon dienstlich überlastet und für Ge- schäfts- und Privatbedarf kaum noch zu haben ist, telephoniert dieser Herr an manchen Tagen zwanzig- bis dreissigmal mit Berlin, hat Plauderstündchen mit seiner Geliebten, geschäftliche Unterhaltungen mit seinem Bureau, Anweisungen für seinen Por- tier, Familiengespräche. Da er ja aber nicht nur Worte, sondern auch sehr reale Dinge nach Berlin zu schicken hat, so dienen ihm für diesen Zweck die allnächtlichen Munitionszüge, von de- nen er versichert, dass er sie als das schnellste und sicherste Be- förderungsmittel ausgeprobt hat! — Schliesslich aber ist dieser Edle nach zehn Wochen so schweren militärischen Leidens re- klamiert worden und zwar — sage und schreibe! im Interesse der deutschen Landwirtschaft — zur Verwaltung eines sei- ner Güter. Dabei ist es mir fraglich, ob er einen Ochsen von einer Kuh unterscheiden kann! Dass erden Unterschied von Hafer und Gerste nicht kennt und sicherlich nicht genau weiss, wo das Gut liegt, dessen Hypotheken seine Firma irgendwann einmal aufge- kauft hat, dürfte als gewiss gelten. Kann es etwas Ekel- hafteres geben, als diesen völligen und glatten Zusammenbruch all dieser ehernen Vaterlandsverteidigungsmaximen angesichts des grossen Portemonnaies? Kann irgendeiner der Soldaten, die dies Schauspiel angesehen haben — und das haben Hunderte ge- sehen, und beinahe alle haben Ähnliches gesehen — kann irgend- einer von ihnen noch das Gerede vom Volksheer, von der gleich- massigen Hingabe aller ans Vaterland usw. usvk^. hören, ohne in 171 ein Hohngelächter auszubrechen? — Wenn die brutale Sachlich- keit des preussischen Apparats mit Grausen gemischte Hochach- tung einflösste — was bleibt nach solchem ungeheuerlichen Schau- spiel von Un Sachlichkeit übrig als die gemeine selbstsüchtige Brutalität und das Grausen? Oktober 1918. unablässig und wie eine Glocke dröhnen mir jetzt Tag und Nacht durch den Sinn die Zeilen aus Schillers Teil : „Wagt es, Herr! Eu'r Walten hat ein Ende. Der Tyrann des Landes ist gefallen. Wir erdulden Keine Gewalt mehr. Wir sind freie Menschen." Das ist es. Es war zu viel. Vier Jahre nicht denken, nicht reden, nicht atmen dürfen — nicht leben. Denn nur ein freies Leben ist Leben. Nun werden wir schlecht leben — aber unser Leben, ein Leben, das immerhin den Namen verdient! Alles andre überdröhnt mir dieser Glockenklang: Eu r Walten hat ein Ende. Wir dulden keine Gewalt mehr. Wir sind freie Menschen! * (Aus einem Brief:) „ — Du bist gegen den Frieden um jeden Preis und Du sagst, dass Dich nicht so sehr die romantische Schönheit heroischer üntergangsgesten lockt als Dein Gerechtigkeitssinn. Und gewiss empört sich in mir auch allerlei, wenn ich das ekelhafte Tugend- gerede der Militaristen in Frankreich und England höre, die genau so verrucht und nur etwas wirklichkeitskundiger und auf die Dauer erfolgreicher gewesen sind, als die unseren. Jedes Pharisäertum ist ungerecht. Aber Du sagst auch, es sei ungerecht, dass ein Volk den Krieg verlieren soll, das ihm so unerhört viel geopfert habe wie Deutschland, Nun, Frank- reich zum mindesten hat nicht weniger geopfert, aber darauf kommt es nicht an! Gerechtigkeit ist ein Wort von allertief- 172 Stern Wirklichkeitsgehalt. Alle Nationalgefühle und Internatio- nalgefühle sind flach davor. Aher Gerechtigkeit ist kein kauf- männischer Begriff, kein Rechenexempel, kein ordnungsmässiger Bilanzausgleich. Wird ein unerlaubtes Geschäft zuna Beispiel dadurch fair, dass ich so ungeheuer viel hineingesteckt habe? Gewiss ist es schrecklich, wieviel wir an Leben, Gut und Seelen- kraft „umsonst" geopfert haben. Aber das ändert nichts daran, dass unsre Sache eben nicht „gerecht" war! Das erhellt aber nicht etwa aus der diplomatischen Situation, in der nach allem Hinundhergeschiebe wahrscheinlich auf beiden Seiten Schuld ge- nug war; es erhellt nur daraus, dass unsre Sache von Menschen geführt wurde, deren Wesen jede Sache zur ungerechten stem- peln würde! Sachen sind nämlich überhaupt nie, nur Menschen sind ethisch qualifiziert. Die Völkersituation, in der wir, wir Volk, dann „Notwehr" übten, haben unsre Führenden zum gros- sen Teil verschuldet — das heisst, sie mussten, ihrer ganzen Art, Herkunft und Erziehung nach, die Gewalt mit allen ihren Kon- sequenzen als letzte Instanz verehren. W^ir aber haben diese Führung geduldet, und das ist die deutsche Schuld. — Oder hast Du als Soldat — grade als Soldat! — nicht den menschlichen Wert unsrer Regierer gespürt?? Und deren Sache, — durftest Du sie vielleicht je als Deine fühlen, Du Stimm- und Schlachv- vieh? — deinen Sache sollte gerecht sein?! Der Sturz dieser Menschen scheint mir menschheitlich jeden noch so schmerzenden Nationalstolz wert. Denn in Wahrheit dürfen wir hoffen, dann ohne „Weltmacht" ein viel grösseres Deutschland zu erhalten. — Gelingt es aber der blinden Rach- sucht der Feinde und der „männlichen" Nationalsentimentalität Deines Schlages noch einmal, dem Militarismus bei uns das Heft in die Hand zu geben, so ist uns gewiss der langsame, schreck- liche Untergang aller menschheitlichen und nationalen Güter erst durch den Krieg und dann durch die anarchistische Revolution. — Deshalb solltest Du doch vielleicht für jeden Frieden sein." 173 Trostreiches Gespräch Anno 2218 (Neujahr 191 8) Als der sehr bekannte deutsche Dichter und Denker Johann Karl Zimmermann am Vormittage des Neujahrstages 2218 von dem altersschwachen grossen braunen Bande aufblickte, den er in dem hellen Zimmer seines Landhauses zu Blankenese las, stand sein Freund John Charles Carpenter aus Oxford vor ihm. Zimmermann erwartete diesen Besuch, denn seit langen Jahren kam der berühmte englische Naturforscher, an jedem Sonn- oder Feiertag, mit dem Flugboot herüber, um einige Vormittagsstun- den bei dem deutschen Freunde zu verplaudern. Aber während er sonst gewohnt war, dem Gast, wenn er ihn von der Elbe heraufsteigen sah, ein paar Schritte entgegen zu gehen, war er heut in seine Lektüre so vertieft gewesen, dass seine Ankunft ihn überraschte. Und das erregte ihm selber und dem Gast einige Verwunderung. Gleich nachdem die erste Begrüssung und der Austausch der Neujahrsglückwünsche stattgefunden hatte, fragte Carpenter: „Was ist das für ein Buch, mein Lieber, in das Sie so vertieft waren, dass ich Sie überraschen konnte?" „Es ist ein merkwürdiger Band, lieber Freund. Die Stadt- bibliothek leiht ihn nicht einmal gern aus, weil diese Bände von ganz besonders gebrechlichem schlechtem Papier sind und des- halb nur noch in ganz wenigen Exemplaren existieren — diese deutschen Druckschriften aus dem ersten Drittel des zwanzig- sten Jahrhunderts." 174 „Ah, aus jener Epoche?" „Eine deutsche Zeitung vom Jahre 1917." „Nun, das erklärt Ihre Versunkenheit! Auch mich fesselt diese Periode der Menschheitsentwickelung ganz besonders. Es war eine grosse Zeit! Eine Zeit, in der man das Wachstum der geistigen Macht besonders deutlich wahrnehmen konnte." „Das ist freilich wahr." „Ganz gewiss! War es nicht die Zeit, da die Technik end- lich anfing, die Früchte der grossen und mühseligen Arbeit der voraufgegangenen Jahrhunderte zu pflücken und sich nach dem langen titanischen Ringen mit der Materie zu jener olympischen Freiheit in der Naturbeherrschung zu erheben, deren wir uns jetzt erfreuen. Hatte nicht gleich im Anfang des Jahrhunderts ein Italiener die Telegraphie vom Kupferdraht befreit? Gescha- hen nicht damals die ersten Entwürfe für den Projektilzug, der unsern Landverkehr erst endgültig über die Postkutschen ge- schwindigkeit erhob? Und jene viel wichtigeren, die uns durch Ausnutzung der Sonnen- und Meereskraft von der Knechtschaft der Kohle befreien sollten ? Und war es nicht das Triumph-Zeit- alter der Lufteroberung? Schon in den ersten Jahren des Jahr- hunderts wurde ja das Lenkproblem der Luft gelöst." „Ja, von den Brüdern Wright, von denen einer den Helden- tod starb für die grosse Sache. Ehre den Amerikanern ! " „Ja, damals erst begann die Technik aus einer düsteren Herrin wirklich die Dienerin des Menschen zu werden. Es war eine grosse Zeit!" „Ja. Und andere Gebiete der Geistesgeschichte zeigen bereits die seelische Wirkung solcher Vorgänge in ihrer Generation. Wie seltsam zu denken, dass es schon damals in den Künsten und in der Literatur eine Bewegung gab, wie wir sie inzwischen notwendigerweise, mit den ebenso notwendigen Zwischenzeiten der Reaktion, wenigstens fünfmal wiedererlebt haben und die sich damals die expressionistische nannte. Auch da wollte die Seele, die in den vorausgehenden Geschlechtern allzuviel Welt- stoff in sich aufgenommen hatte, ihre Freiheits- und Herrschafts- rechte wieder antreten. Es gab merkwürdige Meister in dieser Zeit, die mit gleichem Recht als die Vollender des Impressionis- mus wie als die Begründer der neuen Kunst gepriesen wurden. Ist nicht in einem jener Jahrzehnte der grosse Rodin gestorben? Ehre den Franzosen ! " „Ja, das war ein Gewaltiger ! Aber das Mächtigste in jener be- deutenden Zeit ist doch durch euch Deutsche geschehen! Das Grösste, das die Welt des erkennenden Geistes seit den Tagen des Kopernikus erschüttert hat! Die Neubegründer der Natur- wissenschaft Max Plank und Albert Einstein und viele ihrer besten Helfer lebten damals in der deutschen Hauptstadt. Und sie schufen für unsern Geist die Relativität des Zeitbegriffs, ohne den, von der schlichtesten technischen Rechnung bis zur Schwelle religiöser Ahnung heute keine geistige A rbeit mehr ge- deiht. Und darum wohl vor allem war es eine grosse Zeit! Ehre den Deutschen ! " „Ja, das war es! Aber würden Sie glauben, dass in diesem Zeitungsbande hier von all den Dingen, die wir jetzt erwähnten, kaum, oder bloss sehr nebenbei, die Rede ist?" „Aber wovon in aller Welt ist denn sonst in diesen Zeitungen die Rede gewesen?" „Sie werden es nicht raten!" „Warten Sie einmal! Sagten Sie nicht vorhin etwas von dem besonders schlechten Papier, auf das Ihr Band da gedruckt sei ! Das weiss ich doch aus meiner Bibliothek, dass deutsche Bände, die so um das Jahr 1916/ 17 herum gedruckt sind, immer ganz besonders schlecht zu halten sind. Es muss irgendeine Krise jn der deutschen Papierindustrie gewesen sein. Was war es noch? Was gab es noch in jenen Jahren? Wahrhaftig, ich glaube — " „Sie sind schon auf der richtigen Spur! Es gab damals das, was sie den „Weltkrieg" nannten. Und ob Sie es wohl glau- 176 ben oder nicht, von dieser Kette allerdings sehr fürchterlicher und sehr selbstverschuldeter Unglücksfälle ist in diesen Blättern beinahe allein die Rede." „Ist es möglich?" „Mehr als das ! Würden Sie glauben, dass die grossen Errungen- schaften der Technik in diesem Band nur behandelt werden, weil sie der Kriegsführung dienen, dass man bei Rodins Tode stritt, ob ein Deutscher diesen Franzosen loben dürfe? Und dass man von Albert Einstein allenfalls rühmte, dass seine Berech- nungen die deutschen Kampfflugzeuge verbesserten?" „Ist es möglich, dass die Menschen in derselben Epoche, wo sie so Grosses vollbracht haben, so toll waren?" „Es war eine grosse Krise, und in ihrer Art vielleicht die schlimmste und letzte. Wenn Sie die Sozialgeschichte nach- schlagen, so werden Sie immerhin finden, dass die grossen Er- schütterungen, mit denen jene schlimmen Jahre schlössen, den Ausgangspunkt bilden für viele gesellschaftlichen Organisatio- nen, die uns heute selbstverständlich sind, und die, so viel des Unvollkommenen und der zu leistenden Arbeit auch noch übrig bleibt, doch unserm Leben heute das Minimum dessen sichern, was wir für menschenwürdig erachten." „Auf diese Art freilich könnte man einen Sinn in die absurde Vorstellung hineinbringen, dass auch jener Krieg zu den Vor- gängen in dieser grossen Zeit gehört haben soll." 12 Bab, Erwachen zur Politik ' ^11 Nach der Katastrophe Politische Sittlichkeit Bernard Shaw als Erzieher (Sommer 191 9) Bernard Shaw, der irische Autor in England, unter dem inter- nationalen Namen grosshritannischen Schrifttums heut einer der Ersten, Bernard Shaw hat einen kleinen Band veröffentlicht „Winke zur Friedenskonferenz." (Deutsch bei S. Fischer, Berlin.) Die Schrift, die Anfang 191 9 geschrieben sein muss, ist ihren praktischen Absichten nach von dem furchtbar dahinrasenden Lauf der weltgeschichtlichen Ereignisse längst überholt. Wenn dies ein Aufruf zur Vernunft an das Ohr der Versailler Konfe- renz war, so wissen wir heute nur zu gut, dass dieser Ruf unge- hört verhallt ist. Es ist naheliegend genug aus dem Vergleich dieser Schrift mit den fürchterlichen Resultaten dieser Friedens- konferenz nichts weiter folgern zu wollen, als wie ohnmächtig- auch des stärksten Einzelnen freier Geist gegen die blindrasende Leidenschaft entfesselter Masseninstinkte ist. Es ist naheliegend, aber sehr oberflächlich, so zu urteilen. Denn tatsächlich lebt in der Shawschen Schrift eine Macht, die durch gar keine äussere Gewalt besiegt und widerlegt werden kann. Tatsächlich wird der Geist dieser Schrift noch einmal triumphierend über den Trüm- mern des bornierten Machwerks von Versailles schweben — tat- sächlich wird man einmal sagen, dass eine Schrift wie diese die von den diplomatischen Vertretern der westlichen Welt — und freilich nicht nur von diesen! — schwerbeleidigte Ehre der Menschheit gerettet habe ! 181 Wer sich, wie in den Tagen kriegerischen Triumphgeschreis, so jetzt in den Tagen mihtärischen Zusammenbruchs bei allem nationalen Mitleben doch auch ein Gefühl für menschheitliche Solidarität bewahrt hatte, wer als Deutscher, aber zugleich auch als Weltbürger empfand, der hatte, wenn diese grässlichen Trak- tate aus Versailles kamen, einen doppelten Schmerz auszustehen. Denn wenn er ihren Inhalt, den wütend gegen das Leben Deutsch- lands gerichteten, wie Schmerz am eignen Körper empfand, so war in ihrer Form etwas, das ihn ganz jenseits jedes nationalen Standpunktes, mit einem rasenden Ekel erfüllen musste: was an europäischem Geist, an menschheitlichem Freisinn in ihm war, das musste vor Empörung aufschreien, bei diesem unsäglich bor- nierten Ton philiströser Moralpaukerei, borniert rechthaberischer Selbstgefälligkeit, zu dem sich französische Hassverblendung mit dem traditionellen Selbstbetrug bequemer puritanischer Gottge- fälligkeit gefunden hatte. Um aber keinen Augenblick den An- schein zu erwecken, dass ich selber dem Laster nationalistischer Verblendung verfalle, indem ich es an zu einseitig gewählten Bei- spielen anprangere, will ich mich beeilen hinzuzufügen, dass ein geistiger Mensch, ein Mensch, in dem ein Gefühl für die Würde weltgeschichtlicher Zusammenhänge lebte, in De^tschland kaum weniger Gelegenheit zu Ekel und Empörung erhielt, wenn er das scheussliche Moralgewäsch alltäglich mit anhören musste, indem hier die bluten weisse Unschuld Deutschlands behauptet, dort die alleinige Schuld des verruchten Deutschland behauptet wurde. Es bleibt Geschmackssache, ob einem die humane Beschränktheit der einen oder die nationale Herzenskälte der andern fataler ist — vom Standpunkt geschichtlicher Einsicht, von einem philoso- phischen Niveau aus, das im Volke der Dichter und Denker doch einmal eine keineswegs unerhörte Anforderung bedeutete, sind sie alle beide gleich erbärmlich — und für ein tieferes sittliches Verantwortungsgefühl gleich würdelos. Man muss zugeben, dass der Sieger es viel schwerer hat, sich des verblendenden Macht- 1Ö2 Tausches zu erwehren, während das Glück des Besiegten darin besteht, dass sein Interesse mehr in die Nähe des allgemeinen Willens zur Gerechtigkeit und Menschlichkeit rückt. Aber da muss man sagen, dass die Deutschen bisher von ihrem Vorzug einen allzu bescheidnen, und die Alliierten von ihrem mildern- den Umstand einen arg überschwenglichen Gebrauch gemacht haben. — Um so schöner und bedeutsamer ist es, dass die Stimme gerechter Einsicht und geistiger Freiheit, die aus der Schrift Bernard Shaws ertönt und unvergänglich weitertönen möge! — dass diese Stimme aus dem Lager der Sieger kommt, wo der Wille zur Gerechtigkeit unmöglich durch Gemeinschaft mit dem pri- vaten Volksinteresse verdächtigt werden kann. Shaw stellt fest, dass die bisher in allen Ländern übliche Dar- stellung der Kriegsursache und des Kriegsverlaufs ein „simples Melodrama" war, dessen Anfertigung und Verbreitung einfach zu den Mitteln moderner Kriegsführung gehörte wie Blockade und Gasangriff. „Die Fabel von den deutschen Verbrechen, die Millionen von Briten und Amerikanern, Franzosen und Italienern aufgepeitscht hat, sich in den Kampf gegen die deutsche Militärmacht zu stürzen und Legionen ihrer Mitmenschen hinzumorden, enthält nicht mehr Wahrheit als die ent- gegengesetzte Legende von den verbrecherischen Taten und Absichten Englands, die Millionen Deutscher zur Vaterlands- verteidigung mit ähnlich verhängnisvollen Mitteln geeint hat. Der Krieg ist vorbei, die Märchen haben ihre Schuldig- keit getan und müssen in der Versenkung verschwinden; sie würden nicht einmal die oberflächlichste Untersuchung eines unparteiischen Gerichtshofes vertragen," Shaw stellt dann mit sachlichster Buhe folgendes fest: Seitdem England nach vielen anderen verhängnisvollen Eroberungen im Jahre 1066 zum letztenmal einem Angriff von aussen erlag, hat das politische Genie der damals neugebildeten englischen Misch- i83 rasse begriffen, dass Leben und Freiheit der englischen Nation von zwei Dingen abhängt: die zweifellose Übermacht zur See zu behaupten, und keine Macht des Kontinents so stark werden lassen, dass sie Hand auf die belgischen Häfen legen könne. Diese Politik hat England die Jahrhunderte hindurch mit wachsendem Bewusstsein und wachsendem Erfolg gegen jede kontinentale Vormacht getrieben und treiben müssen. Nachdem die deutsche Entwicklung dazu geführt hatte, dass in diesen beiden Leben« - punkten Deutschland den Engländern gefährlich schien, musste der politische Instinkt Britanniens seit mindestens einem Viertel- jahrhundert zu einer antideutschen Politik führen, die letzten Endes auch volle Kriegsbereitschaft in sich schloss. Diese freie und klare Shawsche Feststellung ist nicht im mindesten ein Ar- gument für unsre alldeutschen Kriegstreiber, die sich beeilen werden, hier einen Beleg für die „Schuld des perfiden Albion am Kriege" zu finden. Von einer Sonderschuld der Nation und gar der Einzelperson! an der ungeheuren Weltkatastrophe kann auf dem Niveau der Shavvschen Betrachtung überhaupt keine Rede sein. Die Politik Englands erscheint hier wie die Politik aller anderen Staaten unter dem Gebot der Selbsterhaltung — das so lange für alle Völker das oberste bleiben muss, „bis internationale Gesetzgebung, Rechtsprechung und Polizei es den Nationen möglich macht, als Grundsatz ihrer Aussenpolitik die- sen einen Grundsatz preiszugeben, der sich vor keinem Gesetze beugt". Unter diesem Gesichtspunkt braucht England das Melo- drama von der Rettung und Rache der belgischen Neutralität, das ihm freilich als Kriegsmassnahme mindestens so nützlich war wie die Blockade, nicht im mindesten als moralische Rechtferti- gung seines Kriegsentschlusses. Aber ebensowenig gibt für Shaw Deutschlands Verletzung der höchst fiktiven Neutralität von Bel- gien den Engländern irgendeinen Grund zu moralischer Über- legenheit — sintemalen sie selbst vor dem Krieg und auch in dem Krieg keineswegs zurückgeschreckt sind vor der Verletzung 184 von sogenannten ^Neutralitäten, deren Respektierung dem ober- sten Gebot nationaler Selbstbehauptung feindlich gewesen wäre. So resümiert Shaw: 1. „Was die geistige Urheberschaft und die Vorbe- reitung für den Krieg angeht, stehen alle Parteien auf der Friedenskonferenz auf der gleichen moralischen Stufe. Sie alle gehorchten, mehr oder weniger bewusst, dem In- stinkt der Selbsterhaltung und mussten diese durch mili- tärische Gewalt zu verwirklichen suchen, weil kein inter- nationales Gesetz vorhanden war. 2. Der Krieg wurde durch die Blockade entschieden, die bewies, dass England über grössere Machtmittel zur Aus- hungerung und Verelendung anderer verfügte als sonst ein Staat." Dass Shaw nebenbei mit ruhigster Energie auch die moralische Entrüstung über die speziell unsittliche Kriegsführung der Deutschen abtut, versteht sich von selbst : „Der U-Boot-Krieg war ein verzweifelter Versuch, den Schlag (der Blockade) zurückzugeben. Der Versuch miss- glückte; aber welches Recht haben wir, denen der Streich g;elang, eine moralische Pose anzunehmen und noch weiter die Bestrafung derer zu fordern, die in diesem scheusslichen Aushungerungswettkampf den kürzeren zogen?" Die deutschen Luftangriffe über England waren schlimm, „wir wissen aber, dass die britischen Flieger etwas taten, was kein deutscher Flieger in England versucht hat: sie schössen in die Strassen von Trier herab und Hessen hier Maschinengewehrfeuer spielen". — Dass von den deutschen Millionenheeren Verbrechen begangen worden sind, ist für jeden Kriminalstatistiker eine Selbstverständlichkeit: denn unter Millionen von Menschen müs- sen selbstverständlich auch einige tausend Verbrecher eingezogen werden. „Aber glaubt vielleicht jemand, dass es bei der fran- zösischen, englischen, italienischen Militärpolizei an ähnlichen i85 Fällen mangelt?" (Und Shaw erwähnt, dass allein im Seinede- partement von den befreundeten amerikanischen Soldaten bisher vierunddreissig Mordtaten begangen wurden!) All diese schlichten und in einer minder verhetzten, ver- rannten, verrückten Welt eigentlich selbstverständlichen Dinge sind nun aber im Munde Shaws nichts weniger als Argu- mente für den Militaristen und Kriegspropheten. Keineswegs verzichtet Shaw mit seiner Anerkenntnis der aussermoralischen Notwendigkeit der Kriegsgreuel auf ihre Bekämpfung. Und nicht im mindesten ist ihm der Krieg eine geheiligte Notwendigkeit, weil er nach der bisherigen Ordnung der Gesellschaft und der Völker — im schrankenlosen Konkurrenzkampf, unter dem obersten Gesetz der Selbsterhaltung — allerdings unvermeidbar ist. Denn in diesem Sinne und eben deshalb: um den im Kriege mündenden Greueln des schrankenlosen Wettkamj)fes zu steuern, ist Bernard Shaw Sozialist. Das heisst er ist kein mechanisti- scher, entwicklungsgläubiger, klassenkämpferischer Marxist, er ist ein Fabier, einer jener merkwürdigen englischen Sozialisten, für die der Sozialismus nicht die Angelegenheit einer Klasse und das angeblich unausbleibliche Produkt eines Naturvorganges ist, sondern ein Motiv rastloser Bewegung für jeden Menschen, dem das Leben heilig und die Gerechtigkeit lieb ist. Shaw erstrebt den Sozialismus, — nicht weil er seine absoluteVerwirklichun g für heil- sam oder auch nur für möglich hält, sondern weil ihm das Stre- ben in dieser Richtung als unentbehrliches Gegengift für die grossen Krankheiten der Zeit erscheint, deren furchtbarstes Sym- ptom der Krieg ist. Wie über dem Widerstreit der Interessenten- gruppen die Herrschaft der sozialen Volkseinheit, so erstrebt Shaw über dem Widerstreit der Völker den gesetzgebenden Völ- kerbund. Und er sagt ausserordentlich kluge Dinge über das Wesen dieses Völkerbundes, der nur gedeihen könne, wenn er sich auf Völker von annähernd gleicher Rasse, Kultur und Reli- gion beschränke, der aber völlig sinnlos und leblos sein müsse, 186 solange nicht Deutschland zu ihm gehöre. Viel wichtiger aber als diese sehr hemerkenswerten praktischen Einsichten ist wie- derum das sittliche Beispiel, das dieser Sozialist und Internatio- nalist gibt. Denn alles aufrichtige und starke Streben im Dienste der völkervereinenden Menschheit entbindet den lebendigen und wahren Menschen nicht von seiner besonderen Pflicht gegen seine engere Volksgemeinschaft. Trotz unabgeblendeten Mensch- heitsblickes bei seinem Volke stehen zu müssen, das ist eben gerade das Tragische der Kriegssituation für einen geistigen Menschen. Shaw nimmt auch diese Tragik mit all seiner unpathe- tischen Selbstverständlichkeit auf sich; wenn er (mit übrigens sehr interessanten Details) seine vergebliche Warnung an die Adresse Lichnowskvs erzählt, dem er doch nicht alles sagen durfte, was er deutlich genug sah, so bemerkt er: „Wenn der Krieg ausbrach, war mein Platz auf der eng- lischen Seite, und als Ire stand ich ihm mit meinen offenen Augen gegenüber und nicht mit englisch-patriotischen Illu- sionen. Es war nicht meine Aufgabe, den Fürsten darüber aufzuklären, dass er geradeswegs in eine Falle ging; denn wenn der Krieg kommen musste, so wünschte ich, dass sein Herrscher geschlagen würde." In solcher Haltung eines klaräugigen Europäers ruht mehr menschliche Grösse als in der bequemen Ideologie gewisser ra- sender Pazifisten, die den eigentlich tragischen Konflikt umgehen, indem sie alles, was an Nationalgefühl in ihrem Blute lebt, ver- leumden und verleugnen, und so die Unwahrheit eines interna- tional geborenen Menschen in die Natur hineinspielen. Diese kommen statt zu der immer tragischen Sittlichkeit der Natur zu einem bequem fanatischen Moral ismus des Gehirns, und sie blei- ben eigentlich Chauvinisten — nur mit umgekehrten Vor- zeich e n , wenn sie in unersättlichen A nklagen alle Schuld über das eigene Volk ausrufen. Es hängt wohl irgendwie mit der tiefsten Tu- gend des deutschen Menschen, mit seiner Fähigkeit zu überper- 187 sönlicher Versenkung zusammen, wenn sich dies besonders häss- liche Laster des perversen Chauvinismus, des antinationalen Mo- raHsmus beinahe nur in Deutschland findet. Aber wie unfrucht- bar auch diese Form des Moralismus ist — wie sie sogar der Menschheitssache viel weniger dient als ein gesunder, in natür- lichen Schranken gehaltener, mit dem eigenen das benachbarte Leben pflegender Nationalismus, das hat Bernard Shaw, mit sei- nem wundervollen Instinkt für alles Wirkliche, mit seinem lei- denschaftlichen Hohn auf jede Phrase empfunden und ausge- sprochen in einem Satz, der vielleicht von all den prachtvollen Sätzen dieser Schrift der am meisten beherzigenswerte ist: „Es ist eben eine gewöhnliche Erscheinung im Leben der Völker wie in dem der Einzelnen, dass praktische Leute, die ihre erste Pflicht darin sehen, für sich selbst zu sorgen, ihren Nachbarn mehr nützen als Träumer, die in die Ferne blicken und bei denen krankhafte Selbstvernichtungssucht sich als Tugend maskiert, indem sie sich Aufopferung nennt." Ich glaube, es ist wahr: inmitten der grossen tragischen Ge- samtschuld aller Völker dieser kapitalistischen Welt an dieser imperialistischen Weltkatastrophe haben wir Deutschen eine be- sondere Schuld. (Und wahrscheinlich hat jede Nation noch ihre besondere Art von Schuld innerhalb des allgemeinen Mangels an weltsozialer Einsicht.) Diese deutsche Sonderschuld besteht darin, dass wir mit den besten, wertvollsten Kräften unsres Vol- kes trotz Bismarck — oder durch Bismarck, ein gänzlich unpo- litisches Volk bis gestern wai^en, und fast noch heute sind. Wir haben einer jahrhundertelangen Gewöhnung nach eine relativ winzige Herrenschicht ihre Politik machen lassen, und uns trotz aller von Zeit zu Zeit unübersehbaren Widersprüche immer wie- der einreden lassen, das wäre unsre gottgewollte, für Deutschland eben natürliche Politik. Wir haben deshalb nie die ungeheuer schwere Kunst erlernt, uns in jenem Gleichgewicht zwischen gros- i88 sen Ideen und kleinen Wirklichkeiten zu bewegen, in dem zu schweben das Wesen der Politik ausmacht. Wir erliegen des- halb immer der grossartig reinen und praktisch wertlosen Phrase (heute der alldeutschen, morgen der pazifistischen) oder der plat- testen Alltäglichkeit. Beides ist freilich bequem — Politik aber ist immer unbequem, weil sie ein verzichtreiches Ringen f ü r eine Idee aber m i t Wirklichkeiten ist — ein gläubiges und doch da- bei resigniertes Ringen. Wahre Politik ist deshalb tragisch und ironisch zugleich; wahre Politik ist deshalb von jener liefen Sittlichkeit, die aus wacher, bescheidener Hingabe an die gewaltigen Kräfte der Natur und der Menschenseele zugleich stammt. Die Umsetzung der Geschichte in ein Melodrama mit guten und schlechten Menschen ist moralistisch und deshalb be- quem, aber unpolitisch, unsittlich und unfruchtbar. Zu jener aussermoralischen Sittlichkeit, zu dem tragisch iro- nischen Weltgefühl des rechten Politikers haben die Menschen und auch die Deutschen heute keinen stärkeren Erzieher als die- sen Bernard Shaw. Er kam aus Irland, wo eine völlig nach innen gedrängte Rasse ganz Traum, ganz Geist, ganz Ironie aus den Menschen machen möchte. Und er kam nach England, wo eine welterobernde Rasse den Menschen zu lauter Wirklichkeit, blos- ser Gegenwart, geistloser Tat verengen möchte. Es wurde sein Lebensziel, die wundervolle Sicherheit und unbewusste Kraft englischen Wesens mit irischem Geist und irischem Zweifel zu lenken und zu beflügeln, und den herrlichen Schwung irischer Träumerei durch zähe englische Schwere zur Erde zu zwingen, der Wirklichkeit dienstbar zu machen. In solcher Gesinnung wurde er Sozialist ; in solcher Gesinnung wurde er auch der be- kannte Theaterdichter, dessen überdeutlicher Spott nur Lügen rodet, weil ein verhalten leidenschaftlicher Glaube neue Wahr- heit bauen will. In solcher Gesinnung hat Bernard Shaw auch die schwerste Probe des heutigen Europäers, die Probe dieser Kriegsverwirrung wundervoll bestanden — so wundervoll wie 189 es diese Winke zur Friedenskonferenz dartun. Aus dieser Schrift lerne man, wie ein wirklichkeitstreuer und geistiger Mensch zwischen dem hitzigen Moralismus der Chauvinisten und dem frostigen Moralismus der Pazifisten hindurchsteuert: in die Le- benswärme politischer Sittlichkeit. 190 o Deutsche Politik Thomas Manns Politik des Unpolitischen (Winter 1918/19) Auf der dreiundzwanzigsten Seite des grossen über sechshundert Seiten langen Bandes, den Thomas Mann unter dem Titel „Be- trachtungen eines Unpolitischen" (S. Fischers Verlag) veröffent- licht hat, finden sich die Sätze: „Der Zivilisationsliterat wird nicht die debacles des deutschen second empire zu schreiben haben, das keinesfalls. Er wird froh sein müssen, wenn Deutsch- land nicht allzu auffällig siegt." Das Buch, Anfang 1918 abge- schlossen, ist im Herbst 191 8 erschienen — ungefähr gleichzeitig mit dem Zusammenbruch des zweiten deutschen Kaiserreichs. Es ist also just nicht schwer festzustellen, dass es wie viele andere Bücher der Gegenwart von dem rasenden Zeitlauf der Ereignisse gründlich überholt worden ist. Aber es wäre sehr oberflächlich, es deshalb auch erledigt, widerlegt und entwertet zu nennen. Nicht nur weil „Tatsachen" im Streit geistiger Meinungen keines- wegs ein so endgültig beweisendes Moment sind, wie der Dilettant des Denkens glaubt, weil ihre höchst unberechenbare Natur, wie eben Thomas Manns Beispiel zeigt, nur allzubald zurückprallen kann auf jeden, der sie vom Bogen seines Triumphes abschnellt, — nicht nur, weil das „Rechtbehalten", wie Thomas Mann selbst ein- mal sehr schön sagt, für jeden anständigen Menschen überhaupt etwas Beschämendes, Rohes hat — vor allem deshalb, Aveil Bücher eines bestimmten Niveaus durch das Recht oder Unrecht der These, die in ihnen etwa verfochten wird, überhaupt nicht zu 19' werten sind. Ihr Wert steckt nicht im Ziel, sondern im zurück- gelegten Weg, nicht in ihrem formulierbaren Resultat, sondern in der unformulierbaren Lebenskraft, die von ihnen ausstrahlt. Auf diesem Niveau aber — dem künstlerischen, dem ästhetischen Niveau in jenem sehr weiten Sinne, in dem alle von persönlicher Leidenschaft geformte Geistesarbeit künstlerisch isü^«— auf diesem Niveau steht das Buch von Thomas Mann ohne Zweifel. Keines- wegs um seiner rein formalen Werte willen, obwohl natürlich der Liebhaber der Thomas Mannschen Sprachmeisterschaft durchaus auf seine Kosten kommt: Da ist im Gegensatz zu der modischen Schwülstigkeit brutal hingejagter nackter Hauptsätze die sichere Kunst des Periodenbaus, die Klarheit und Bewegtheit so belebend vereint; da ist jene merkwürdige Verhaltenheit des Temperaments, jene ironische Umständlichkeit, jene kunstreiche Pedanterie des Stils, die mir von je Thomas Manns charakteri- stischstes Merkmal schien; da ist jener lässige Reichtum an faszi- nierenden Bildern und Wortschöpfungen, der von Nietzsche stammt und doch in der gemässigten Zone dieses Temperaments ganz eigenartige Blüten treibt. Aber solche artistische Werte treten doch ganz zurück bei der Betrachtung dieses Buches, von dem der Autor selbst sogleich betont, dass es kein Kunstwerk, sondern ein „Schreib- und Schichtwerk", ein blosses „Bleibsei" dreier qualvoller Kriegsjahre sei, Entladung eines Künstlers, „Künstlerwerk", aber durchaus nicht künstlerische Komposition, nicht ein einheitlich Gestaltetes. In der Tat, das ist es nicht. Wenn diese sechshundert Seiten eine gewisse Steigerung und Zuspitzung haben, so weniger deshalb weil ihre Kapitel plan- voll einem Ziel zuführen, als weil sich die Leidenschaft des Schreibenden in zahllosen Wiederholungen, immer neuen Va- riationen des gleichen Themas, immer n^^hr erhitzt, immer ansteckender formuliert. Eine einheitliche Komposition aber ist diese endlos ungefüge Mischung von Tagebuch, Pamphlet, An- thologie, philosophischem Erguss gewiss nicht. Lange Memoiren- »92 Abschnitte, die nicht nur für die künftige Biographie Thomas Manns, sondern überhaupt für die deutsche Geistesgeschichte von hohem Wert sind, — vom Zufall hereingebrachte und mit sanftem Druck dem Hauptthema verbundene Essays über Eichen- dorffs „Taugenichts" oder Pfitzners „Palestrina" haben ihren Sonderwert, belasten aber das Ganze des Buches mehr, als sie es fördern. Wenn trotzdem die unendliche und unübersichtliche Kette dieser Paraphrasen niemals Langeweile einflösst, wenn die- ser ganze Band uns in eine sehr innerliche, sehr heftige Spannung versetzt, ja wenn er mich wenigstens mit, einer tieferen und an- haltenderen Aufregung erfüllt hat als irgendein deutsches Buch seit sehr viel Jahren, so kann das nur daher kommen, dass eine sehr starke zentrale Leidenschaft diesem äusserlich zerflossenen Werk innere Form und überwältigende Notwendigkeit sichert. Dass ein äusserlich sehr ungeformtes Buch von einem geheimnis- vollen Zentrum aus gewaltig packt, ist in Deutschland nicht so beispiellos. (Man denke etwa an Friedrich Theodor Vischers „Auch einer", diese unglaubliche Mischung von psychologischer Humoreske, Schauerroman, Bierulk und hinreissend persönlicher Aphoristik.) Und die Kraft, die da aus der Mitte wirkt, hat Tho- mas Mann wohl selbst beim richtigen Namen genannt, wenn er von einer „Gewissenhaftigkeit" spricht, die bis ans Hypochondri- sche und Pedantische streift, aber zugleich als leidenschaftlicher Trieb zu sittlicher Rechenschaftsablegung, zu geistiger Klarheit, zu künstlerischer Rundung schöpferischer Art ist. Aus solchen Kämpfen, ja Krämpfen des Gewissens ist Thomas Manns Buch entstanden. Es galt den Standpunkt zur politischen Welt, auf den ihn, den vorher ausserpolitischen Menschen, die Erschütte- rung des Krieges geworfen hatte, zu behaupten, zu befestigen, zu erkennen und zu erklären. Freilich ist dies Bedürfnis nach so gründlicher, so rastlos um- herspürender Rechtfertigung nicht ohne einen starken äusseren Anreiz erfolgt. Dieser Anreiz, der das Buch geschaffen hat und i3 Bab, Erwachen zur Politik 19^ ihm mit seiner fortdauernd schmerzhaften Spannung, mit seiner unterirdisch bitteren Allgegenwart wohl zur eigentlichsten Kraft- quelle wird, kann deutlich genannt werden, nachdem ihn Thomas Mann selbst bis auf den letzten keinem Kenner irgend etwas ver- schleiernden Woi;tschall ausgesprochen hat: Es ist der sehr hass- voll, sehr persönlich zugespitzte Angriff, den Heinrich Mann im November 1916 in seinem grossen Zola-Essay gegen Thomas Mann richtete, gegen den Bruder, der geraume Zeit vorher in seinem Friedrichproblem und anderen Aufsätzen zur Kriegsfrage Stellung genommen hatte. Die Sätze, die Heinrich Mann damals gegen die Nutzniesser des Patriotismus, die „Verräter atn Geist", die „elegant hergerichteten Feinde von Wahrheit und Gerechtig- keit", die „unterhaltsamen Schmarotzer der Machthaber" abge- schossen hat, gehen in verbissener Unermüdlichkeit durch diese sechshundert Seiten. Sie waren mit gewissen Wendungen ein- deutig auf das Haupt des Bruders gezielt, und Thomas Mann — „da stehe ich im Erdgeriesel, Eisenhagel, gelbem Stickqualm einer Giftgäsbombe und weiss nicht, ob ich noch lebe" — Tho- mas Mann wehrt sich seines Lebens. Dies ist es nämlich, dass kein gekränkter Autor, sondern ein im Kern seines Gewissens bedrohter Mensch sich zur Wehr setzt, was diesem Bruderzwist, der als Literatengezänk unerträglich wäre, dramatische Wucht und tragische Würde gibt. Thomas Mann hat vollkommen recht, wenn er gleich zum Eingang erklärt, dass auch dieser intime Konflikt „genug symbolische Würde habe, um ein Recht auf Öffentlichkeit zu besitzen". Dass diese äusserste Spannung des deutschen Geisteslebens in dieser von weltgeschichtlichen Ent- scheidungen überfrachteten Zeit im Kampf zweier Brüder von bedeutendem literarischen Ruf und Rang zum Ausdruck kommen musste, das hat so überzufälliges Gepräge, so tiefsinnige Form, dass der peinliche Eindruck eines veröffentlichten Familienzanks Mitlebender kaum aufkommt. Und wenn (natürlich!) das allzu Persönliche nicht ganz ausgeschaltet ist, wenn die literarische Gekränktheit dessen, dem man nachgesagt hat, dass sein Talent „früh vertrocknen sollte", über das sinnbildlich Bedeutsame hin- aus eine Rolle spielt, wenn jene Eitelkeit, mit der nach Schiller die Natur stets das Hohe und Niedre im Menschen verbindet nicht ganz fehlt — so wollen wir wahrhaftig von solchen psycho- logischen „Entdeckungen", die heutzutage wohlfeil wie Brom- beeren sind, kein Aufhebens machen. Vielmehr wollen wir aus- drücklich anerkennen, dass hier um das Grosse und das Ganze ein Kampf geführt wird, so wichtig und so tragisch verstrickt dass die Augen der Öffentlichkeit auf ihm ruhen dürfen und müssen, nicht obwohl, sondern gerade weil er zwischen Brüdern ausgefochten wird. Dies ist der Streit: Thomas Mann hatte in seinen „Gedanken zum Kriege" sich für das Recht Deutschlands gegenüber der Entente eingesetzt und auch den Einmarsch in Belgien (an der Hand der friderizianischen Parallele) verteidigt. Heinrich Mann hat ihn daraufhin in jenem grosszügigen und weitschicbtigen Zola- Essay der „ Weissen Blätter" , der als ein Gegenstück mensch- lichen Heldentums wider Thomas Manns Friedrich gestellt war, einen Verräter am Geist, einen Liebediener der Gewalt geschol- ten. Nun antwortet Thomas, indem er nach Heinrichs Ebenbilde den Typus des „Zivilisationsliteraten" aufstellt. Er schildert ihn als den Kern- und Wesenslosen, immer nur „Meinenden", den Virtuosen der blossen schönen Geste, den Fanatiker der leeren Begriffe, den Rhetor rein französischen Geblüts, den Widerdeut- schen von Grund auf. Und er hämmert den Begriff des Zivilisa- tionsliteraten so unermüdlich init immer neuen Schlägen fest, dass dieser Begriff wenigstens in den Bestand unseres höheren Sprachgebrauchs so sicher eingehen wird, wie etwa Nietzsches „Bildungsphilister". Es mag zunächst eine offne Frage bleiben, ob das von Thomas Mann entworfene Bild in allen Zügen als sprechendes Porträt Heinrich Manns gelten darf. Gar keine Frage scheint mir, dass Thomas Manns Polemik an sich in vieler Be- .3' ■ 19S Ziehung und wider vielerlei Zeitgenossen vollkommen recht hat. Er hat vor allem dort recht, wo er von der Kunst und wo er als Künstler spricht. Wahr ist es, dass eine Generation auf dem Marsche ist, die als sehr bedenklichen Ersatz für die liebevolle künstlerische Ver- senkung in die einzelne Gestalt eine bequem grossartige Rhetorik über den Begriff reiner Menschenliebe pflegt. Wahr ist es, dass eine jungdeutsch politische Kunstkritik aufzukommen droht, die Kunstwerte von Ewigkeitsgelialt an ihrer politisch fortschritt- lichen Brauchbarkeit abmisst. Wahr ist, dass all diese Erschei- nungen höchst lächerlich, ärgerlich und bekämpfenswert sind, weil der Künstler es immer nur mit der sinnlich fassbaren Ge- stalt zu tun haben kann, weil er tausend einzelne Menschen, aber niemals den Begriff der Menschen-Menge erleben und lieben kann. Und wahr ist es, dass eine Möglichkeit, diese sinnliche Welt zu erhöhen, zu kultivieren, zu durchgeistigen (durch Auf- deckung ihrer ewigen, unabänderlichen Tragik resp. Komik nämlich!), notwendig andere Formen annehmen muss als die des Politikers, der die sinnliche Welt erhöht, indem er sie zivilisiert, sie Ordnungsbegrilfen unterwirft — deren wichtigster als die Idee des „Fortschritts" alles hervorkehren muss, was an freien, beweglichen, veränderlichen Elementen im menschlichen Wesen steckt. — Der Künstler als solcher ist in der Tat das Ge- genteil eines politischen Fortschrittsmanns und muss vom Stand- punkt eines solchen schwer verkannt werden. Aber es ist zwischen beiden — und darin steckt die tragische Grösse des Konflikts — ein „Bruder" -Zwist. UndThomas Manu vergisst über den Zwist die Bruderschaft auf die Dauer fast so sehr, wie Heinrich Mann das seinerseits getan hat. Das ist nicht oder doch nur ganz nebenher im pei'sönlich-moralischen Sinne gemeint. Diese Beziehung darf uns ja überhaupt nur so weit in- teressieren, als sie symbolischen Charakter zeigt. Der Literat aber, der als Arbeiter mit dem Wort sehr viele, beinahe alle 196 Mittel des Dichters (die letzten ausgeiiomiiien) zu anderm, etwa sozialpolitischem Ziele richtet, er ist eben doch ein Bruder des Dichters. Seine Leidenschaft kann so echt und tief sein ^vie eine künstlerische, kann ihr in einem allerletzten Grunde, im Willen nach schöpferischer Erhöhung des gegebenen Lebens — als Wille ..„im Weinberge des Herrn zuarbeiten", wie die Frommen sagen — geschwisterlich verwandt sein. Ob Heinrich Mann nicht etwa ein solcher Literat grössten Stils ist, und ob sich der schwerge- reizten brüderlichen Kritik nicht Sinn und Recht dieser Erschei- nung hinter den gewiss auch hier vorhandenen menschlichen Eitelkeiten ungerecht tief verbirgt, ist eine Nebenfrage. Die Hauptsache ist, dass der Typus, dessen Kehrseite Thomas Manns „Zivilisationsliterat" so böse und so erschöpfend darstellt, auch in so idealer Reinheit gedacht werden kann. Mit Recht wehrt Thomas Übergriffe des politisch literarischen Geistes ins künst- lerische Bereich ab ; aber wäre es ihm nicht vorstellbar, ihm als dem Künstler, dem auch der eigene Kampf Schauspiel sein muss, dass sich mit ähnlichem objektiven Recht der politische Geist die Einrede des Künstlers in sein Gebiet ver- bittet? Freilich hatte Heinrich Mann in des Bruders politischem Einspruch persönliche Streberei, unsachliche Eitelkeit gesehen und damit sicher seiner Subjektivität schweres Unrecht getan. Aber vielleicht hat Thomas Mann doch mit edelstem Willen und aus persönlich sehr zu reichendem Grunde einer schlechten Sache gedient? Vielleicht muss es sogar dem von Beruf Unpolitischen so ergehen, wenn er dennoch politisiert ! Thomas Mann nämlich treibt ein etwas leichtsinniges Wort- spiel mit dem verteufelt realen und eindeutigen Begriff „Politik". Politik, sagt er (und er meint dabei Kult, Herrschaft, Höchst- wertung des politischen Interesses!), ist gleich Demokratie; und Demokratie ist gleich Rhetorik und Literatur. Nur die west- lichen Länder, England so gut wie Frankreich, Italien so gut wie Amerika, haben von Natur aus diesen dreieinigen Kult von Po- 197 litik, Demokratie und Literatur. Deutschland aber ist das musi- kalische, das dichterische, religiös protestantische Land und des- halb stumm, unliterarisch, undemokratisch. Bis zu diesem Punkte geht mit Thomas Manns These ein grosses Stück der Wahrheit. Sein alles beherrschendes Wortspiel aber wird in dem Augen- blick wahrhaft lebensgefährlich, wo er die Folgerungen zieht: Die politischen Formen, in denen Deutschlatid bis dahin lebe, müssten in ihrem Gegensatz zu den westlichen Demokratien be- rechtigt, naturgemäss und mindestens für Deutschland die bes- seren sein. Die unheilvolle und sicher unbewusste Begriffsver- schiebung, die Thomas Mann begeht, stammt daher, dass leiden- schaftlicher Kult des politischen Lebens erstens nicht mit Demo- kratie identisch ist — der starre, monarchische Kastenstaat der alten Ägypter ging in einem zur Religion erhöhten politischen Interesse auf! Zweitens und vor allem aber heisst eben Politik überhaupt nicht Vo rherrschaft politischen Denkens und Fühlens, es ist kein Maximalbegriff; sondern Politik drückt die Sorge für die äussere Form, Organisation und Unterhaltung der Gesell- schaft aus, die Sorge, deren Minimum unerlässliche Lebens- bedingung ist. Grad und Art spielen zunächst keine Rolle; aber ein Volk ganz ohne politisches Interesse wäre, wenn nicht mehr — so doch eben so sehr und auf einem sichtbareren und schnel- leren Wege des Todes, wie ein Volk ohne künstlerisch-religiöses Interesse! Wenn also tatsächlich bei den Deutschen das politische Interesse hinter anderen sehr zurücksteht, so ist dies keine Kraft, sondern eine S c h w ä c h e , ist das Laster einer sehr hohen Tugend. Denn politisch geformt werden muss das Leben des Volkes ja doch. Und Thomas Manns entscheidender Irrtum ist es, für das Gegenstück einer leidenschaftlich gewollten Politik eine unwill- kürliche, dem deutschen Volke zugewachsene Politik zu halten. Das aber gibt es nicht: Politik ist immer eine Sache des Willens und der Macht. Und ein Volk, das nicht sel- ber den Willen zur politischen Macht hat, empfängt seine po- 198 litische Existenzform vom Willen der Machthabenden, der inneren oder äusseren. Thomas Mann hat das Ungeschick (das Missgeschick eines Künstlers!), sich einmal auf Schopenhauers Verteidigung der Monarchie zu berufen: das Linnesche Pflan- zensystem könne durch kein anderes vernünftigeres ersetzt wer- den, weil dies mit seiner natürlichen Grundlage die Festigkeit des künstlichen Linneschen nie erreichen würde. Tatsächlich aber hat in der Botanik die der Natur nachgehende Systematik der Vernunft längst vollkommen gesiegt und den kunstvollen Linne zum alten Eisen geworfen! Ordnung, Organisation ist eben durchaus eine Sache der Vernunft und nur unter deren Herrschaft werden die lebensdienlichsten Formen auf die Dauer erkannt, vorgezeichnet und erreicht. Es war der höchst verhäng- nisvolle Irrtum, den Thomas Mann mit so vielen guten Deut- schen teilte, zu glauben, dass, weil sie sich nicht um die Politik kümmerten, ihnen schon von allein die Politik zuwachsen würde, die den Deutschen gut und angemessen sei! Sie übersahen, dass, da Politik immer gemacht wird, die deutsche Politik nun eben von dem ganz kleinen Kreise gemacht wurde, in dem durch unmittelbares Eigeninteresse doch politischer W^ille wach war. Es ist ein Irrtum und eine Kurzsichtigkeit, zu glauben, dass für die preussische Landrats- und Olfizierskaste die Politik in der ihr eigenen Form nicht mindestens so in des Lebens Mittelpunkt gestanden hätte, wie seine Art Politik für den französischen Advokaten oder den englischen Volksredner. Thomas Mann aber gerät durch den Irrtum, die mit zähester Interessenanspannung gemachte Politik dieser Klasse für das unwillkürliche Produkt des deutschen Volksgeistes zu hal- ten, in die Gesellschaft der verdächtig naiven deutschen Pro- fessoren, deren bequemer, halbbevvusst praktischer Mangel an Wirklichkeitssinn doch sonst durchaus unter seinem Niveau ist! Er bekommt es dann etwa fertig, einen nur im allerprivatesten Sinne achtenswerten Politiker wie Bethmann-Hollweg, dessen 199 unfrei schwankende Schwäche zwischen den Phrasen der kleinen Herrscherschicht und der Wirkhchkeit des grossen Volkes doch der volle Ausdruck (wenn auch nicht der Anlass) von Deutsch- lands Katastrophe war, für einen repräsentativen deutschen Bürger zu halten. — Er bekommt es dann fertig, der leichtsinnigen, augenblicksnützlichen Behauptung eines liberalen Tagespolitikers nachzusprechen, in Deutschland seien Heer und Volk eins, „keine Spur eines Gegensatzes bestehe zwischen ihnen" — er hat also wirklich nichts gehört und gesehen von der namenlosen Er- bitterung, mit der etwa achtundneunzig Prozent der zehn Mil- lionen Deutschen, die in diesen vier Jahren Uniform trugen, sich als totes, brutal gebrauchtes, entwürdigend missbrauchtes Material in der Hand der Klasse empfanden, die skrupellos ihr Machtinteresse mit dem Willen und Bedürfnis des deutschen Volkes identifi- zierte! hat nichts bemerkt von dieser namenlos harten Spannung^ dieser Überspannung, deren Zerreissen ja der entscheidende Vor- gang der Revolution gewesen ist! — Er bekommt es dann fertig, mit einer schon beinahe strafbaren, einer nahezu närrischen ^Sai- vität ein paar offiziöse Paradeauslassungen einiger Generäle als Beweis der in der deutschen Herrscherschicht heimischen Kultur anzuführen. Als ob er nicht genau wüsste, wie ungeheuer unbe- weisend für die Religiosität einer Klasse die zur Schau getragene Sonntagsfrömmigkeit eines Einzelnen ist. — Er bekommt es dann fertig, den grossen Zulauf der Vaterlandspartei für eine tiefgrün- dig echte Volksbewegung zu erklären, als ob seine Dichterpsy- chologie wirklich nichts von den hundertfach verschiedenen und verschieden fein abgestuften Korruptionen der Macht wüsste, vmd als ob ihm wirklich die schlichte Tatsache unbekannt geblieben sei, dass mindestens sechs Millionen Deutscher zwischen zwanzig und fünfund vierzig Jahren ihre leidenschaftliche Gegnerschaft gegen die Vaterlandspartei (in wörtlicher und mehrfach bewie- sener Weise) bei Todesstrafe nicht äussern durften. — Er be- kommt es dann fertig, das deutsche Staatswesen der Wilhelmi- 200 nischen Ära gegen die Demokratie als ein Staatswesen zu rüh- men, „worin für die Bekleidung eines Amtes besondere Kennt- nisse und Begabung, eine berufsmässige Vorbereitung als uner- lässlich erachtet wurde" — als ob er wahrhaftig nie etwas von dem beispiellosen Bankrott der deutschen Diplomatie mit ihrer reinen Adels- und Geldauslese gehört hätte, nichts von der un- erlässlichen Korpsbrüderschaft der höheren deutschen Beamten, nichts von der überaus begrenzten Oligarchie der preussischen Regierungsfamilien. Nein — der Glaube, dass die deut- sche Politik von der innern Natur dieses Volkes und nicht von dem W^illen einer sehr kleinen Oberschicht gemacht worden sei, widerspricht der schlichtesten Tatsachenkenntnis. Der Glaube aber, dass nur ein westlich verblendeter Zivilisationsli- terat das Wesen dieser HeiTScherkaste brutal, widergeistig, kutur- fern nennen könne . . . der Glaube messe sich an solcher Tatsache: Am 9.3. Januar 1914 sprach im deutschen Reichstag Friedrich Naumann, über dessen politische Qualitäten man ja streiten kann, der aber jedenfalls einen so starken Einschlag nationaler, ästhetischer und religiöser Elemente besitzt, dass ihn Thomas Mann gewiss nicht als Typ eines Zivilisationsliteraten hinstellen würde, die Worte: „Alle Paragraphen in Ehren, aber wir brau- chen Achtung vor den Menschen. Es ist die Frage, ob die Ge- walt mit Verstand und Menschlichkeit gepaart ist, ob das deut- sche Volk ausser der Macht auch noch Gemüt in sich hat." Bei dem Worte Gemüt brach auf den Bänken der Rechten, dort wo die herrschenden Politiker des Wilhelminischen Deutschland Sassen, stürmisches Gelächter aus. Ich bin der Meinung, dass es dieses Gelächter war, an dem das alte Deutschland zugrunde gegangen ist; ich bin der Meinung, dass dieses Ge- lächteres ist, an dem Thomas Mann undjeder schei- tern musste, der es unternimmt, zwischen der herr- schenden Politik des alten Deutschland und den Be- dürfnissen und Forderungen deutschen Wesen s in- 201 nerliche Verbundenheit zu behaupten. Dieses Gelächter bildete das zusammenfassende Epigramm der Zabern-Affare, die Thomas Mann bei seiner Abneigung gegen politische „Affairen" im ■westlich-demokratischen Stil so geringschätzig behandelt. Aber sollte ein Künstler seines Ranges wirklich ohne Gefühl sein für das Recht und die Grösse einer sittlichen Leidenschaft, die auch eine geringe Sache um ihrer sinnbildlichen Bedeutung willen mit allerletzter Anspannung ergreift, und in der Affäre des Haupt- mann Dreyfus etwa einen Kampf um die sittliche Würde eines ganzen Volkes, ja der ganzen Menschheit spürt? Lässt sich das Grosse der Menschheit denn überhaupt je anders ergreifen als in relativ geringen Einzelschicksalen, mögen es nun die des Königs Lear oder des Haviptmann Dreyfus sein? Und überdies, war denn die Affäre von Zabern an sich so gering? War sie nicht der offenbare Ausbruch eines ganz innerlichen Missverhältnisses zwischen dem Lebensgefühl eines Volkes und den, privatestem Bedürfnis entstammenden! Ehrbegriffen einer militärisch organi- sierten Herr scherkaste?! Und hat dies Missverhältnis nicht schuld, wenn ein grunddeutscher Volksstamm jetzt höchstwahr- scheinlich der deutschen Kultur für immer verloren geht?! — „Ich will nicht Politik, ich will Sachlichkeit, Ordnung und An- stand," sagt an späterer Stelle Thomas Mann. Aber wenn das, was Thomas Mann, o gefährliches Wortspiel! Nicht-Politik nennt, und was eben nur die andere, die nicht-demokratische, die feudal-kapitalistische Politik des neuen Deutschland war, wenn das wirklich nichts als Sachlichkeit, Ordnung und Anstand bedeutete, warum hat dann diese deutsche Politik so unge- heuren Hass nicht nur bei Polen, Dänen und Franzosen, son- dern auch bei den urdeutschen Elsässern erregt? Und warum ist die ganze Welt, durch die vier Jahre lang siegreiche Waffen die deutsche Herrschaft trugen, so schnell einig geworden im Hass gegen das deutsche Regiment? Warum verwünscht man den deutschen Militärbeamten von Wyborg bis Bagdad, von Lille 202 bis Libau? Warum haben die Juden von Bialystok und sogar die Deutschen in Riga, die den Einmarsch der deutschen Trup- pen unter Begeisterungstränen bejubehen, nach ein paar Mona- ten nur noch leidenschaftHchen Hass gespürt und sich vielfach nach der russischen Korruption zurückgesehnt, die vielleicht weniger Sachlichkeit und Ordnung, aber vom Anstand doch jener menschlich-brüderlichen Haltung einen Hauch besass, ohne den ein Geschöpf von einiger Würde, einigem Selbstbewusstsein das Leben nicht ertragen mag! Glaubt denn Thomas Mann ■wirklich, dass die Türken in Syrien, die Juden in Litauen, die Finnen und die Flamen alle ihrem klaren äusseren Vorteil zum Trotz einen so unwiderstehlichen Hass gegen das deutsche Regi- ment verspürt haben, nur weil sie von den demokratischen Ideen des Zivilisationsliteraten verseucht waren? weil das unliterarische, das seelisch-musikalische Wesen der Deutschen ihnen so feindlich fremd war? Sieht er denn nicht, dass dies bürgerlich romantische, dies stumm-musikalische Deutschland sich (aus politischer In- teresselosigkeit!) ein politisches Regiment hat aufprägen lassen, das seinem innersten Wesen ganz fremd und viel- leicht fremder als irgendeine französische Demo- kratie Avar?! Mit dem Heere Wilhelms 11. hätte eben etwas völlig anderes gesiegt als der Geist Beethovens und Goethes. Und Thomas Mann mag zwar in der Abwehr gegen die moralistische Bewertung der letzten Kriegseröffnung trotzdem recht haben, aber er trifft deshalb doch mit einer recht artistisch-unpolitischen Kurzsichtigkeit mehr einen farbigen Vordergrund als das Wesen der Sache, wenn er diesen Krieg im letzten Grunde den grossen Weltanschauungsstreit deutschen und westlichen Wesens nennt. Dieser an sich tiefe Gedanke wird, an den politischen Realitäten gemessen, in die er nun einmal gehört, flach. Solche kulturell geistigen Differenzen haben in diesem Kriege höchstens die pu- blizistische Kampfform, die literarische Ausdrucksart bestimmt, nicht das Wesen der Sache. Denn um das deutsche Regiment 203 der Wilhelminischen Ära zu hassen brauchte man durchaus kein Westler, kein Demokrat von pariserischer Rhetorik, kein Zivilisationsliterat zu sein, Thomas Mann hat vollkommen recht, wenn er in der Einlei- tung zu seinen so ausführlichen und so persönlichen Bekenntnis- sen den Vorwurf der Unbescheidenheit und der Indiskretion ablehnt; nicht Bescheidenheit, sondern Hochmut ist es, wenn man den tiefpersönlichen Charakter, den auch nach gewissen- haftester Sachprüfung unsere Stellungnahme zu so zentralen Lebensdingen behält, zu verschleiern sucht. Bei Dingen von so entscheidender Schwere ist nur das allersicherste Beispiel gut genug, und das ist für uns Menschen nun einmal immer da>s Selbst er lebte. So sei mir denn in der Kritik dieses grossen Bekenntaisbuches auch ein bekennendes Wort ge- stattet: Ich bin Jude und bin Deutscher, und auf dem Niveau, auf dem sich eine Unterhaltung mit Thomas Mann bewegen darf, brauche ich nicht erst zu beweisen, dass diese beiden Tatsachen sich nicht zu hemmen brauchen, sondern sich oft und z. B. bei mir gegenseitig befruchten und leidenschaftlich steigern. Ich bin also Deutscher in einem durchaus leidenschaftlichen Sinne. Dass ich heute den Weg zu Goethe gefunden habe, bei dem sich Deutschtum ins Über- nationale steigert, beweist nicht viel; aber ich bin ausgegan- gen, ich habe denken, fühlen, ja im besseren Sinne des Wortes leben gelernt von Männern wie Hebbel, Karl Lebrecht Immer- mann, Friedrich Theodor Vischer, Theodor Storm — Persön- lichkeiten also, die so ganz und gar, so nichts als deutsch sind, dass sie ein Westler niemals wird erleben oder auch nur begrei- fen können. Ich habe es jahrelang als das beste Glück betrachtet, das mir der sonst recht problematische Beruf eines Vortragsrei- senden brachte, deutsches Land, deutsche Städte und deutsche Menschen vielfach und gründlich und besser als aus Büchern kennen zu lernen; mein Kennenlernen ist eine immer wachsende, 2o4 zuweilen mich in der Heftigkeit ihres immer Neuwerdens selb<;t überraschende Zuneigung gewesen und nirgends auf der Welt war ich, bin ich und werde ich „heimisch" sein als in Deutsch- land. Unbekümmert um das in gewissen Literatenkreisen ja schon lange übliche hochmütige Achselzucken gegenüber solchen Gefühlsäusserungen habe ich diese Liebe oftmals bekannt, und die letzte Achtung aller Zivilisationsliteraten habe ich endgültig verwirkt, als ich einem von ihnen einmal öffentlich erklärte, dass es mir durchaus und gründlich unanständig schiene, die deutsche Sprache wesentlich zu benutzen, um sich in ihr zu beklagen, dass man nicht in Paris geboren sei. — Und dennoch! Dennoch bekenne ich, von meiner Geburt an, oder um unrednerisch wört- lich zu sein, von den ersten Tagen meines bewussteren Fühlens und Denkens an, eine ganz unbedingte, ganz un- theoretisch elementare Feindschaft gegen das neudeutsche Reichsregiment und seine repräsen- tative Menschenklasse empfunden zu haben. Wenn ich überhaupt genau weiss, was Hass ist, Nahgefühl einer unbe- dingt entgegengesetzten, die eigene feindlich ausschliessenden Lebensart, so weiss ich das hundertmal mehr als aus privaten Erlebnissen avis dem Gefühl, das mir von Kindheit an jedes blit- zende Monokel, jeder Habybart, jede blankgeputzte Uniform, jede patente Bügelfalte, jedes schneidig gekrähte „kolossal" ein- flösste. Ich stehe nicht an zu bekennen, dass ich in jedem gutge- schnürten Gardeleutnant, jedem karrieregemässen preussischen Referendar und jedem schneidigen Schalterbeamten meinen per- sönlichen Feind — Feind in einem völlig überprivaten meta- physischen Sinne — empfunden habe. Und ich füge hinzu, dass ich diesen Krieg schon im ersten Augenblick, und dann trotz der zeitweilig betäubenden Einsicht in die ja wirklich vorhandene gemeinsame Lebensgefahr aller Deutschen immer wieder und in steigendem Masse als den Krieg dieses Leutnants, dieses Assessors, dieses „abfertigenden" Beamten empfunden habe und deshalb 205 nicht als meinen Krieg und nicht als den des deutschen Volkes*). Des deutschen Volkes — denn es ist mir ganz gewiss, dass an der kalten Wut, die mir der stündlich erneute Anblick dieser entseelten neureichsdeutschen Schneidigkeit einflösste, gewiss auch mein Judentum mit seinen uralten ethischen Instinkten teil hatte, dass aber im mindestens gleichen Grade mich alles zu die- ser Feindschaft trieb, was deutsche Luft, deutsche Sprache, deutsche Kunst und nicht zum wenigsten deutsche Geschichte in mich gelegt hatten. Mit dieser Wahrheit persönlichster Er- fahrung muss ich gegen Thomas Mann erklären, dass man nicht ein innerlicher Franzose, ein ästhetisch exaltierter Revolutions- redner, kurzum ein Zivilisationsliterat zu sein braucht, um aller- bitterste Feindschaft gegen die Machthaber des Wilhelminischen Deutschland empfunden zu haben, und dass der von diesen be- herrschte politische Zustand nicht, wie Thomas Mann wähnt, der notwendige Ausfluss, sondern im Gegenteil eine rohe Verge- waltigung gerade des eigentlichen deutschen Wesens war. Auch noch so weit will ich mich allerdings mit dem Dichter der „Buddenbrooks" verständigen, dass es einen psychologisch gemeinsamen Ausgangspunkt des alten grossen deutschen Wesens und jenes unleidlichen neudeutschen Grössenwahns gibt. Schliess- lich stammte ja auch die Herrenschicht der Wilhelminischen Ära aus Deutschland, und sie stammle (wenn auch nicht viel anders wie die Pfaffen von Christus) von Bismarc k her. Von Bismarck aber führen Wege nicht bloss zu Goethe (denn welche Wege führen nicht nach diesem Rom unserer Kultur?), sondern gerade und kurze Pfade zu Kleist, zu Kaspar David Friedrich, ja zu Beethoven, an das Herz des stummen, singenden, des genialen Deutschland. Das Gemeinsame, was zwischen deutschem Wesen ') Dass dieser in Ursprung und Ziel volksfremde Kriegin seiner Gefahr, seiner Qual und nun — wir erleben es! — in seiner Konsequenz doch blutigste Sache des Volkes sein musste, das eben war das tragische Dilemma der Volksangehörigen und die furchtbare Schuld der Beherrscher. 206 und jenen neudeutschen Ministerial- und Bankdirektoren, Marine- und Industriekapitänen noch aufzufinden war, war allerdings eine vehemente „Sachlichkeit", eine Fähigkeit, ohne sentimentale und rhetorische Abbiendung die Wirklichkeit zu sehen und zu ergreifen. Diese unbedingte Hingabe an das Wirkliche ist aber Quell der Erneuerung, Grund des Schaffens, Ausgangspunkt grosser Persönlichkeitsbildung immer nur dort, wo sie einer über- persönlichen Leidenschaft, einem geistigen Schöpferwillen dient — wo mit einem Worte noch religiöse Kraft lebt. Religion ist nach Friedrich Theodor Vischers genialem W^ort „tragische Freude zu dienen", und für diesen Dienst kann die unbedingte Sachlichkeit deutschen Wesens eine unvergleichliche Voraus- setzung bilden. Öie kann, — aber wo dieser Wille zum geistigen Dienst fehlt, wo das religiöse Bedürfnis zur Phrase verblasst ist, die Ideale mit dem privatesten Standesvorteil völlig zur Deckung gebracht worden sind, wo alles Überpersönliche aufhört, da wird die blosse Sachlichkeitz urRoheit, das Fehlen der sentimen- talen Phrase wird aus einem Plus zu einem Minus! Denn Richard Dehmel sagt sehr richtig, dass noch des Heuchlers Fratze „für den Gott zeugt, den sie entstellt". Die nackte Brutalität beweist gegenüber der verhüllten keinen höheren Anstand, sondern nur einen völligeren Gewissensmangel! Zu dieser nackten Brutalität aber hatte die preussische Junkerkaste deutsche Sachlichkeit entwickelt, seit sie, der von je das reine Dienen schwer wurde und nur in einzelnen grossen Individuen ganz gelang, sich mit der modernen Industrieritterschaft, dem wüsten „Amerikanis- mus", der skrupellos aufblühenden neudeutschen Kapitalswirt- schaft gepaart hatte. Die völlige Entseelung, der reine Ungeist, der das Produkt dieser Kreuzung war, ward offenbar in ihrer vollkommenen kulturellen Unfruchtbarkeit; er zeigte sich in der stillosen Gleichgültigkeit, mit der sie zu ihren Dekorationszwecken (und die rein egoistische Macht braucht dort Dekoration, wo die Kulturmacht Kunst braucht), bei den Formen und Ideen der ent- 20' gegengesetztesten Kulturen ihre Anleihe machte; in der Art, wie sie sich von ihrem kaiserlichen Repräsentanten, diesem dilettantischsten aller Menschen, ahwechselnd die Kostüme von Kreuzfahrern, Rokokodespoten und modernen Werftdirektoren umhängen liess. Dass die scheussliche Sprache, die aus der Schneidigkeit des Gardeleutnants und aus der Schnoddrigkeit des Börsenschiebers geboren wurde, diese Sprache einer völlig entseelten Sachlichkeit ohne Biegung, Bindung und Schmuck, gerade der Jargon gewisser Expressionisten geworden ist und von ihnen zur Polemik für „entschlossene Menschlichkeit" benutzt wird — das ist der Humor davon. Dass aber Thomas Mann um der gemeinsamen Verwurzlung in stummer Sachlichkeit willen die neudeutsche Machthaberschaft mit der altdeutschen Geistig- keit gleichsetzt, das ist das Tragische davon. Unverwirrte Wirk- lichkeitserfassung ist immer eine bedeutende Kraftquelle, gewiss! aber das ist das Dynamit auch — und die Möglichkeit sittliche Wertunterschiede zu machen beginnt erst, wenn ich den Spreng- stoff zur Herstellung eines völkerverbindenden Tunnels oder einer menschen vernichtenden Höllenmaschine benutze. Die Herren der Wilhelminischen Epoche hatten die deutsche Sachlichkeit in solch eine Höllenma- schine geladen; sie waren es, die das schneidige Gelächter anstimmten, wenn man ihren Machtbetrieb mit einem Wort wie Gemüt zu kreuzen wagte — was ja wohl ein deutsches Wort ist!! Die ungeheure Entfremdung, die zwischen dem wahren deutschen Wesen und dem Wesen dieser unbedingt Regierenden bestand, diese innere Not allein bildete den Zündstoff, in den nur der Funke der äusseren Not zu fallen brauchte, um die Re- volution zu entladen. Von der Religion, der tragischen Freude zum Dienen, dem reinen Gottesdienst eines Schöpferwillens war nichts in denen, die Deutschland bis 191 8 beherrschten; statt dessen trieben sie einen Götzendienst ihrer Ehre, ihrer Macht, ihres Reichtums. 208 Es war nach der Zabernaffäre und jenem Gelächter, als ich in bezog auf jene schneidigen Männer das Bibehvort zitierte: „Wohl denen, die gerecht sind und keine Götzen haben, sie werden nicht zum Spott." Sie sind nun zum Spott geworden, weil sie nicht gerecht waren und sehr viele Götzen hatten. Ist es nicht ein wahrhaft gründlicher Irrtum, wenn Thomas Mann glaubte, dieses Regiment in Schutz nehmen zu müssen — um jenes alten lebensfrommen, zum reinen Menschen- und Gottes-Dienst wil- ligen, jenes auch ohne den Ansporn grossartiger Phrasen sach- treuen und hingebenden Deutschtums willen, das noch immer den unendlich ehrwürdigen Kern unseresVolkstums bildet? Wenn er glaubte, über den persönlichen Anlass und den ihm nächsten Fall hinaus Stellungnahme gegen das regierende und kriegfüh- rende Deutschland nur mit einer grundundeutschen, von west- lichen Begriffsräuschen trunkenen Gesinnung erklären zu kön- nen? Gewiss, der Zivilisationsliterat, wie Thomas Mann ihn zeichnet, ist ein scheusslicher Typus; die gründlich lieblose Art, wie er die deutschen Menschen mit grund französischen Begriffen von Menschenliebe vergewaltigt, ist abscheulich. Aber wir wol- len doch nicht verkennen, dass hier ein vom Genie des Hasses abgemalter Grenzfall, ein Äusserstes ist, und dass es auf der an- dern Seite, wo nicht mehr die Leidenschaft deutschen Gewissens wie bei Thomas Mann tragische Irrwege geht, sondern vorteil- hafteste Dummheit es sich einfach bequem macht, einen Typus deutschvaterländischer Dichter gab, der es an Ruchlosigkeit wohl mit jedem Zivilisationsliteraten aufnehmen konnte — und der für das Wesen des deutschen Dichters doch genau so wenig re- präsentativ war wie jener Zivilisationsliterat für Wesen und Mög- lichkeit eines wahren politischen Schriftstellers. Denn noch ein- mal: es bleibt ein Bruderzwist, ein Zwist ebenbürtiger Brüder! Wenn der politische Schriftsteller Bernard Shaw seinen Willen zum Sozialismus gegründet sieht in einem „Gefühl für ber dauerndeii^(.,/vj.^^ Mangel bringt. Da die Produktion auf viele in* ihren Interessen oft widersprechende Gruppen verteilt ist, Sozialismus aber die Wahrnehmung des Gesamtinteresses aller bedeutet, so ist klar, dass Sozialismus im letzten Grunde ein Konsum enten- standpunkt sein muss. Die Interessen von Bauern und Berg- arbeitern, Schneidern und Maurern, Schauspielern und Apo- thekern können nur dadurch zusammengehen, dass all diese Pro- duzenten doch auch Konsumenten sind, und dass jeder einzelne von ihnen sowohlNahrung wie Kleidung,Wohnung wie Heizung, leibliche Arznei und geistige Anregung braucht. Wenn der Sozialismus in seiner marxistischen Form auch an einen Produk- tionsprozess anknüpft, und den Weg zur wirklich gerechten so- zialen Gesamtordnung in jener Vergesellschaftung der Produk- tionsmittel sucht, die den Mehrwert des Unternehmers beseitigen und der Gesamtheit dienstbar machen will, so bezweckt er damit doch letzten Endes nie die Förderung einer einzigen beliebig grossen Produzentenklasse, sondern der konsumierenden Volks- ganzheit. Im Interesse des Volksganzen soll der eingezogene Mehrwert verteilt werden (was ebensogut wie durch höhere Löhne oder herabgesetzte Arbeitszeiten durch billigere Preise zum Ausdruck kommen könnte!) — im Interesse der konsumie- renden Gesamtheit soll der blinde Konkurrenzkampf mit seinen gefährlichen Krisen einer planvoll umfassenden Organisation weichen. Für dieses Ziel ist alles andere, auch jede Umgestaltung der Produktion nur Mittel, und als das politische Mittel hatte die „Sozialdemokratie" die Demokratie, das heisst die Herrschaft der Mehrheit verkündet, weil eine Ordnung, die für 219 die ungeheure Mehrheit des Volkes Verbesserung der Lebens- verhältnisse bedeutete, für ihren Sieg nichts als die anerkannte Souveränität der Mehrheit zu brauchen schien. In jenem, freilich materiell und seelisch furchtbar belasteten Augenblick, in dem das Werk der Sozialisierung durch Demo- kratie nunmehr vollzogen werden sollte — da wurde der Ent- wicklung äusserst verhängnisvoll, dass dieser volkumfassende Gedanke bisher vor allen Dingen als Lehre einer bestimmten grossen Produzentengruppe, nämlich der Industriearbeiter wirk- sam geworden war. Marxens Meinung vom Aufhören des Mittel- standes, der Aufteilung des Volkes in eine winzige Grossunter- nehmerschicht und ein allgemeines Proletariat hatte sich als Irrtum erwiesen; und deshalb wurde der sozialistischen Idee die Gleichsetzung von Industrieproletariat und Volk ver- hängnisvoll. Der grosse sozialistische Volksgedanke drohte an der Klassentheorie, den die marxistische Entwicklung ihm bei- gesellt hatte, zu scheitern. Diese ganz bestimmte Produzenten- gruppe erhebt jetzt den Anspruch, gleich dem ganzen konsumie- renden Volk zu sein, und da sie, trotz ihrer Grösse und Bedeutung noch nicht einmal die grössere Hälfte in dem konsumierenden Volksganzen bildet, so verwirft sie in gewissen Kreisen und Füh- rern plötzlich den demokratischen Gedanken und proklamiert die Diktatur des industriellen Proletariats als geeignete Verfas- sungsform. Womit an die Stelle des in all seiner notgedrungenea Mechanisierung doch geistigen Mehrheitsprinzips das Prinzip der Gewalt gesetzt ist. Und da auf Gewalt unausweichlich Gewalt antwortet, ist mit diesem, dem bolschewistischen, Prinzip der Bürgerkrieg unausweichlich geworden. Der Kern dieser gefähr- lichen Wirrsal aber scheint mir zu sein, dass der Sozialismus, diese Heilslehre des ganzen konsumierenden Volkes, in das Pro- gramm einer begrenzten Produzentenklasse verzerrt wird. Für den sozialistischen Grundwillen: die Anarchie der Produktion durch eine überlegene, dem Volksganzen dienende Ordnung zu 220 bändigen, ist es nämlich kein entscheidender Unterschied, ob die volksschädHche Willkür von ein paar tausend Unternehmern oder von ein paar Millionen Arbeitern ausgeht. Nur Instanzen, die der demokratische Vergleich aller geschaffen hat, können die Produktion im wahren Interesse aller Beteiligten regeln. Statt dessen erleben wir, dass das gleiche schrankenlos gewor- dene Produzenteninteresse, welches für das Volksganze die Demo- kratie verwirft, in höchst bedenklicher Weise das demokratische Prinzip innerhalb der einzelnen Betriebe aufpflanzt. Das Interesse der Gemeinschaft an einem Betriebe ist vor allem eines: dass er gut funktioniert, und für die Gesamtheit der Konsumen- ten die gewünschten Früchte trägt. Das Freiheitsrecht jedes ein- zelnen Arbeitnehmers ist ja im sozialistischen Staate dadurch verbürgt, dass er als konsumierender Volksgenosse (durch das demokratische Mittel) an der gesamten Ordnung der Volkswirt- schaft mitbeschliessen kann. Sein Recht zu demokratischer Mit- bestimmung innerhalb des einzelnen Betriebes aber muss gerade im sozialistischen Staate durchaus dem Gesichtspunkt einer mög- lichst grossen Produktivität des Betriebes untergeordnet sein. Ge- nau derselbe sozialistische Gedanke, der dem Eigentum Schran- ken setzt, verlangt auch vom Arbeitnehmer in bezug auf sein Mitbestimmungsrecht im Produkiionsprozess denjenigen Grad von Resignation, den die besonderen Lebensbedingungen der Betriebe in sehr verschiedenem Grade erfordern. Gewiss ist das mögliche Maximum von Freiheit und Mitverantwortung auch hier überall anzustreben. Aber diese Möglichkeit ist um so enger begrenzt, je mannigfacher, je mehr auf das Zusammen- gehen sehr verschiedener Kräfte eingestellt ein Betrieb ist. Das Interesse etwa der Maurer, sich ihren Bauführer selbst zu wäh- len, über Einstellung und Entlassung ihrer Mitarbeiter selbst zu bestimmen, muss unbedingt seine Grenzen finden an dem höhe- ren Interesse der konsumierenden Gesamtheit, dass ihr nicht die Häuser über dem Kopf einfallen, und dass deshalb nur Menschen 221 von ganz bestimmter, von einer übergeordneten Instanz zu kon- trollierender Qualität-als Baufübrer sowohl wie als Maurer ein- gestellt, oder bei negativem Befund abgesetzt werden. Immerhin wird bei der einheitlichen Fachkenntnis im Baubetriebe die Grenze für das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer nicht so eng zu liegen brauchen wie etwa bei einem Zeitungsbetriebe, wo bereits der Korrektor höchstwahrscheinlich kein sachliches Urteil mehr über die Eignung des Expedienten haben kann, und der Han- delsredakteur wahrscheinlich gar nichts von den Gaben eines guten Theaterreferenten versteht. In einem so komplizierten Be- triebe würde der Mehrheitseinfluss auf Einstellung und Entlas- sung der Angestellten und Leitung des Ganzen zweifellos jedes fruchtbare Funktionieren des Betriebes lahmlegen. (Immer natür- lich vorausgesetzt, dass solch „Betriebsrat" nicht eine beratende und kontrollierende, wohl auch an eine vom Gesamtinteresse ge- schaffene Instanz appellierende, sondern eine souveräne Funk- tion ausüben soll.) So wenig wie der grössere Gewinn des Unternehmers Argument für eine volkswirtschaftlich schädliche Überproduktion, so wenig darf im soziali- stischen Sinne eine grössere Macht des Arbeitnehmers Argument für eine volkswirtschaftlich schädliche Un- terproduktion sein. Je weniger gleichförmig, mechanisch, ab- messbar die Leistungen der Mitarbeiter innerhalb eines Betriebes sind, je weniger wird er sich in der Regel zu demokratischer Or- ganisation eignen. Denn das Zusammenfassen sehr verschiedener Kräfte ist eine Kunst, und künstlerische Aufgaben auch im aller- weitesten Sinne dieses Wortes, kann nur die machtvolle Per- sönlichkeit lösen. Bei solchen Betrieben wird das demokratische Kontrollrecht der Arbeitnehmer sich durchaus auf die rein wirt- schaftlichen Grundlagen beschränken müssen. Sobald es weiter hinauf geht, zerstört es die Leistungsfähigkeit des Betriebes und wird antisozial. * 222 Die ganze Gefahr nun, die in der Verwechslung von SoziaU- sierung eines Betriebs, das heisst seiner grösstmöglichen Frucht- barmachung für die Gesamtheit, mit einer grösstmöglichen Frei- heit und Souveränität der Arbeitnehmer steckt, diese ganze Ge- fahr sammelt der Brennspiegel „Theater" in einem bis zum Grotesken deutlichen Bilde. — Das Streben nach der Sozia- lisierung des Theaters ist eine der ältesten, edelsten und tiefsten Leidenschaften der deutschen Geistesgeschichte. All die Kräfte, die seit den Tagen Lessings, Goethes und Immermanns immer wieder grade in Deutschland die reinsten und besten Geister an die Idee des Nationaltheaters gewandt haben, was waren sie im Grunde anderes als Ausfluss des Willens, dies kost- bare Instrument Theater, diese einzigartige Möglichkeit, breiteste Massen mit der tiefsten Gewalt künstlerischer Erschütterung zu packen, diese „Schaubühne" aus einem Institut zweifelhafter Be- lustigung zu einer „moralischen Anstalt", einem Tempel grosser Gefühle (wie sich erst die Aufklärung, dann die Romantik aus- drücken mochte) zu wandeln. Dies hiess hier aber nichts anderes als das Theater zu einem wirklichen Gemeinbesitz der Nation zu machen, es der Ausbeutung zufälliger Unternehmer, dem Genuss privilegierter Stände zu entziehen, es zu sozialisieren. Und geraume Zeit schon weiss man, dass diese Sozialisierung durch- aus auch, und sogar in erster Linie, eine wirtschaftliche sein muss; dass man ewig das Haus vom Dache aus baut, solange man den Anfang mit bestimmten künstlerischen Programmen macht, und dabei nur, wie in Bayreuth, in Oberammergau oder in Thale mit internationaler Reklame einen Geldpöbel zusammentrommelt. Man weiss, dass ein durchgreifender Umbau, eine echte Nationa- lisierung, Sozialisierung des Theaters nur vom Publikum aus geschehen kann, durch Erneuerung der wirtschaftlichen Funda- mente. Unsere Hof- und Stadttheater, die verschämte, und zum allergrössten Teil recht heuchlerische Komplimente an die soziale Verpflichtung des Bühnengedankens waren, und bei denen die 223 grosse künstlerische Volksidee ständig von lächerlich privaten Ansprüchen des Monarchen und stumpfsinniger Geschäftsbe- dachtheit des Magistrats durchkreuzt wurde, sie müssten zu wirk- lichen Landes- und Gemeindebühnen umgeschaffen werden — müssten das vermutlich im Anschluss an Organisationsformen wie sie in den ernsthaftesten sozialen Ansätzen der neueren Theatergeschichte vorgebildet sind: in den Berliner Volks- bühnen, die mit ausserordentlichem Erfolg den Anfang mit einer Organisation der Konsumenten, des wirklich theaterbedürf- tigen und theaterwilligen Volkes gemacht haben, und von da zu einer eigenen Ensemblebildung, einem prachtvollen eigenen Hausbau und vielleicht bis an die Schwelle einer eigenen neuen Stilbildung der Bühnenkunst vorgeschritten sind. Jetzt nachdem die Revolution die Höfe beseitigt, die Stadtverwaltungen demo- kratisch erneuert, das soziale Gewissen in allen Lebenskreisen wachgerufen hat, jetzt schien endlich die Zeit gekommen, auch die Verwirklichung des alten deutschen Traums vom National- theater in nie vorher erhoffter Gründlichkeit, von den tiefsten volkswirtschaftlichen Wurzeln her, in Angriff zu nehmen. Aber was geschieht? Die Diskussion über Theaterreform wird in der Tat so heftig, wie man es in Deutschland in einer Zeit allgemeinster Reformdebatten und eines aus allerlei Gründen schon längst mächtig anschwellenden Theaterinteresses erwarten konnte. Aber was wird diskutiert? was steht lärmend und laut und mit der Gebärde hauptsächlichster, ja beinahe alleiniger Wichtigkeit im Vordergrund? Nicht das Konsumenteninteresse des Volksganzen, nicht die Frage der Volksveredlung und Volks- erhebung, der zu dienen im sozialen Staat die einzige Existenz- berechtigung und das einzige Formprinzip der Bühne sein müsste! Mit ungeheurem Lärm und absoluter Gebärde drängt sich in den Vordergrund das Produzenteninteresse, das Interesse des winzigen Volksteils, dem die Herstellung des Theaterguts obliegt; in charakteristischer Weise ist nicht einmal von allen 224 Arbeitern der Theaterproduktion, sondern nur von ihrer best- organisierten Hauptgruppe, den Schauspielern, die Rede. Und so geht die Diskussion, als wäre die Sozialisierung des Thea- ters nicht eine wichtige Angelegenheit für das geistige Leben eines Sechzig-Millionenvolks von Deutschen, sondern die Privat- sache einer Schar von bestenfalls sechzigtausend Schauspielern! Wenn von der Reform der königlichen Theater in Berlin die Rede ist, die durch ihre unselige Abhängigkeit seit langem für die breite Masse der Konsumenten und (zum mindesten im Schau- spiel) auch für alle wahren Kunstfreunde verloren waren, so spricht man nicht von einer Erneuerung der Besucher- organisation, des Publikums, auch nicht von der künstleri- schen Erneuerung des Ensembles, der Regie, des Dekorations- wesens, des gesamten Bühnenstils. Nein — das ganze Wesen der Sozialisierung scheint erschöpft in der Frage, welchen Einfluss die Organisation der Angestellten, der theatralische Arbeiterrat künftighin auf die Leitung der Geschäfte, die Ernennung des Bühnenleiters, den Abschluss des Engagements usw. haben wird. Nun kann niemand in den letzten Jahrzehnten in Deutschland überzeugter und entschiedener für das wirtschaftliche und mora- lische Recht der Schauspieler gegen das oft ganz skrupellose Aus- beutertum der Theaterunternehmer eingetreten sein als der Schrei- ber dieser Zeilen. Besonders den weiblichen Mitgliedern gegen- über gab und gibt es zum Teil noch Institutionen, die auf ein nahezu unverhülltes Rechnen mit ausserkünstlerischen, sexuellen Nebeneinnahmen der Mitglieder hinauslaufen; aber ganz allge- mein stellten die meisten Theaterhausordnungen, und meist ihre ungeschriebenen Paragraphen noch mehr als ihre geschriebenen, eine der allerskrupellosesten und hässlichsten Überspannungen des Prinzips vom „Herrn im eignen Hause" dar, das in dem so weiten Bereich des Unternehmertums zu finden war. Keine Frage, dass die Macht der Theaterunternehmer, der Direktoren oder ihrer finanziellen Flintermänner, der Agenten und Impresarien i5 B ab, Erwachen zur Politik 225 gebrochen werden muss, und dass den Schauspielerräten sehr viele Macht gebührt, soweit es sich um die wirtschaftUche Sicher- stellung und die soziale Ehre der Angestellten ihres Betriebes handelt. Aber eine dringend aufzuwerfende Frage, ja eine Le- bensfrage des ganzen Theaterbetriebes ist es, ob die eigentliche Leitung des Theaters, d. h. die Wahl der künstlerischen Vor- stände, die Entscheidung über Engagements, über Rollenvertei- lung und Repertoirebildung in die Hände der Schau spieleraus- schüsse übergehen soll. Dies aber ist es, was, geleitet von der naiven und starken (starken, weil naiven) Demagogie ihre» Ge- nossenschaftspräsidenten, die Schauspieler tatsächlich in Anspruch nehmen; und dies ist der Punkt, wo ich mich aufs allerleiden- schaftlichste gegen ihre Ansprüche wende, deren Erfüllung mir den Ruin des ganzen Betriebes zu verbürgen scheint. Und dies ist zugleich der Punkt, wo der Fall so ausserordentlich interes- sant wird als das Schulbeispiel eines in sein Gegenteil verkehrten Sozialismus und einer sinnlos gewordenen Demokratie: Der schrankenlose Machttrieb einer winzigen Produzentengruppe droht ein wichtiges Interesse der grossen Konsumentengenossen- schaft zu vernichten — Arbeitnehmeranarchie statt Sozia- lismus! * Denn das ist gewiss: die Herrschaft souveräner Schauspieler- ausschüsse würde auf dem Wege zum wahren Nationaltheater ein mindestens ebenso vollkommenes Hindernis werden wie es die Herrschaft der einzelnen Theaterunternehmer bisher war. Wenn die deutsche Theatergeschichle bisher irgend etwas ein- deutig klr.r bewiesen hat, so war es erstens dies, da?s ihre grossen Augenblicke incmer nur kamen unter der uneingeschränkten Führerschaft grosser Persönlichkeiten. (Die übrigens mit sehr wenigen und nie ganz unbedingten Ausnahmen allesamt keine Schauspieler waren : Dalberg, Goethe, Immermann, Laube, Din- gelstaedt, Georg von Meinigen, Brahin.) Und zweitens, dass jeder 226 Versuch, die Theaterleitung einem Kollegium, und gar einem Kollegium von Schauspielern, anzuvertrauen, auf das kläglichste scheitern musste. Das letzte Beispiel war das stärkste: die unge- vröhnlich hochstehenden, in jahrzehntelanger Zusammenarbeit verbundenen Mitglieder des Brahmschen Ensembles wollten ge- meinsam mit Deutschlands erstem Bühnendichter Gerhart Haupt- mann nach dem Tode Brahms eine kollegiale Direktion führen, und es dauerte keine vier Monate, bis ihr „Deutsches Künstler- theater" in jedem möglichen Sinne des Wortes gescheitert war. Dass hier kein Zufall, sondern ein Gesetz waltet, braucht uns aber nicht nur die in soviel entschiedenen Wiederholungen un- überhörbare Sprache der Empirie zu sagen; das W^esen, der Be- griff der Sache spricht aufs allerdeutlichste: Im Theater soll eine Fülle sehr verschiedener und rivalisierender Kräfte zu einer gros- sen einheitlichen Gefühlswirkung zusammengefasst werden. Dies ist eine eminent künstlerische Aufgabe, eine Aufgabe, die nur aus dem innersten Gemütszentrum einer starken Persönlichkeit, niemals durch Vergleich oder Mehrheitsbeschluss halb verant- wortlicher Kommissionsmitglieder zu lösen ist. Viel eher wird eine Malerkommission in gemeinsamer Arbeit ein Werk von Rembrandtschem Rang, als eine Theater- kommission eine künstlerisch schöpferische Bühnen- leitung zustande bringen. Die Divergenz der beteiligten Kräfte nämlich muss hier noch viel grösser sein als dort. Denn selbst, wenn ich ganz unstatthafterweise einmal annehmen will, dass Theaterproduktion nur durch Schauspieler zustande kommt (während in Wahrheit doch noch in erster Linie der drama- tische Dichter, in zweiter Maler, Musiker, Techniker stark mitbeteiligt sind), selbst dann habe ich es ja noch mit der schwe- ren Aufgabe zu tun, ein Bündel durchaus zentrifugaler Kräfte zusammenzuhalten. Nur der völlige Theaterfremdling wird be- streiten, dass das tiefste und berechtigtste Wesen des Schauspie- lers in seinem Rollenegoismus zum Ausdruck kommt und zum i5' 227 Ausdruck kommen muss. Die Rolle (keineswegs das Ganze des dramatischen Eindrucks!) ist für den einzelnen Schauspieler das unentbehrlichste Lebensmittel, das einzige Instrument, durch das er die gärenden Kräfte seines Innern zu einer Form sammeln, schöpferisch werden kann. Selbstverständlich und notwendig ist es also, dass er bei jeder Gesamtdisposition mit skrupelloser Ener- gie um seine Rollen kämpfen wird, und innerhalb jeder einzel- nen Inszenierung, um die Gesamtwirkung unbekümmert, den Wirkungsmöglichkeiten seiner Rolle nachleben wird. Die ganzen, doch eigentlich niemals verkannten Schwierigkeiten der En- semblebildung und der Regie laufen ja lediglich darauf hinaus, diese Sonderbestrebungen der Schauspieler im ganzen und im einzelnen Falle in Schranken zu halten und gegeneinander aus- zugleichen. Nun stelle man sich vor, dass die Leistung dieser ausserordentlich schweren Aufgabe letztinstanzlich den Leuten zufällt, gegen deren Sonderinstinkte sie im Grunde gerichtet ist! Das ist Münchhausen, der sich am eignen Zopfe aus dem Sumpfe ziehen soll. Kein Mensch, der weiss, dass in jedem Falle eine Theaterleitung das ununterbrochene Anschwimmen eines Ein- heitswillens gegen die endlose Flut solcher Widerstände ist, kann zweifeln, dass dies dasChaos, den Untergang jedes leistungsfähigen Theaterbetriebes bedeuten müsste! Der Kundige denke sich nur einen Theaterbetrieb, in dem jeder Schauspieler, der die Rolle, die ihm seiner Meinung nach zusteht, nicht erhalten hat, in der Lage sein wird, ein thronstürzendes Misstrauensvotum gegen den künstlerischen Leiter zum mindesten zu beantragen! Man stelle sich eine Repertoirebildung vor, die bewusst oder unbewusst unter dem Druck einer Kommission von rollenbedürftigen Schauspie- lern stehen wird! Man stelle sich aber ferner mit Vernunft vor, wie eigentlich die zu künstlerischer Leistung dringend notwen- dige Erneuerung des Ensembles an gewissen grossen Hof-und Stadttheatern vorgenommen werden soll durch einen künstleri- schen Leiter, der unter wesentlicher Mitwirkung der Schauspieler 228 gewählt ist und von ihnen abhängig bleibt!? Denn dass der Ge- wählte sofort auf Pensionierung oder andere Ausscheidung eines Teils seiner Wähler hinarbeitet, ist ja wohl nicht denkbar; aber eine Erneuerung, Vereinheitlichung, künstlerische Belebung eines Ensembles ohne solche Massregeln ist erst recht nicht denkbar ! Kann solchen Argumenten gegenüber, die man leicht verzehn- fachen könnte, ein Zweifel bestehen, dass ein künstlerischer Leiter, der von seinen Schauspielern abhängig ist, nichts Brauch- bares leisten kann, dass der Theaterbetrieb bei solcher Organi- sation, das heisst bei einer für den Arbeitnehmer schrankenlos demokratischen Verfassung im tiefsten Sinne unproduktiv werden muss?! * Das aber ist die Moral von diesem Schulfall, dass sich hier mit der ganzen Naivität, die dieser absonderlichen Art von Arbeit- nehmern eignet, der schlichte und völlig antisoziale Stan- desegoismus enthüllt, der sich „Sozialismus" nennt! Als ob für die sechsmal sechsMillionenderdeutschenTheaterkon- sumenten irgend etwas gewonnen wäre, wenn künftig statt sechshundert direktorialen Unternehmern, sech- zigtausend Schauspieler das Zustandekommen eines künstlerischen Nationaltheaters verhindern werden. Nichts ist verräterischer als diese kleine Anekdote: bei den Ber- liner Debatten verlangte der Schauspielerführer mit Emphase Herabsetzung des Gewinnanteils der dichterischen Theaterpro- duzenten, lehnte aber mit gleicher Emphase die wahrlich sehr, die fundamental berechtigte Forderung nach einer entsprechenden Reduzierung der schauspielerischen Slargagen ab, — die doch gar keinen geringen Anteil an der unkünstlerisch kapitalistischen Gebarung der gegenwärtigen Theater haben! Das Entscheidende aber ist, wovon keiner sprach: nämlich von der Konsumenten- organisation, von der Zahlungsfähigkeit der Theaterbesucher, von der aus allen Kräften zu erstrebenden Zugänglichkeit der 229 Bühnen für breiteste Massen, und von der ausschliesslich auf solcher Basis zu berechnenden, und nach solchem Massstab allein gerechtfertigten Honorierung aller Produzenten — kurz von dem einzig echten, dem dringend notwendigen so- zialen Standpunkt! Ein nacktes, hier in seiner prozentualen Bedeutung besonders winziges Arbeitnehmerinteresse, das absolut feindlich gegen das gewaltige Konsumenteninteresse steht, nennt sich Sozialismus! Und es handelt sich nicht einmal um ein wohlverstandenes Pro- duzenteninteresse! Denn wenige Dinge sind mir so sicher, wie dass die Schauspieler, wenn der kurze Rausch der jungen Macht vorüber ist, sich unter ihren souveränen Ausschüssen so schlecht fühlen werden, dass sie womöglich den alten ünternehmerdespo- tismus zurücksehnen könnten. Denn ist es, solange Menschen Menschen sind, zu denken, dass die Abhängigkeit von einem Kollegium letzten Endes konkurrierender Kollegen auf die Dauer weniger drückend, weniger mit ünsachlichkeit und Intrige dro- hend sein sollte, als die Abhängigkeit von einem vielleicht lau- nischen, vielleicht unsachlichen, aber wenigstens doch nicht geg- nerisch interessierten Einzelnen?? — Damit soll nun aber keines- wegs gesagt sein, dass alles beim alten bleiben müsste. Vielmehr sagte ich ja schon oben, dass eine grundsätzliche Reform der Theatergesetze und ein praktischer Schutz der Theatermitglieder dringend nötig ist. Und kein Zweifel, dass Angestelltenausschüsse zu bedeutsamer Mit-Arbeit auch hier berufen sind — nur eben zu keiner souveränen. Souverän ist für wahrhaft soziales und demokratisches Denken überall nur die Gesamtheit, das durch das allgemeine Konsu- menteninteresse geeinte Volk. Wenn es den Produktionszweig Theater dem wirtschaftlichen Unternehmer aus der Hand nimmt, selbst Besitzer wird, und nun (gewiss nicht ohne, neben anderen Sachverständigen, auch Schauspielerausschüsse zu hören!) die Bühnenleiter ernennt, so ist damit die Stellung eines Theater- a3o direktors gegen früher schon so stark verschoben, dass ihm ein unsoziales Verhaken im alten Sinne kaum noch möglich ist. Darüber hinaus muss dem Angestelltenausschuss ein Beschwerde- recht an die einzig souveräne Instanz, die nach demokratischer Art repräsentierte Gemeinde, das Volk, zu Gebote stehen. Einzig aber die Gesamtheit, die den Bühnenleiter beruft, darf ihn ab- setzen können. Solange er, vom Vertrauen des souve- ränen Bühneninhabers: Volk getragen, das Theater leitet, muss er in dieser Leitung unbeschränkt und in allen Einzelheiten ausschlaggebend sein. Anders wird nicht eine einzige gute Vorstellung, geschweige denn die künstlerische Gesamthöhe eines Theaters zustande kommen. * Noch einmal und immer wieder: Sozialismus heisst am Theater wie überall Konsumentenorganisation. Al- les hat aus der grundlegenden Organisation des Publikums zu folgen: nach der Art und dem Umfang derjenigen wirtschaft- lichen Aufwendung, die das Theater zu einem echten Volksin- stitut macht, sind alle Ausgaben zu bemessen — nicht zum we- nigsten die Schauspielergagen, meine Verehrtesten! ! — Und nach dem Interesse des Publikums und dem Entscheid seiner erwähl- ten Vertreter hat sich Auswahl und Machtumkreis des künstle- rischen Leiters zu richten. Wie die ganze Theatergescbichte, so beginnt jede wahre Theaterreform mit dem Satze: Im Anfang war das Publikum. Und dies ist nur spezielle Anwendung des allgemeinen Satzes: Im Anfang istdas Volk, die Konsumgemeinschaft aller, und nur seine Interessen Wahrnehmung heisst mit Recht Sozialismus! Der spezielle Fall ist wichtig genug. Unendlich viel wichtiger ist aber im Augenblick seine symptomatische Bedeutung für das deutsche Gesamtleben: Das soziale Interesse, das Interesse der konsumierenden Gesamtheit, wird in zahlreichen Fällen abgelöst, 23l und oft genug schwer geschädigt durch ein schrankenlos ent- fesseltes Arheitnehmerinteresse — ein Produzentenstandpunkt, der nicht selten der Gemeinschaft ebenso schädlich werden kann wie das alte zügellose Arbeitgeberinteresse. Gewiss ist die Gesell- schaft verpflichtet, auch das Los jeder Produzentengruppe so günstig wie möglich zu gestalten. Die Grenze dieser Möglicli- keit muss aber durchaus das höhere, das souveräne Interesse der Gesamtheit, der Konsumentengemeinschaft bestimmen. Und wenn eine Demokratisierung der Betriebe auch angestrebt und in vielen Fällen bis zu irgendwelchem Grade durchzuführen ist, so wird es doch eben andre wichtige Fälle geben, in denen ihre radikale Durchführung die Produktivität des Betriebes aufheben würde, und dadurch tief unsozial wäre. So unendlich deutlich zu sein, ist unter allen menschlichen Einrichtungen das lie- benswürdige Vorrecht des Theaters allein; aber annähernd ähn- liche Fälle gibt es doch zahlreiche und wichtige. In solchen Fällen auf einem Standpunkt nicht einmal wohlverstandenen Produzenteninteresses zu beharren, das Interesse der grossen Volksmehrheit einer kleinen Gruppe nachzustellen, ist nicht nur ganz unsozialistisch, sondern auch ganz undemokratisch. Wenn alles für das Volk und alles durch das Volk geschehen soll, so kann souverän auch nur das ganze Volk sein, und alle scheinbar demokratischen Betriebsverfassungen, die ein Gesamtinteresse schädigen, spotten ihrer selbst und wissen nicht wie. Wenn die Betriebsleiter statt für die eigene Tasche oder für eine Kapitalistengruppe künftig für das Volksvermögen und unter Kontrolle der Volksvertretung arTaei- ten, so kommt der sozialistische und demokratische Gedanke vollauf zu seinem Rechte, auch wenn innerhalb der Betriebe aus technischer Notwendigkeit den Leitern ein hohes Mass von Sou- veränität eingeräumt werden muss. Dass sich eine solche Er- kenntnis durchsetzt, dass die Begriffe Sozialismus und Demokratie aus ihrer wechselseitigen Zerstörung wieder zu ihrer natürlichen 282 Harmonie geführt werden, das ist eine Lebensfrage für das deut- sche Volk. — An der gegenwärtigen lebensgefährhchen Wirrnis haben alle schuld. Die Klassenkampftheorie der proletarischen Führer, die zu der Gleichsetzung einer weder konformen noch allumfassenden Produzentengruppe mit dem Volksganzen führte, ist gewiss nicht unschuldig; schuldiger aber als die einseitige Leidenschaft, mit der hier der soziale Gedanke ergriffen wurde, ist die verstockte, eigensüchtig misstrauische Abwehr, in der die grosse Menge des Bürgertums viel zu lange dem sozialen Gedan- ken gegenüber verharrte. Und ich brauche wohl nicht erst zu erwähnen, dass auch der Produzentenegoismus der Unterneh- merklasse sich heute noch verhängnisvoll, wenn auch zeitgemäss etwas mehr im Hintergrunde äussert. — Nur wenn das Proleta- riat sich entschliessen kann auch in seiner Theorie und das Bür- gertum vor allem in seiner Praxis zugunsten des grossen einheitlich sozialen Volksgedankens den Klassen- kampfgedanken zu opfern, nur dann können wir gerettet werden. Nur bei Herrschaft der ganzen volksumfassenden Sozietät kann ein Volk erblühen, dessen Einheit nicht in allgemeiner Proletarisierung besteht, sondern im Aufstieg aller proletarischen Elemente zujenem Voll bürger tum, das jenseits aller hässlichen Bourgeoisbedeutung den Anteil an den Kulturgütern des Volkes bezeichnet, der nur bei einem Mindestmass wirtschaftlicher Si- cherung erreichbar wird. Dies aber wird zugleich der Sozialismus sein, der die individuellen Kräfte nicht auslöscht, sondern sie auf jene Plätze stellt, wo ihre vollste Entfaltung der Ge- samtheit Segen bringt. 233 Abschied von der Monarchie (Herbst 191 9) Um Gottes willen lasst uns niedersitzen Zu Trauermären von der Könige Tod. (Shakespeare. Richard II.) I. Dass es an der Zeit ist Abschied zu nehmen von der Monar- chie nicht nur als einer bestimmten Form pohtischen Lebens in Deutschland, sondern als politischer Daseinsform, als sozialen Gestaltungsprinzip der Menschheit überhaupt — das ist wohl kein Zweifel. Nachdem die Kronen Russlands, Österreichs und Deutschlands gefallen sind, ist es ja wohl nur eine Frage sehr absehbarer Zeit, wie lange man sich in Spanien, Italien und Skandinavien und gar auf dem Balkan noch den Luxus einer monarchischen Repräsentation innerhalb einer ganz demokrati- sierten Verfassung leisten wird. Und wenn auch England als das glückliche Land, dessen lückenlos langsame Entwicklung keinen Sprung kennt, vielleicht noch sehr lange an der monar- chischen Formalität festhalten wird, so wird auch das am Ge- samtaspekt der sozialen Welt, am inneren Tod der monarchi- schen Idee nichts ändern. Es scheint mir auch nicht abzusehen, dass eine monarchische Ära jemals wiederkommen kann. Man hat freilich gesagt, dass vor zweitausend Jahren, als die römische Republik die Throne im Westen und Osten zerbrach, das Ende der Monarchie schon einmal gekommen schien, und dass sie dann 234 doch zu höchstem Glanz wieder auferstand. Aber der unterschied ist doch sehr gross. Denn die Kulturschicht, um deren soziale Gestaltung es sich damals handelte, war in der Breite und in der Tiefe sehr eng begrenzt. Unterhalb der republikanischen Voll- bürger gab es Millionen von Halbbürgern und Sklaven, ausser- halb der Grenzen des Weltreichs unbekannte Massen junger Völ- ker, und als all die ihren Anspruch auf politische Organisation an- meldeten, musste eben die sogenannte Weltgeschichte von neuem beginnen. Die jetzige Krise aber umfasst in der Breite und Tiefe alle irgendwie beträchtlichen Menschenmengen des Erdballs. Auch die grossen Nationen Osiasiens, deren Anspruch auf Vorherr- schaft in der Welt gewiss noch nicht als erloschen gelten kann, sind doch gerade in politischer Beziehung schon so sehr in das Gewebe der westlichen Zivilisation verstrickt, dass eine bedeut- same Gegenbewegung auch aus dieser Richtung nicht zu erwar- ten ist. Der Thron von Japan bedeutet für die monarchische Idee heute wohl mehr als der von England; aber dafür ist die chine- sische Republik das allerstärkste Todeszeichen der Monarchie in unserer Welt überhaupt. Die Abschiedsstunde also ist da. Aber schickt es sich über- haupt, sie mit gedankenvollem Ernst zu begehen? Werden wir nicht allen guten Demokraten verdächtig und verächtlich wer- den, wenn wir diese sterbende Institution eines nicht polemischen, sondern sorgsam prüfenden Rückblicks wert halten. Ich denke nicht: Es ist kein Zeichen der Kraft, sondern der Schwäche, Ver- achtung des Gegners für eine Vorbedingung des Kampfmutes, Verleugnung der Vergangenheit für eine Voraussetzung des Zu- kunftswillens zu halten. Und es ist einfach töricht und Sache des plattesten Rationalismus, den unabweisbaren Willen der Ge- genwart zur republikanischen Form mit der Behauptung stützen zu wollen, dass diese Form an sich für alle Fälle und für alle Zeiten die allein gute sei, und dass nur Verbrechen oder Irrtum so viele Jahrtausende lang die arme, betrogene Menschheit bei 235 der Monarchie festgehalten haben. Für jeden Menschen, dem irgendeine Ehrfurcht, irgendeine Frömmigkeit den ungeheuren Wirkhchkeiten der Natur und der Geschichte gegenüber inne- wohnt, ist es selbstverständHch, dass auch die Monarchie nur leben, sich erhaken und sogar hundertmal neu gestalten konnte^ weil sie irgendwelchen tiefen Bedürfnissen der Menschennatur gerecht wurde, weil sie bestimmte Ansprüche der menschlichen Gesellschaft befriedigte, die in gewissen Epochen eben nicht an- ders zu befriedigen waren. Und grade, weil wir glauben, heute über die monarchische Form hinweggehen zu können und zu müssen, sind wir der Vergangenheit einen sehr ernsten Abschied schuldig, müssen wir uns klar machen, was sie bisher geleistet hat und was für Mittel wir besitzen, auf unserem neuen Wege dem gleichen Bedürfnis zu genügen. II. Um die bisherige Leistung, die ablösungsbedürftige Tat der Monarchie zu erkennen, möchteich meinen Blick auf einen Punkt richten, der manchem recht peripherisch, mir aber dem Zentrum des ganzen Problems besonders nah zu liegen scheint. Ich möchte den Blick lenken auf die ungeheure Bedeutung, die der monar- chische Gedanke bisher als Metapher in der menschlichen Sprache gehabt hat. Dass eine Erscheinung „königlich" sei, dass dem Verdienst „seine Krone gebühre", dass der Geist „auf einer Stirn throne", das sind Wen dun gen, deren sich auch der entschlos- senste Republikaner unbedenklich und ziemlich unvermeidlich bedienen wird. Nur irrt er, wenn er meint, solch „blosser Sprach- gebrauch" habe nichts zu besagen. Die Sprache ist nichts als der ununterbrochne, wenn auch nie vollendete Versuch das Innerste zu „äussern". Und der Dichter setzt nur mit stärkeren Mitteln das Geschäft aller Sprechenden fort. Welche Rolle aber der mon- archische Ausdruck von jeher in der Dichtkunst gespielt hat, das ist gar nicht zu überschätzen : Von Homers Wort, dass einer 236 Herr sein solle, über Shakespeares „Lear", dessen Menschengrösse sich darin ausdrückt, dass er noch im Wahnsinn „jeder Zoll ein König" scheint, bis zu Schillers „Wallenstein", der äussert: „Ein König aber — einer, der es ist — Ward nie besiegt noch als durch seinesgleichen." bis zu Hugo von Hofmannsthal, bei dem die Stimmen der Ahnen, der toten Könige hinter dem Ödipus her singen: „Er ist ein König und muss es leiden, und wäre ein nackter Stein sein Thron — er ist unseres Blutes Sohn." Es gehört schon die ganze Beschränktheit eines demagogischen Agitators dazu, um zu argumentieren: All diese zahllosen Doku- mente „monarchischen Gefühls" in der Dichtkunst bewiesen nichts als die gedankenlose, feige oder wohl gar liebedienerische Fügsamkeit der Dichter gegenüber den zufällig bestehenden welt- lichen Gewalten. Allerdings ist es ungefähr ebenso verkehrt, be- haupten zu wollen, die jahrtausendelange Vorliebe der Dichter für Könige und Kronen seien ein politisch auszuwertendes Be- kenntnis zur Monarchie. Die praktische Organisation der Ge- sellschaft ist dem Dichter als solchem gleichgültig. Und er be- dient sich ihrer einzelnen Organe nur insoweit und nur in dem Grade für seine Wortkunst — diese Kunst, inneres Leben sinn- bildlich zu äussern — in dem diese Gestalten sinnbildlichen Wert d. h. gefühlerweckende Kraft haben. Da aber die Befriedi- gung menschlicher Gefühlsansprüche (neben allen materiell wirt- schaftlichen Bedürfnissen!) bereits mit zur Aufgabe der rechten sozial-politischen Organisation gehört, gibt es allerdings einen sehr liefen Punkt, in dem eben der dichterische und der politische Wert einer Institution sich berühren. Und zu diesem Punkte eben wollte ich führen. 287 III. Es ist ein aktives Bedürfnis, nicht eine passive ISachgiebigkeit gegen bestehende Formen, wenn der König so lange die Lieb- lingsfigur der Dichter war. Schliesslich ist der „König Ödipus" in einer Republik geschrieben worden! Und man müsste schon wieder vorerwähnter Demagoge sein, um ein anti-monarchisches Tendenzstück aus ihm zu machen. Vielmehr liegen die Dinge so, dass der Dichter (und vollends der Dramatiker) nur vom Menschen und seinem Kampf mit den ewig gleichen Schicksals- mächten sprechen will. Als ein besonders eindringliches, trag- fähiges Beispiel oder Gleichnis aber braucht er den Menschen, in dem sehr viel Leben mit all seinen Stärken und Gefahren zu- sammengedrängt ist — den repräsentativen Menschen! Und dieses Wort zeigt genau den Schnittpunkt des sozialen und des ästhetischen Bedürfnisses an. Der tiefste und am schwersten zu ersetzende Wert der Monarchie scheint mir auch auf politi- schem Gebiet der gewesen zu sein, der sie den Dichtern teuer machte: der symbolische! Den Inbegriff dessen, was als Kraft und Möglichkeit in ihm steckt, was er zu sein und zu leisten ver- möchte, will der Bürger auch in seiner nationalen Eigenschaft, aber auch in seinen allgemein menschlichen Eigenschaften vor sich hingestellt sehen. Er braucht ein Gleichnis seiner Möglich- keiten. Dies aber ist keine verächtliche Schwäche, sondern eine Grundeigenschaft des Menschen, zu dessen elementaren Bedürf- nissen bei gleichmässig gesunder Entwicklung seiner Natur eben- bürtig neben den theoretischen und praktischen Trieb der ästhe- tische tritt. Der Satz, dass dem Europäer nur wohl sei, wenn ihm irgend etwas „voranwehe", ist so wahr, dass er eigentlich nur von Menschen ganz ohne ästhetisches Gefühl mit reiner Iro- nie ausgesprochen werden kann. Denn ein Banner, eine Fahne, ein Zeichen braucht allerdings der Mensch; nicht nur um zu mar- schieren, sondern überhaupt um zu existieren. Eines der wesent- ci38 liebsten Bannerzeichen dieser Art war bisher das monarchische. Und gewiss kann man mit jedem Gottesbild Götzendienst treiben, kann statt der verkörperten Idee den plumpen Stoflf der Verkör- perung (die äussere Machtentfaltung) ehren. Und grade bei der Monarchie ist das tausendfach im gefährlichsten Masse geschehen. Aber aller Hohn und Hass, den dieser Missbrauch eines Symbols gerecht entzündet, beweist noch nichts gegen die Existenzberech- tigung und die Bedeutung des Symbols an sich. Gewiss Tst der ein lächerlicher und schädlicher Philister, der sich irgendeine buntgestickte Fahne voranwehen lässt und dabei vergisst, dass „alles Vergängliche nur ein Gleichnis" ist. Aber in diesem grossen Grundsatz Goethescher Welterkenntnis steckt auch die grosse Gegenweisheit drin, dass in der Tat alles Vergängliche als Gleich- nis etwas ist. Dass das Symbolische den Wert jeder menschlichen Einrichtung wie jeder natürlichen Bildung allerdings einschränkt, aber auch sichert! Als Gleichnis — als Gleichnis Gottes hat jeder Mensch seinen Wert, sagen die Mystiker. Feuerbach sagt: Gott hat seinen Wert nur als Gleichnis des Menschen. Aber ist das Gefühlsergebnis nicht beide Male dasselbe? Kann ich nicht eine Gleichung genau so gut von rechts nach links, wie von links nach rechts lesen? Und so mag man gewiss das „Tetat c'est moi" des Sonnenkönigs ablehnen, das ungefähr die mystische Tatsache behauptet, dass der Bürger des Staates nur als Gleichnis des Kö- nigs einen Wert habe. Es ist doch nur die mystische Lesart der Gleichung, die von links nach rechts, auf realistisch, heisst: der König hat seinen Wert als Gleichnis des in jedem Einzelnen der Bürger liegenden Anteils an der Macht und Schönheit ihres Zu- sammenlebens. Vielleicht hat er nur als solch ein Gleichnis Wert — aber das war ein Wert! Es ist dem Menschen nicht gegeben irgendwo absolut, anders als im farbigen Abglanz das Leben zu ergreifen, überall muss er an einem Gleichnis seine Kräfte sammeln, binden, formen. Darin beruht die tiefe, ästhe- tische Bedingtheit der ganzen menschlichen Existenz und in der ■i3() Befriedigung dieses sinnbildlichen Bedürfnisses liegt, wie mir scheint, die tiefste, die am schwersten abzulösende, die ästhe- tische Wurzel der monarchischen Institution. IV. Zwar scheinen mir auch die anderen Gründe, die man für das Daseinsrecht der Monarchie aufführen kann, nicht eigentlich widerlegbar; aber sehr offenbar sind die Gegengründe, die sie aufwiegen und überwiegen. — Das praktische Argument lau- tet bekanntlich: nur die Monarchie, die die Spitze des Staates voraussichtlich ein Menschenleben lang in der gleichen Person befestigt, und durch die Erbfolge auch den Personenwechsel ohne Erschütterungen geschehen lässt, gibt einer Regierung die zu gesunder Arbeit nötige Sicherheit und Kontinuität. Das nicht minder bekannte und meines Erachtens durchschlagende Gegen- argument lautet: die blosse Erbfolge schliesst bei der völligen Unbekanntheit aller Vererbungsgesetze ein so ungeheures Risiko betreffs der Eignung des wichtigsten Staatsorgans ein, dass jede Wahlmethode in all ihrer menschlichen Unzulänglichkeit noch eine unendlich viel bessere Chance bietet. (Die Wahlmonarchie — ohne Erbfolge und Gottesgnadentum — ist ein Ding wie ein Widerspruch und hat sich bei den lebensgefährlichen Erschütte- rungen, die jede solche Wahl für den Staat bedeutet, im Welt- lichen noch nirgends bewährt.) Und nebenbei gesagt halte ich hier nicht einmal die Wahrscheinlichkeitsrechnung, sondern eine ethische Erwägung für entscheidend: selbst wenn es sich nicht ausrechnen liesse, däss die menschliche Wahl ein besseres Re- sultat liefert, als der dunkle Zufall des Blutes, so müsste doch die Möglichkeit, den menschlichen Willen tätig zu entfalten, bei sonst gleichen Chancen den Vorrang vor der blossen Natur- hingegebenheit verdienen. Denn wenigstens für jede nicht fata- listische Weltanschauung ist das Streben in der Richtung grösst- möglicher Willensentfaltung ein oberstes Gebot: 240 „Gewiss der uns mit solcher Denkkraft schuf Vorauszuschauen und rückwärts, gab uns nicht Die Fähigkeit und göttliche Vernunft Um ungebraucht in uns zu schimmeln." So geht schon das praktische Moment in das ethische über, und auf diesem Gebiet ist das Argument des Monarchisten das eigentlich „konservative" und spricht von dem Wert, der der Monarchie zukommt wegen ihres Alters, wegen der unzähligen und versittlichenden Gefühle, die seit Jahrtausen- den mit ihr verbunden sind. Auch dieses Argument ist nicht ei- gentlich zu widerlegen, denn diese Werte existieren unleugbar. Aber sie werden für eine freiheitliche Denkart vollkommen auf- gehoben durch das sittliche Gegenargument, und nicht in erster Linie durch das negative, das auf die Schäden weist, die sich im Lauf der Jahrhunderte der Monarchie und dem höfischen Wesen verbunden haben. Entscheidend ist das Positive, die gewaltig ver- sittlichende Kraft, die darin liegt, dass Anteil an der Wahl auch des höchsten Volksrepräsentanten jedem einzigen Volksangebö- rigen eine mächtige Steigerung des sozialen Selbstgefühls, des Verantwortungsgelühls bringen muss. Den modischen Hohnred- nern der „bloss formalen" Demokratie wäre dabei zu entgegnen, dass (von der praktischen Untauglichkeit ihrer Gegenvorschläge einmal abgesehen) hier wieder mit plattem Rationalismus das grosse, symbolische Moment, der ästhetische Lebenswert ausge- schaltet wird. Denn selbstverständlich steckt ein gros- ser Teil des Wertes, den der demokratische Wahl- akt besitzt, genau wie bei der monarchischen In- stitution in ihrem sinnbildlichen Charakter. — Dieser ästhetische Sinnbildwert der Monarchie bleibt also als letztes und stärkstes Argument, wenn man auf die praktischen Werte des kontinuierlichen und die sittlichen des alt geheiligten Segiments bereits verzichtet hat! Kann irgendeine andere staat- 16 Bab, Erwachen zui- Politik 24 1 Hche Form ein so einfaches, einprägsames und ausdrucksreiches Sinnhild der sozialen Lebenseinheit, des Verbundenseins der Volks- genossen aufrichten, wie die Person des Monarchen, der in des Wortes tieferer Bedeutung wirklich der Staat und nichts als der Staat ist? Nur wenn wir die Antwort auf diese Frage bejahen können, entziehen wir dem Glauben an die ünentbehrlichkeit der Monarchie die letzte Stütze. Ob wir das aber können, ob wir die republikanische Staatsform mit gleichen oder höheren Ge- fühlswerten erfüllen können, das wird sehr wesentlich von den seelischen Vorkämpfern, den Wortführern, den Sprechern des Menschengeschlechts abhängen. Und deshalb heisst es, so son- derbar das für die Ohren der sogenannten Praktiker klingen mag, in dieser grossen sozialpolitischen Lebensfrage: res venit ad poetas! Die Sprache ist keine Zutat und keine zur Not auch entbehr- liche Äusserung unseres Lebens, sie ist unser Leben selber. Zum mindesten in allem, Avorin wir geistige Geschöpfe sind, also auch grade in unserem sozialen Dasein, soweit es sich über bloss tie- rische Zusammenrottung, Herdenbildung oder Zerfleischung im Daseinskampf erheben will. Wer deshalb unsere Sprache um- bildet, bildet unser Leben um, und mindestens ebenso wahr wie der Satz, dass der Dichter den Ausdruck für bestehende gesell- schaftliche Zustände gäbe, dass er ihr Produkt sei, ist der Gegen- satz, dass dichterischer Ausdruck neue gesellschaftliche Zustände schafft, dass er, der tonangebende Gestalter menschlicher Sprache, auch Produzent sozialer Zustände sei. Natürlich geht die Umge- staltung des sozialen Gefühls durch dichterische Sprachverschie- bung nur sehr langsam vor sich, und wird auch niemals eine neue Art von Wertgefühlen erreichen, ohne bedeutende Pieste der alten stehengelassen zu haben. Aber das republikanische Ge- fühl wird nicht lebendig und fruchtbar in der Welt werden, wenn die Dichter seine Inhalte nicht als gefühlsmächtige Mets- 242 phern in Umlauf setzen und somit Ersatz schaffen für das mon- archische Bild, das nun sterben muss. Allerdings leben in unserer Sprache noch allerlei Bilder, deren lebendige Vorbilder ihre Bedeutung längst verloren haben. Wir sagen noch „pfeilgeschwind", obwohl wir längst viel grössere Geschwindigkeiten kennen, und Schwert und Schild und Panzer spielen in unserer Sprache noch eine bedeutende Rolle. Aber ein- mal haben diese Bestandteile der ritterlichen Technik nie so ganz aufgehört zu existieren, sie sind nur in den Hintei'grund getreten und im letzten Kriege sogar bis zu einem gewissen Grade wieder hervorgekommen. Und trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass die starke Benutzung dieser Requisiten in der Sprache heute mei- stens einen theatralischen, romantisch-blassen, ungefühlt-leblosen Eindruck macht, und unsere Dichter deshalb diese Metaphern längst durch andere neue zu ersetzen trachten. Dampfkraft und Elektrizität, die bei ihrem Aufkommen gefühlsfeindliche Pro- dukte der kalten Wissenschaft und der technischen Praxis waren, sind längst von den Dichtern als sinnbildkräftige Gefühls- träger in die Sprache eingestellt. Vielmehr werden nun die Attri- bute der Monarchie, die ja ganz aus unserem Leben verschwin- den soll, zum Absterben verurteilt sein. ]Man wird seinen Gefühls- ausdruck nicht länger mit Kronen, Zeptern und Thronen bestrei- ten können. Aber wenn die Welt „an Schleiern, Kronen oder ro- stigen Schwertern" nichts mehr findet, was ewig wäre, „wenn sie den Tand unwillig fahren lässt", so ist es nach Hebbels Wort die allerdringendste Verpflichtung ihr nun „Höheres" dafür zu bieten. Wir müssen hoffen, dass unsere Sprach seh Opfer reich ge- nug dazu sein w erden, und ich halte es für möglich, dass sie starke Bilder des Grossen, Erhabnen, Gebietenden auch aus der Sphäre der neuen sozialen Organisationsform gewinnen werden. — Nur das Wort „Menschheit", das sie jetzt zu Tode hetzen, und da* eben gar keine soziale Realität, sondern nur eine philosophische Idee bedeutet und deshalb gar nicht bildnerisch stark, nicht ge- 16* 243- fiililsträchtig ist, Averden sie dann hoffentlidi ausruhen lassen. Sie werden und müssen Besseres finden. — Die Komik jener Ge- stalt bei Anzengruber, die da schwört, „so wahr Gott lebt, ich bin ein Atheist!" wäre doch ungefähr erreicht, wenn uns ein Republikaner versichert, sein Lebenswerk sei gekrönt, wenn er die Freiheit den Thron besteigen und das Zepter ergreifen sehe. Dabei liegt die Komik der Anzengruberschen Rede eigentlich mehr im Inhaltlichen als in der Sprache; denn Gott ist im Grunde nichts weiter als ein Gleichnis, die grösste aller Metaphern, die Metapher des Geistes, der aus uns spricht und man kann ganz gut sagen, dass es ein Widersinn ist, sich sprechend einen Athe- isten zu nennen. Das Bild Gottes kann nicht sterben, weil es nie ein Original dazu gab. Aber der Monarch, aber der König war zugleich eine physische Realität und wenn der Herzog fällt, muss der Mantel, die sinnbildliche Kraft seiner Würde nach. Nichts als eine Metapher höherer Ordnung ist ja die Gestalt, die der Epiker oder Dramatiker vor uns aufbaut. Und auch da wird der Sturz der Monarchie die schon seit lange in Frage ge- stellte Alleinherrschaft der Könige als Träger sinnbildlich ver- dichteter Lebensfülle endgültig beseitigen. Das heisst natürlich nicht, dass die grossen Königsdranien, die für Sophokles oder Shakespeare Gefässe stärksten Weltgefühls wurden, je ihre Wir- kung auf uns verlieren können. Das Bisschen geschichtlicher Phantasie, das nötig ist, um das monarchische Sinnbild zu ver- stehen, w ird man wohl auch nach tausend Jahren Republik noch aufbringen können. Die dichterische Gültigkeit von Iphigenie und Hero leidet ja nicht im mindesten darunter, dass unsere Kul- tur seit Jahrtausenden keine Priesterinnen mehr kennt. Womit schon gesagt ist, dass auch kein Vernünftiger es dem künftigen Dichter verwehren wird, dort, wo irgendeine geschichtliche Tra- dition ihm geeignete Formel eines bestimmten Lebensgefühls scheint, Kaiser und Könige zu seinen Helden zu machen. Die grosse durchgeführte Metapher des Dichters hat die selbstän- 244 dige und dauerhafte Lebenskraft des Kunstwerks in sich, sie muss nicht wie die kleine, bloss skizzierte der Alltagssprache ab- {;elöst und ersetzt werden durch eine zeitgemässe. Aber freilich niuss auch sie ergänzt werden durch Sinnbilder aus dem neuen Leben. Neben den geschichtlich hergebrachten Repräsentanten der vielumfassenden Daseinsfülle werden neue aus der republi- kanischen Zeit von dem Dichter aufgerichtet werden müssen, wenn die Würde und die Bedeutung der neuen sozialen Lebens- form sich gefühlsmässig gegen die alte durchsetzen soll. — Dabei ist von vornherein klar, dass die Würdenträger der Republik, mögen sie nun Präsident oder wie immer heissen, nur zu einem sehr geringen Teil die ästhetische Erbschaft des Monarchen an- treten können. Dies sind reziproke Werte: All das, was die prak- tische Überlegenheit des Präsidenten dem König gegenüber aus- machen soll, muss seine ästhetische Unterlegenheit ausmachen: der geringere Umfang seiner Macht, seine Ablösbarkeit, die rein rationale Begründung seines Anspruchs. Wenn es der Vorzug des Präsidenten ist, dass er viel weniger zum Götzenkult der Macht verführt al s ein Monarch, so ist es selbstredend auch seine Schwäche, dass er als reines Symbol der in ihm verkörperten Volksmacht sehr viel weniger begeisternd wirkt. Immerhin wollen wir uns erinnern, dass die Vorsteher der athenischen Republik und die römischen Konsuln nach zweitausend Jahren den Dichtern bereits sehr poetisch vorgekommen sind; und dass Versuche mit der sinn- bildlichen Verwertung regierender Minister im Drama, wie sie der ältere Björnson und der jüngere Ibsen schon gemacht haben, nach Sieg und Befestigung der repubhkanischeu Staatsform, und nach einer gefühlsnotwendigen Lagerfrist sich mit sehr viel grösse- rer Kraft durchsetzen w^erden. Naheliegend wird dann der Ersatz des Königsdramas durch das Massendrama erscheinen. Seit den „Webern" ist ja unter Rückbeziehung auf „Wilhelm Teil" sehr viel von der Menge als dramatischem Helden gesprochen worden. Ich halte es in der Tat 245 für möglich, dass noch grosse Werke dieser Art geschaffen wer- den können — und dass etwa ein grosser Dichter in dreihundert Jahren das deutsche Volk im Weltkriege zum Helden einer tra- gischen Dichtung macht, in der Wilhelm II. nur eine und keines- wegs die wichtigste Figvu' wäre, und deren letzter Gefühlsertrag doch grosse Ähnlichkeit mit Shakespeares „Richard II." hätte, diesem Trauerspiel einer allzu stolzen Grösse, die zugrunde gehl, weil sie „für die Eintracht ihrer Würd' und Zeit kein Ohr he- sass, verletztes Mass zu hören". Als ein furchtbar erschütterndes Gesamtschicksal wird dann erzählt werden, was für Shakespeare eine „Trauermäre von der Könige Tod" war. Aber man hüte sich zu übersehen, dass die Menge doch nur für einen engbegrenzten Kreis von Erlebnissen als poetischer Träger in Betracht kommen kann, und dass es sehr viele grund- bewegende Konflikte gibt, die doch immer nur durch Vertiefung in eine einzelne Menschenseele auszutragen sein werden. Der ganze Problemkreis der Erotik ist nächstliegender und stärkster, aber keineswegs einziger Beweis. Da wird es, wie mir nun scheint, darauf ankommen, künstlerisch zu erobern für das Bild des gros- sen, mächtigen Menschen (und ein nicht naturalistisches Welt- gefühl kann gar nicht mit Figuren aus der gedrückten Alltags- sphäre auskommen) das Reich der ausserpolitischen, der rein gei- stigen Macht. Weder Könige noch Präsidenten, weder Feldherren noch Minister — es muss gezeigt werden, dass Macht mit Gewalt nichts zu tun hat und dass Goethe in einem sehr tiefen Grunde doch noch ein mächtigerer Mann war als Napoleon. Hier ist noch sehr viel zu tun. Zola hat neben seine „Exzellenz Rougeon" we- nigstens den Finanzeroberer Saccard gestellt; Shaw hat als Ty- pus des Herrschgewaltigen nach „Jubus Cäsar" den Kanonen- könig Undershaft auf die Szene gebracht. Aber solche Verschie- bungen des rein Politischen auf das mehr Wirtschaftliche sind nicht entscheidend. Es handelt sich darum, den geistigen Arbei- ter, den Denker, den Forscher, den Dichter, aber auch den Tech- 246 iiiker in sehr viel stärkerer Weise als ])islier zur Verkörperung^ menschlichen Weltbesitzens zu machen. Wir wollen ja nicht ver- gessen, dass der grösste Welteroberer, den deutsche Kunst bisher dargestellt hat, dass Faust zunächst weder ein König noch ein General, und erst ganz zuletzt so etwas wie ein weltlicher Regent ist. Aber in Fortführung dieses grössten Anfangs wird für die konmiende Generation noch sehr viel zu tun sein. Und hier ist allerdings ein Punkt, in dem sich für das Gefühl der Gegen- wart das monarchische Prol)lem mit dem militaristischen berührt: wenn wir die mehr sinnliche Repräsentation der Macht in der Monarchie durch die mehr geistige und rationale der Republik ersetzen, so meinen wir damit überhaupt, für die Ablösung eines mehr körperlichen Machtgefühls durch ein mehr geistiges zu zeugen. Und in diesem Sinne werden die kommenden Dichter zum mindesten eine neue Art Helden neben die altgewohnten stellen müssen. VI. Es sei hinzugefügt, dass noch eine andere Bedeutung, die die Monarchie bisher für den Gestaltungsdrang 'der Menschheit gehabt hat, der Ablösung harrt. Dabei aber handelt es sich nicht um den einzelnen Monarchen, sondern lun die Dvnastie. Für Familiengeschichte, für die dämonische Macht der Vererbung im Einzelleben existierte eine grosse, einigermassen populäre Tra- dition über lange Zeiträume hinweg bisher nur für die Herr- schergeschlechter der Völker. Eine Dichtung wie Hofmannsthals schon oben zitiertes Drama „Ödipus und die Sphinx" scheint zwar ganz und gar vom Königsgedanken beherrscht; aber wenn man genau zusieht, so ist hier nicht die monarchische Gewalt an >ich, sondern nur die Erbgewalt der Ahnen Schicksalsmacht: „Unser Ringen und Raffen hat ihn erschaffen. 247 Herz und Gestalt, Begierden und Qualen — er muss uns bezahlen, dass wir mit Gaben beladen ihn haben." Die Ahnen, die dies dem Erben zasingen, brauchten an sich nicht Könige zu sein. Und hier gibt es auch schon gi'osse Bei- spiele, dass die Tragödie der Blutsverkettung anderswo als in Herrscherhäusern dargestellt werden kann. Das ungeheure Ge- bäude der „Rougeon-Maquart" ist, wenn nicht das stärkste, so doch das umfassendste Beispiel. Die Familie Scholz aus Haupt- manns „Friedensfest" steht ebenbürtig neben den Atriden, um deren „Stirn die Gottheit ein ehern Band schmiedete", und die Dynastie der „Buddenbrooks" gibt uns ziemlich genau die gleichen menschheitlichen Aufschlüsse, die etwa aus einer Geschichte der Sachsenkaiser abzulesen wären. Hier wird es sich nur darum handeln, das soziale Gefühl im engeren Sinne des Wortes, das Interesse für FamiUengeschichte — dies grosse, bisher beinah unbebaute Gebiet zwischen Individual- und Völkergeschichte! — weit stärker als bisher anzuspannen. — Dabei ist freilich Vor- aussetzung, dass die neue Gesellschaft nicht in e i n e n K o m m u n i s m u s ü b e r g e h t , der milder Fa m i 1 i e und dem Eigentum alle Grundlagen unserer bishe- rigen Kultur, und damit auch dieser ganzen Er- örterung, aufhebt. An sich scheint mir, dass es sehr wohl als Aufgabe der sozialen Republik gedeutet werden kann, die Le- benskraft der Familie und die davon in einem gewissen Grade untrennbare Freude am Eigentum zu stärken und zu ver- tiefen. Die in irgendeinemGrade notwendige „Sozialisierung" han- delt bekanntlich im Unterschied von der kommunistischen Idee nur von der Enteignung volkswirtschaftlich wichtiger Produk- tionsmittel, und steht keineswegs in einem ausschliessenden 248 Verhältnis zu Familie und Eigentum. Gewiss mag man diese Ideen „bürgerliche" nennen, aber dann soll man nicht vergessen, dass die ganze Kultur, in der "vvir leben, heute zum weitaus grössten Teil die bürgerliche ist, und dass der soziale Ausgleich deshalb nur fruchtbar sein kann, wenn es gelingt, die Prole- tarier zu verbürgerlichen — nicht die Bürger zu proletarisieren. VII. Aber noch eine letzte Aufgabe bleibt den Dichtern über den blossen Sprachgebrauch und die episch-dramatische Sinnbildfin- dung hinaus bei der Ablösung der Monarchie. Ich möchte diese Aufgabe die Ivrische nennen. Denn hier handelt es sich darum, das allgemeine Volksgefühl der Menschen aus seiner vielfachen Verwobenheit mit dem monarchischen Gedanken zu lösen. Die „Krone" vmd das ganze Land als Lebenskomplex sind nicht bloss zufällig im Sprachgebrauch eines Volkes bisher nahezu vertausch- bar gewesen. Wenn wir uns hier nach einer gültigen Ablösung umsehen, so dürfen wir nicht in den Irrtum verfallen, die lyrisch begeisterte Rhetorik, die es seit Jahrhunderten über die Begriffe Volk, Freiheit, Demokratie gibt, für solch einen Ersatz zu halten. All diese Dinge gehen eben von einem Begrifflichen, einer gei- stigen Forderung aus, nicht von einer in so hohem Grade sinnlich erlebten Wirklichkeit, wie es das Heilige Römische Reich, die Krone von England und das Zarentum von Moskau doch einmal waren. Man muss auch nicht glauben, dass jene Vaterlandslyrik, die wir besassen und hoffentlich weiter besitzen werden, als Er- satz-^ür dieses Volksgefühl eintreten kann. Denn es handelt sich nicht um das, was den Einzelnen mit den Natur- und Kultur- schönheiten seines Landes verbindet, sondern es handelt sich um das Gefühl für die reine Menschengemeinschaft, die erst über diesem Boden zusammenwächst. Staatsgefühle in diesem Sinne haben Römer und Griechen gehabt; die Neueren viel weniger, am 249 stärksten die Engländer — =- die Deutschen beinahe gar nicht (nur gewisse allerdings mit privatem Klasseninteresse verquickte An- sätze in alten Hansestädten und hei altpreussischen Regierungs- Familien). Von einem gewaltigen Aulschwung dieses Gefühls aber wird die neue Republik, wird die deutsche Demokratie le- ben — oder sie wird nicht leben! Und hier heisst es noch einmal: res venit ad poetas! Gewiss nicht ausschliesslich, aber doch sehr wesentlich durch die Kraft der Dichter muss das neue demokra- tische, an keine personelle Zuspitzung mehr gebundene Gemein- schaftsgefühl geformt und wirksam gemacht werden. Die deut- schen Versuche, von diesem Volksgefühl zusprechen, bleiben bei begabten Ansätzen vielfach in jener rein gedanklichen Deklama- tion oder in jener gewohnten Vaterlandslyrik stecken, von der ich oben sprach. Der grösste Sprecher dieses demokratischen Erlebens war in Europa bisher der Flame Emil Verhaeren. Aber auch bei ihm sind die rein gedanklichen Elemente nicht immer ganz ausgeschlossen. Der grosse vorbildliche Meister dieses Ge- sanges kommt nicht aus Europa. Wahrhaftig nicht im Scherz hat der weiseste der Europäer gesagt, dass Amerika es besser habe. Das neue Volksgefühl brauchte hier nicht gegen die Tra- dition alter Schlösser und Kronen anzukämpfen; und konnte sich zum Teil wohl deshalb, frei von der polemisierenden, gedanklich zugespitzten Rhetorik Europas entfalten. Zum Teil — das Ent- scheidende war natürlich hier wie überall der ungeheure Glücks- fall des individuellen Genies. Der grösste Beitrag Amerikas zur Weltkultur heisst bis heute Walt Whitman. Walt Whitman ist keineswegs mehr Rhetoriker. Für ihn zuerst ist Demokratie kein Begriff mehr und kein Postulat, sondern ein vollkommen wirkliches und ungeheuer grosses Erlebnis: das Wort „demo- kratisch", das Wort „en masse" ist wie unmittelbar mit seinem Selbst verwachsen, er singt es immer mit ihm zugleich. Er „hört den Gesang Amerikas" und singt ihn : alle Geräusche des Wachs- tums und der Arbeit dieses ganzen Volkes umschwirren ihn und fliessen in seinem Instrument zusammen zu einem klaren Ton. Die Demokratie weitet seine Kehle zum Lied, durch ihre Gegen- wart fühlt er Vergangenheit und Zukunft mit sich verbunden, sie ist ihm Geliebte und Mutter, und er singt ihr zu: „Ma femme Für das Geschlecht nach uns und vor uns, für die Gegenwärtigen und die, welche noch kommen sollen, juble ich jetzt und bin bereit Hymnen zu jauchzen, machtvollere und stolzere, als sie bisher auf Erden gehört wurden." Er weiss sich als Boten dieses neuen, politischen Weltgefühls an Europa gesendet: „Ich hörte, dass ihr etwas erheischet, dies Rätsel, die neue Welt zu erklären, Amerika und seine athletische Demokratie: So sende ich denn meine Gedichte, damit ihr in ihnen schaut, wonach ihr verlangt." Nur wenn Europa mit seinem innersten Ohre diese Botschaft zu vernehmen vermag, wird ihm der Abschied von der Monarchie Bereicherung statt Verlust bringen. 25l Der Arbeiter am Geist und die Wirtschaft Der geistige Arbeiter, seine Bedeutung, sein Recht, sein Macht- anspruch gegenüber dem Handarbeiter, das alles ist Gegenstand der lebendigsten sozialpolitischen Diskussion. Die ganze Debatte des Betriebsratgesetzes und so viele andere umbranden diesen Felsen. Aber der „geistige Arbeiter" ist nicht der „Arbeiter am Geist" — obscbon der Arbeiter am Geist so gut wie immer ein geistiger Arbeiter ist. Denn (von sehr ausgeklügelten Fällen abgesehen) kommt für die Schaffung von geistigen Gütern, von reinen Kulturwerten nur der Geist als Mittel in Betracht. Dage- gen kann und wird das geistige Mittel eben tausendmal für ma- terielle Zwecke, für Erzeugung reiner Wirtschaft'sgüter ange- wandt werden: vom Lastträger, der für die richtige Verteilung seiner Last immerhin Intelligenz aufbieten muss, über den Schmied und den Handlungsreisenden, bis zum Bankdirektor und weiter bis zum chemischen Forscher in seinem Laboratorium. Aber soviel Streit es nun geben mag um ihr Anrecht an der Wirtschaftsleitung und am Wirtschaftsertrag — an sich ist es ja gar kein Problem, dass und warum diese geistigen Arbeiter in der Wirtschaftsgemeinschaft existieren können: am letzten Ende produziert ihre Arbeit materielle Werte, die im allgemeinen Wirtschaftsverkehr messbar und deshalb tauschbar sein müssen. Sehr viel dunkler aber ist es, dass und wie der Arbeiter am Geist, der Produzent von Kulturwerten, die weder messbar noch tausch- bar sind, A'on unserer Wirtschaft ernährt wird. Und seltsam, so sehr jeglicher seinen leidenschaftlichen Anteil an der Kultur im 262 Munde führt — das Wirtschaftsproblem der Kuhurarbeiter steht nicht nur in den Debatten der Gegenwart ganz zurück, es gibt auch keine einzige geschichtHche Arbeit bisher, nicht eine in der ungeheuren wirtschaftsgeschichthchen Literatur, die es ver- suchte, Antwort zu geben auf die ganz schhchte Frage: wovon hat eigenthch von Anbeginn der Arbeitsteilung bis heute der Produzent geistiger, wirtschaftlich nicht messbarer Werte gelebt? Wie kommt es, dass Propheten und Künstler, Philosophen und Dichter bis auf diesen Tag doch immerhin nicht regelmässig Hungers gestorben sind? Noch nie hat man versucht, die Ge- schichte dieses Problems zu überblicken. Und doch könnte sol- cher Versuch vielleicht zu recht tiefen Einblicken in das Wesen des menschlichen Gemeinschaftslebens überhaupt führen. Diese Betrachtung müsste wohl einsetzen bei der ersten aller Arbeitsteilungen, die wir von den Naturvölkern her kennen. Unser grösster Wirtschaftshistoriker Karl Bücher hat schon be- tont, wie ausserordentlich die Tatsache ist, dass die allererste Arbeitsteilung als unentbehrlichste und wichtigste Begabung aus dem Volksganzen keinen Produzenten materiell nützlicher Dinge heraussetzt, sondern den Urarbeiter am Geist: den Scha- manen, den ekstatischen Zaubertänzer, der Führer, Priester, Arzt und Künstler des Stammes zugleich ist. Er wird nun ganz selbstverständlich von der Gesamtheit des Stammes auch wirt- schaftlich erhalten, denn sie verehrt ihn als den Beschwichtiger jener grossen Lebensangst, deren allmählicher Abbau wohl als der Inhalt der ganzen Kulturgeschichte bezeichnet werden kann. Hier an der Quelle ist es offenbar, dass die Arbeit am Geist eine soziale Leistung ist, die auch nur rein sozial entgolten werden kann. Die aller Entwicklung notwendige Teilung ergreift diese Urarbeitsleistung am Geist. Von den Teilleistungen des Scha- manen bleiben die des politischen Führers, des Richters, des Priesters in ihrem sozialen Charakter völlig klar, und die Pflicht 253 der Gesamtheit, diese ihre Funktionäre auch wirtschaftlich zu erhalten, bleibt deshalb auch ausser Zweifel. Das Problem ver- wickelt sich bereits beim Arzt, der nach langen Umwegen vom Leibarzt bis zum Kassenarzt vielleicht jetzt im Begriff ist, das soziale Wesen seines Berufes wieder rein zu entwickeln. In ähn- liche verwickelte Umwege' zweigt vom Priesterberuf der des Lehrers ab. Die Schwierigkeit des Problems steigt, wo aus der Tänzerfunktion des Schamanen der Künstler — : der Schauspie- spieler, der Sänger, der Bildhauer, der Maler heraustritt. Die Werte ihrer Arbeit sind nur für einen sehr äusserlichen Schein an der Zeit der Leistung oder dem räumlichen Umfang des Pro- duktes zu messen. Aber selbst diese scheinbare materielle Mess- barkeit nach Raum und Zeit versagt bei der letzten Funktion, die von der Gesamtleistung des Schamanen noch übrig bleibt: beim Arbeiter am reinen Geist, beim Meister des Worts, beim Propheten und Philosophen, beim Schriftsteller, beim Dichter. Hier gewinnt das Ernährungsproblem des Arbeiters am Geist seine tiefste Schwierigkeit. Soweit man mit ein paar Strichen die Grundlinien einer erst zu schaffenden Wissenschaft ziehen kann: diese Arbeiter am reinen Geist haben entweder durch Personal-Union mit der po- litischen und religiösen Führerschaft des Volkes existiert; so war es bei den griechischen Tragikern und adligen Minnesängern; bei der orientalischen Priesterschaft und dem Mönchstum der katholisch-mittelalterlichen Welt. Oder sie haben unterhalb der Gesellschaft zu existieren versucht: der Stammbaum des Bohe- miens, vom Diogenes in der Tonne bis zum „Derwisch", Lessings am meisten dichterischer Gestalt! In beiden Fällen erhielt die Ge- sell schaft entweder mit ihrem Kernbesitz oder mit ihrem Abfall die Arbeiter am Geist. Wo aber diese Leistung der Sozietät aufhört, müssen Surrogate eintreten: zunächst das Mäzenatentum — wie schon der Name erinnert, eine Erfindung der kulturell schwach interessierten römischen Gesellschaft. In der italienischen 254 Renaissance, im klassischen Frankreich und selbst im deutschen Weimar hat es eine Rolle gespielt — wesentlich als die der Mon- archie charakteristische Verengung der sozialen Funktion. Die verhängnisvollen Folgen dieser notwendigen Auslieferung der Geistesarbeiter an individuelle Willkür sind bekannt. Noch viel aussichtsloser aber ist der Versuch des kapitalistischen Zeitalters, den Produzenten der unmessbaren, und gerade bei höchstem Wert am wenigsten nachgefragten Ware für seinen Unterhalt auf den wirtschaftlichen Tauschprozess selber zu verwei- sen. Bei minderwertigen Charakteren führt das zu einem anti- sozialen Charakter der geistigen Leistung. Gleich im Anfang dieser Entwicklung steht Aretino, der grosszügige Begründer des Revolver-Journalismus, der immerhin so bedeutendeTalente wie Beaumarchais in^ seiner Nachfolge hat. Bei ethisch hoch- stehenden Naturen führt der gleiche Versuch zum Hunger. Schiller, Hebbel, Knut Hamsun bezeichnen Stationen auf dem Wege dieser Passion durch die Geschlechter. Die neuere Gesell- schaft hat deshalb nach dem Versagen von Sozietät und Mäzena- tentum ein weiteres Surrogat schaffen müssen: den Nebenbe- ruf. In ihm haben tatsächlich seit Generationen die meisten Arbeiter am Geist vegetiert — soweit sie nicht durch persönliche Glückszufälle begütert waren oder eben zu hungern wagten. Indessen, der Schaden dieses Zustandes ist ausserordentlich. Sehr wahr sagt Wilhelm Schäfer: „dass gerade diese Arbeit, die denk- bar feinste und diejenige, die mehr als alle anderen Anspannung aller geistigen Kräfte verlangt, in Nebenstunden geleistet werden soll, nach den Strapazen der Ernährungsarbeit, ist eine harmlose Vorstellung". Ich glaube, dass die gründlichste Betrachtung aller geschicht- lichen Erfahrungen am deutlichsten beweisen wird: die Arbeit am Geist ist nicht die Leistung eines Einzelnen für Einzelne; sie ist ein Werk im Dienste der Gesamtheit und kann sinnge- mäss ohne innere Schädigung deshalb auch nur von der Gesami- 255 heit entlohnt werden. Wahrhaft gelöst kann das Wirtschafts- problem des Arbeiters am Geist deshalb nur werden durch eine Erneuerung des Gemeinschaftsgeistes in der Gesellschaft, die den Schöpfer von Kulturwerten, den Überwinder der grossen Lebens- angst, wieder als ihren berufenen Repräsentanten empfindet und demgemäss erhält. (Wieweit solch ein innerer Sozialismus zugleich ein wirtschaftlicher sein muss, das bleibt noch wohl aufzuwer- fende und sehr gesondert zu behandelnde Frage!) Inzwischen steht fest, dass, wenn auch der Staat, die Gesell- schaft und der Einzelne alles tun müssen, um das Heraufkommen solch neuen Gemeinschaftsgeistes zu fördern, der Arbeiter am Geist sein Erscheinen nicht abwarten und einstweilen einmal verhungern kann. Auch wenn er weiss, dass für ihn und seine NichtWare der Konkurrenzkampf, in den ihn die gegenwärtige Gesellschaftsordnung zwingt, aussichtslos ist — er wird doch alles tun müssen, um so gut als eben möglich in diesem Zustand aus- zuhalten. Wie verzweifelt es gerade heute in Deutschland um den Arbeiter am Geist steht, der bei der ungeheuren Preissteige- rung jedes erdenklichen Lebensmittels so gut wie gar nicht in der Lage war, den Preis der eigenen Ware zu erhöhen, das kann sich auch der Fernstehende mit wenig Phantasie ausdenken. Unausweichlich wird auch hier Organisation und Wirtschafts- kämpf einsetzen. Das mag im letzten Grunde Wahnsinn sein — aber an diesem Wahnsinn ist einstweilen nicht der Arbeiter am Geist schuld, sondern die Gesellschaft, die ihn in unmögliche Lebensbedingungen hineingezwungen, und seinen wahren Cha- rakter als ihren Sprecher und Repräsentanten vergessen hat. a56 Revolver oder Stimmzettel? Dass in irgendeiner Organisation der einmütige Wille aller herrsche, ist eine kindliche ausserpolitische Illusion, mit der man keinen Schritt vom Fleck kommt. Damit beginnt die Wirklich- keit, dass verschieden gerichtete Kräfte da sind, dass niemals zwei Menschen, geschweige denn tausend oder sechzig Millionen, einig sind, und dass es sich darum handelt festzustellen, welche Meinung, welches Interesse in zahlreichen Fällen, wo Versöh- nung und Ausgleich nicht möglich ist, herrschen soll. So wich- tig in aller Politik das Streben nach Interessenausgleich sein muss, die Ordnung bezüglich der Herrschaft zwischen den unausgleichbaren Interessen bleibt das allerwichtigste Problem. Im Anfang ist die Gewalt, die nackte, physische Gewalt. Und ich stelle sogleich den Satz auf, dass sie auch am Ende ist. Das Streben nach ihrer Überwindung ist eine Angelegenheit der Kultur, hat einen ungeheuren, aber nur normativen, d. h. nie wirklich erfüllbaren Wert. Die Sache der Zivilisation, in deren Bereich durchaus die Politik liegt, ist es dagegen, der unabwend- bar bestehenden Tatsache der Gewalt die möglichst milde Form zu geben. — In der Tierherde, und sicher nicht anders in der primitiven Menschenherde, ist der physisch Stärkste der Herr- scher. Sein Interesse geht vor, sein Wille entscheidet. Das hat zunächst in seiner körperlichen Überlegenheit nur eine Ursache, aber es hat auch einen Sinn und einen Wert, denn kraft eben dieser Überlegenheit kann er die Herde am besten nach aussen 17 Bab, Erwachen zur Politik 267 vertreten, schützen. Diese nackte Muskelgewalt kann sich im Laufe der Zeit nun sehr komplizieren. Zunächst durch Einfüh- rung der Waffen: Hundert Mann mit Spiessen sind stärker als tausend Unbewaffnete, hundert mit Gewehren stärker als zehn- tausend Wehrlose. Aber diese Komplikation ist doch nur eine rein quantitative; sie hat ihre physischen Grenzen: wird das Missverhältnis nach reiner Muskelkraft zu gross, so werden die Unbewaffneten schliesslich den Bewaffneten ihre W^affen entreis- sen und ihre Überlegenheit zur Geltung bringen. Und ähnlich steht es um die anderen Komplikationen der physischen Macht, die rein intellektuellen Machtmittel, von denen die Handhabung des suggestiven W^ortes und die straff zusammenfassende Orga- nisation der Kräfte als die wichtigsten genannt sein mögen. All diese Zwischenschaltungen bedeuten nur einen deutlich begrenz- ten Aufschub der letzten Entscheidung, die irgend einmal doch wieder bei der rein körperlichen Gewalt liegt. — Für diese Ge- walt aber ist bereits die summierte Zahl Interessen gleicher von grösster Wichtigkeit. Wenn sich in einer Herde eine Anzahl Minderstarker durch ein gemeinsames Interesse so fest verbunden fühlt, dass sie wirklich einmütig vorgehen können, so werden sie eventuell den einen Stärksten überwältigen und an seiner Stelle werden sie so lange herrschen, wie ihre Einheit hält und ihre summierte Kraft sie zur stärksten Gesamtperson der Gruppe macht. Wenn am Charakter der herrschenden Gewalt die Verschie- denheit der ihr dienenden Mittel nichts ändert, so ändert am zuletzt ausschlaggebenden Charakter auch die Idee nichts, in deren Dienst die Gewalt tritt. Gewiss kann ein religiöser Glaube, eine historische Tradition, ein Volk „beherrschen". Aber wenn man schärfer zusieht, so dauert die Herrschaft des Priesters und des Königs doch nur genau so lange, wie die Suggestion stark genug ist, ihnen überlegene phvsische Gewalt zu verschaffen, da- durch dass sich die Mehrheit der im Volk vorhandenen Muskel- 258 kräfte oder Waffen dieser Autorität zur Verfügung stellt. In dem Augenblick, in dem sich die Träger der physischen Gewalt zu einem grösseren Teil im Interessengegensatz zu den Herrschern finden, beginnt die Revolution, — wenn es auch noch lange dauern kann, bis sie die Schwerkraft der einmal bestehenden Zustände überwindend zum Ausbruch und zum Siege gelangt. Letzten Endes muss sich durch alle Komplikationen der politi- schen Organisation das rein physische Machtverhältnis immer wieder durchsetzen. Es liegt nahe, diese Auffassung vom Wesen der menschlichen Gesellschaft eine trostlose, eine pessimistische zu schelten. Ich bestreite das durchaus. Sie ist nur eine realistische, die der unablösbaren Körperlichkeit unserer Existenz Rechnung trägt. Jene Weltanschauung aber, die sich der körperlichen Begrenzt- heit und Gebundenheit des Daseins stets bewusst bleibt, scheint mir keineswegs pessimistisch, ja, sie eröffnet für die Entfaltung geistig-seelischer Mächte sehr viel mehr Hoffnung, wie ein „Idealismus", der mit der Nichtachtung des Körpers beginnt, und (nach der Art, wie alle Extreme sich berühren) in seinem prak- tischen Ergebnis dem stumpfsten Materialismus sehr nahe kommt. Während war seit Goethe wissen, dass man das Geheimnis des Lebens durch entschlossene Hingabe an seinen farbigen Abglanz wahrhaft erfassen und nur so erfassen kann. — So, glaube ich, werden politische Phantasien, die nur auf rein seelenhaftem Grunde aufgebaut sind, uns nur immer tiefer in die Not körperlicher Gewaltsamkeit verstricken; während die Be- trachtung, die von der physischen Bedingtheit jeder Organisation ausgeht, vielleicht einen Ausblick auf die Befreiung des Geistes in einer menschenwürdigen Organisationsform der Gesellschaft eröffnet. Wenn also Gewalt, das Übergewicht der vorhandenen Körper- kräfte, stets die letzte Instanz der gesellschaftlichen Entscheidung ist, hat dann die Menschheit gar kein Mittel, ohne Blutvergiessen, 17* 259 ohne die mindestens teilweise Vernichtung der widerstrebenden Partei eine wichtige Entscheidung zu treffen? Sie hat bisher ein einziges Mittel gefunden: den rechnungsmässigen Austrag der Gewalt, die Herrschaft der Mehrheit! Dies ist (vollkom- men zugegeben!) keine Angelegenheit der Kultur, keine Überwin- dung der Materie durch die Seele, aber es scheint mir die vielleicht wichtigste Erfindung des Kopfes, der Zivilisation zu sein: der körperlichen Entscheidung wird eine möglichst reibungslose, möglichst schmerzlose Form gegeben, und zwar auf dem Wege der vernünftigen Überlegung. Denn zweifellos steckt hinter dem Ursprung der Mehrheitsherrschaft so wenig ein Mysterium, wie hinter dem des Monarchen — sondern die einfache Überlegung, dass hundert am Ende ja doch stärker sind wie dreissig, und dass man sich also fügen könne, ohne erst die aussichtslose Gewalt- probe zu machen! Beweis genug: der Nimbus der Mehrheit gerät immer ins Schwanken, sobald sie sehr klein wird — ob 48 mit einigem Glück nicht 5 2 bezwingen können, ist nicht ausgemacht — — Also nicht die „Idee" (die bei 1000 : 999 ebenso erfüllt ist wie bei 1000: l!), sondern die praktische Konsequenz entscheidet! Wenn aber auch die Anwendung des Mehrheitsprinzips in Grenz- fällen fraglich bleibt, so ist es doch eine ungeheuer wichtige, unvergleichlich Kraft sparende Erfindung innerhalb der natio- nalen Organisation. (Im Internationalen war die italienische Renaissance schon einmal bei einer ähnlichen Rationalisierung der Gewalt angekommen : feindliche Städte eröffneten sich ihre Hauptbücher, wiesen nach, wer auf die Länge die grössere Zahl von Söldnern würde bezahlen können, und fochten so den Krieg ohne Schlag aus. Da solche Messbarkeit der Einzelkräfte heute bei der Interessen Verwobenheit aller Völker nicht einmal dort entscheiden würde, wo sie möglich wäre — Österreich war zweifellos stärker wie Serbien! — so sucht man die Rationali- sierung jetzt auch hier im Mehrheitsprinzip, denn nach keinem andern wird das Völkerbundsparlament, wenn es je zustande Q.60 kommt, entscheiden können — weil es kein anderes gibt!) Zu- nächst einmal aber im nationalen Kreise die Herrschaft der Mehrheitsidee zu festen — sie auch gegen die Versuchungen jener Grenzfälle stark zu machen: das scheint die dringendste Aufgabe aller Zivilisation. » Die Erfindung des Mehrheitsprinzips für das politische Recht scheini mir etwas ebenso Grosses und im Grunde gar nichts an- deres zu bedeuten, wie die Durchsetzung der richterlichen Ge- walt für das Privatrecht. Auch die ist ja letzten Endes nur wirk- sam, weil und soweit sie Abkürzung und Vertretung einer phy- sischen Gewalt ist. Die Macht des Richters, den Räuber meines Gutes zu verhaften und zu strafen, beruht darauf, dass eine grosse Mehrheit der Volksgenossen hinter ihm steht, bereit, sich letzten Endes mit Armgewalt für seine Auffassung einzusetzen. Und der Verbrecher widerstrebt nur deshalb in den meisten Fällen nicht, weil der Kampf gegen eine solche Mehrheit für ihn aussichtslos wäre. Überall aber, wo man einem Richterstand gegenüber Rechtsbeugung, d. h. Herrschaft eines nicht von der grossen Mehrheit getragenen Interesses, wittert, beginnt auch hier letzten Grundes die Revolution. Trotzdem ist das Rechtswesen eine un- geheure Erleichterung, Milderung, Vermenschlichung des Le- benskampfes. In genau demselben Range aber steht die Mehr- heitsherrschaft im öffentlichen Leben. Denn es ist Selbstbetrug, zu behaupten, dass derjenige, der sie verwirft, für die letzte Ent- scheidung irgend etwas anderes übrig lässt als die rohe Gewalt. Das Wesen der Mehrheitsentscheidung ist im Grunde immer eins und unvariabel. Zwischen der Volksversammlung von Athen, der Urabstimmung in einem Kanton der Schweiz und den Wahlen zum englischen Parlament sind nur techni- sche Unterschiede. Die wachsende Komplizierung der Technik hängt unlösbar mit der wachsenden Ausdehnung der politischen Gebilde zusammen, und sie gehört mitsamt dem ewigen Prinzip der Arbeitsteilung (zwischen Wählern und erwählten Parlamen- 261 tariern hier) wohl zum Wesen aller Entwicklung in der uns be- kannten Natur. Wesensunterschiede aber sind zwischen Revolver und Stimmzettel. Ich kann nicht mit dem Mehrheits- recht brechen ohne Faustrecht, Revolverrecht, zu proklamieren, denn die Menschheit kennt bis heute nichts Drittes. Nackte oder transformierte, zivilisierte Gewalt, das ist in der Tat die ganze Wahl, die uns die Geschichte lässt. Und hier liegt die schreck- liche Gefahr, in die uns alle Schwarmgeister stürzen, die das heilige Streben der Kulturgeschichte nach grösstmöglicher Über- windung der Gewalt durch die Liebe, dies schöpferische Prinzip der reinen Geisteswelt, diese ewig unentbehrliche Richtkraft der Kulturgeschichte, unvermittelt als praktische Maxime in die Politik, diese Organisation des Tages, der Wirklichkeit, der Zi- vilisation übertragen — und nun zunächst mit billigem Hohn gegen das bloss verhüllte Gewaltwesen, die Unzulänglichkeit, die Gebrechlichkeit des Mehrheitsprinzips vorgehen! Wer „die Schmach des Wahlklosetts" (dies war ein Lieblingsausdruck des aus allzu ästhetischer Grundeinstellung edel-irrenden Gustav Landauer) vernichten will, erreicht regelmässig nichts anderes, als dass die un verhüllte Gewalt den Thron besteigt; erreicht die Herrschaft der gerade am schnellsten versammelten Fäuste und Gewehre, die Gegenwirkung der danach gesammelten, den ur- tümlichen Kraftaustrag, — statt der reinen Liebe das Blutver- giessen! — Der Lokalismus, mit dem viele Anarchisten und Kommunisten das Wesen der Wahl und der Mehrheitsbildung zu umgehen glauben, scheint mir ein wahrhaft kindlicher Irrtum. Er verhindert die Wahl zwischen roher Macht- oder Mehrheits- , Entscheidung so wenig, wie ein hartnäckiges Imbettebleiben den Sonnenaufgang. Wenn ich ein grosses Volksganzes in beliebig kleine, sehr selbständige Bezirke zerschlagen habe, so ist damit wahrscheinlich die Lebenskraft dieses grossen, arbeitsteiligen Organismus vernichtet, aber noch nicht im mindesten ein drittes Prinzip der sozialen Entscheidung gefunden. In jedem dieser 262 tausend Bezirke ^vird letzten Endes der Revolver oder die ge- meine, verachtete Abstimmungsmehrheit entscheiden, was ge- schehen soll. Und wenn dann diese zahllosen Selbständigkeiten doch noch irgendwie zu einer gemeinsamen Aktion kommen sollen, so wird unter ihnen nichts anderes als wieder das gleiche leidige Prinzip entscheide^|. Sich einzureden, es gäbe auf der ganzen Welt etwas anderes als Revolver oder Stimmzettel, ist eine furchtbar gefährliche Vogel-Strauss-Politik. Klar muss sich jede Politik darüber sein, dass in der Welt, die noch nicht aus gereinigten liebeseligen Geistern besteht, nichts entscheidet, als die Gewalt. Und über rohe Gewalt sich zu be- klagen, hat einzig der ein Recht, der unbedingt das andere, noch existierende Prinzip: die zivilisierte, die unblutige, die Mehrheitsgewalt vertritt. Hier liegt die tiefe Unklarheit und geistige Unredlichkeit der Antidemokraten von rechts und von links. Wer die Diktatur will, der Junker oder der Proletarier, bekennt sich zur rohen, unzivilisierten Gewalt, denn er lebt in der Hoffnung, dass kraft militärischer Organisation oder grossstädtischer Konzentration seine offenbare Minderheit die Masse der andern doch überwältigen werde! — Ist aber eine solche Beschränktheit des Denkens glaublich, die der so ange- griffenen Mehrheit dann das Recht abspricht, gegen die drohende Gewalt ihrerseits Gewalt zu setzen?? Die Existenz dieses verlo- genen Zetergeschreis über Gewalt wäre doch wohl gar nicht möglich, wenn nicht im Politischen die giftigen Gase des Mora- lismus den Verstand umnebelten; in solcher Atmosphäre aber sieht niemand mehr im Gegner den Träger einer andern, in sich berechtigten Interessenwelt, deren Macht gegen die eigene abge- grenzt werden muss, sondern den schwarzen Schurken, der der zweifellos allein selig machenden Kraft des vom gerade Sprechen- den vertretenen Evangeliums aus purer Bosheit widerstrebt. So ist denn des anderen Gewalt Infamie, die eigene aber heiliger Beruf. In Wahrheit darf sich über Gewalt nur beklagen, wer 263 sich unbedingt zur Herrschaft der Mehrzahl bekennt. Die Rein- heit einer Demokratie besteht darin, dass sie der Bild ung einer Mehrheit auf geistigem Wege keinerlei Schran- ken auferlegt. Sobald sie mit Gewalt gegen irgendwelche gei- stigen Werbemittel der Oppositionsparteien vorgeht, verletzt sie ihr Prinzip und fordert die alte Gewaltform heraus. Umgekehrt: sobald die Opposition nicht mehr versucht durch Erlan- gen der Mehrheit zur Herrschaft zu kommen, sondern mo- mentane und lokale Gewaltakte als Weg zur Herrschaft aner- kennt, ist es natürlich Wahnsinn, ihr noch mit Mehrheitsbe- schlüssen zu begegnen! Es ist genau so, als wenn ich gegen den Räuber, der nach meiner Börse fasst, statt ihm den Arm wegzu- schlagen, eine korrekte Rechtsbeschwerde entwerfen wollte. Das kann ich tun gegen den Nachbar, der juiistisch einen Anspruch gegen mich erhebt, der mir ungerechtfertigt scheint. Gegen Ge- walt hat es nie etwas anderes in der Welt gegeben als Gewalt — und mit dem Wahnsinn der vom moralischen Hochmutsteufel Besessenen, die die eigene Gewalt nicht Gewalt nennen lassen wollen, gibt es keine Diskussion. Summa: die Mode hochmütigen Geredes über die „formale Demokratie", das Mehrheitsrecht, ist furchtbar gefährlich, weil es nach Ablehnung dieses Prinzips nur noch die nackte brutale Gewalt gibt, da die Menschheit nichts Drittes erfunden hat. Dies Gerede ist aber auch ungemein töricht, denn selbstverständ- lich ist die Demokratie „formal". Alles, wodurch der Geist die Roheit der Materie bezwingt, ist Form! Alle Zivilisation besteht aus der Respektierung von Formen. Man kann an der Verfeine- rung und der Verbesserung dieser Form arbeiten. Sie aber als blosse Form abzulehnen, das führt bestimmt nicht zum dritten Reich des unmittelbaren Geistes, sondern zum Raubtier in die Wüste. Der sogenannte reine Idealismus führt überall, wo ersieh Herrschaft über die Wirklichkeit anmasst, den wüstesten Mate- rialismus herbei, gerade weil er die Form verachtet. Und nur 264 der Realismus, der die Form ehrt, als das einzige uns verliehene Mittel, aus dem Lebensstoif, dem rohen Chaos, in dem wir ge- boren sind, etwas abzugrenzen, das als Gefäss des Geistes gelten kann, — nur dieser Realismus darf hoffen, unser Leben würdiger und freier zu gestalten. Und darum beginne alle Politik mit der harten Erkenntnis: Revolver oder Stimmzettel — es gibt keine andere Wahl! Nachtrag Zwischen der Niederschrift und der Drucklegung dieses Auf- satzes geschah das Kappsche Attentat auf das Leben des deut- schen Volkes, das eben erste schwache Ansätze der Genesung zeigen wollte. Das macht ein Nachwort nötig; denn dieser Fall ist doch ein gar zu illustratives Beispiel für das Thema „Revolver oder Stimmzettel". Freilich auch noch für anderes hat dieser Fall eine unvergleichlich erhellende Kraft: denn deutlicher, als durch dieses Attentat geschehen, konnte es wohl nicht gemacht werden, bis zu welchem raubritterlichen Grade von Gemeinschädlichkeit sich das Wesen des ostdeutschen Junkertums entwickelt hat. An die Stelle des staatlichen Verantwortungsgefühls, das früher in irgendeinem Grade seinen skrupellosen Egoismus bän- digte, ist jetzt das Landsknechtstum des langen Krieges und die verhetzte Angst des besitzenden Grossbürgers als vergiftendes Element getreten. Und so versuchten diese Helden der unseligen „Vaterlandspartei" den Sturz der deutschen Verfassung in einem Augenblick, wo sie damit nicht nur die beginnende wirtschaft- liche Genesung und den kaum gewonnenen inneren Frieden in Frage stellten, sondern auch die Abstimmung in der Nordmark schwer gefährdeten, den Einmarsch der Franzosen über den Rhein provozierten, und das Auseinanderfallen der deutschen 265 Einheit in greifbarste Nahe brachten! ! UnwiderlegHcher hat sich die Verlogenheit der patriotischen Phrase im Munde skrupelloser Standesegoisten wohl noch nie erwiesen. Da- hei scheint mir die Ruchlosigkeit des Unternehmens in einem genauen Verhältnis zu seiner kläglichen Aussichtslosigkeit zu stehen. Denn meiner Meinung nach darf sich über die Revolte an sich, auch über den „Eidbruch" niemand so laut entrüsten, der die eben stattgehabte Revolution als rechtsbildend anerkennt. Eine Revolution steht, wie der Krieg, ausserhalb geschriebener Rechtsbegrifife — sie hat Naturrecht in dem Grade, in dem sie der Durchsetzung tatsächlicher Machtverhältnisse gegen die er- starrten Formen, gegen nicht mehr zutreffende Machtgebilde dient. Sie wird aber verbrecherisch in dem Grade, in dem sie den Versuch macht, durch eine zufällige Kombination das Interesse einer kleinen Minderheit entgegen der noch von der Mehrheit getragenen Form zur Herrschaft zu bringen. Und in diesem Sinne war diese jämmerliche Fünf-Tage-Herrschaft, die sich auf absolut nichts als auf achttausend zufällig verfügbare, verführbare Ge- wehre stützen konnte, im höchsten Grade verbrecherisch. Die Einsichtslosigkeit in die wirklichen Machtverhältnisse, die ge- wissenlose Selbstverblendung ist eben in der Politik höchstes Ver- brechen. — Damit sind wir aber auch bei unserm obigen Thema: Es erwies sich, dass achttausend Gewehre doch nur auf einen lächerlich kurzen Augenblick mächtiger sind, als fünfzig Milli- onen unvorbereiteter, unbewaffneter Menschen. Die Kraft, mit der diese ganz schnell ihren Willen durchsetzten, war die nega- tive Muskelleistung: die Arbeitsverweigerung — übrigens nicht nur der Proletarier, sonders besonders wichtigerweise auch der Beamten, namentlich der hochstehenden Beamten. Keine Frage, dass solch Generalstreik, der, wie dem Einzelnen, so auch dem Staat für den Augenblick alle Lebensmittel sperrt, auch ein Gewaltakt brutalster Art ist — nur hier ein höchst berechtigter Abwehrakt! Es fällt schwer, sich etwas Perfideres zu denken, als 266 die Freunde des Herrn Kapp, die jetzt die Demokratie für die schlimmen Folgen des Generalstreiks verantwortlich machen: die Frechheit von Brandstiftern, die die Feuerwehr wegen angerichteten Wasserschadens verklagen! — Richtig ist freilich, dass die durch die Gegenaktion notwendig wieder entfesselte kommunistische Bewegung, die proletarische Gewaltaktion, das Diktaturstreben von links, eine ebenso grosse Gefahr für das deutsche Leben bedeutet. Denn die Behauptung der Kommunisten, dass sie „das"' Volk vertreten, ist nicht wahrer, als die der Kappleute, dass sie die Sache aller „wahren" Deut- schen verträten. Auch hier wollen zufällige Gewaltansamm- lungen sich die Herrschaft über eine grosse, anders gesinnte Mehrheit anmassen. Und solche Gewalt muss unvermeidlich zu Gegengewalt, zu Bürgerkrieg und Chaos führen. Vor dem blutigen Kriege aller gegen alle gibt es deshalb nur eine ein- zige Rettung; die reine, die streng formale Demokratie, die immer tiefer einwurzelnde Ehrfurcht, meinetwegen der Kult, der Götzendienst des Stimmzettels! Nichts kann uns retten, als der Sieg einer den krassen Egoismus überwindenden, rein demo- kratischen Gesinnung! 267 Demokratische Partei I. Liberale Erneuerung!? (Bei der Begründung der Partei: November 1918) Es gibt Menschen — und ich bekenne mich als einen von ihnen — , optimistisch genug, um in dem gewaltigen Wetter dieser Zeit auf eine Reinigung jenes altehrwürdigen, aber gräss- lich verstaubten und verfilzten Wesens zu hoffen, das sich Libe- ralismus nannte — und das ja einmal alle Freiheitsideen der Sozialdemokratie, von keinem Klassendogma gebunden, in sich trug! Vielleicht ist die Gründung der neuen Demokratischen Partei etwas wie der Anfang zu einer Befreiung der grossen liberalen Bürgerleidenschaft aus den Händen machtgeduckter, philisterlich verphraster Bezirksvereine. Vielleicht — aber dann müssen sich die Führer dieser Bewegung etwas schärfere, härtere, reinere Luft um die Nase wehen lassen als sie heute selbst radi- kalere Organe des Liberalismus atmen. Wie flach sentimental, wie gebunden an den blossen Schein innerst morscher Herrlich- keit wirkt es, wenn da an sehr bedeutsamer Stelle das Herunter- holen der deutschen Kriegsflagge durch solche Worte begleitet wird: „Und dann steht in der Betäubung des Schmerzes noch ein Gefühl auf: die innere Auflehnung gegen die Gewalt, die hier verübt ist. Tausende haben mitgemusst!" Auf solche tief unklare nationalistische Empfindsamkeit muss geantwortet werden: Bei jeder gewaltsamen Bewegung gibt es Tausende, die bloss fortgerissen sind, die mitmüssen. Auch lässt sich kein Übel aus der Welt räumen, ohne dass W^erte, die mit ihm verwachsen 268 sind, mit zugrunde gehen. Jede Trauer also in Ehren — ich ver- denke sie auch keinem alten General und keinem im Amt er- grauten Geheimrat. Ein Führer zur Demokratie aber sollte sich über diese Trauer hinaus klarmachen : die Gewalt, die da ge- übt wurde, war not wendige Reaktion gegen dietausend- mal unheilvollere Gewalt, die so viele Jahre lang von einer Herrscherkaste verübt wurde! Seit August 1914 haben nicht Tausende, nein: Millionen „mitgemusst", und zwar in Tod, Verstümmlung, Elend, Barbarei und — hundert- mal schlimmer! — in die entwürdigendste Sklaverei preussischer Militärdiszipl in „mitgemusst"! Habt ihr denn heute noch nicht begriffen, wie im Kunstrausch der August-Tage wohl ein be- grenzter, allein immerhin grösserer Teil des Volkes, dann aber trotz aller demagogischen Rhetorik, trotz den unerhörtesten gei- stigen Druck- und Verführungs-Mitteln der Machthaber immer weniger und weniger Deutsche diesen Krieg als ihre Sache emp- fanden, wie sie immer deutlicher fühlten, dass sie nur „mit- mussten", mussten für das Klasseninteresse einer Herrscherkaste, die die rohe Gewalt in Händen hatte. Gar nichts als der Ausbruch dieser Mitgemussten gegen diese rohe Gewalt war das Entschei- dende in dieser November-Revolution, die ja eben deshalb ganz wesentlich Soldaten-Revolution gewesen ist! Das Missver- hältnis des eigenen Wi llens zum aufgenötigten war rieseng ro SS geworden. Wer aber all diese Jahre keine Zunge gehabt hat, die Leiden der Millionen zur Blutfron Vergewaltigten — ich meine grade ihre moralischen Leiden, die Leiden ihrer Unfreiheit! — zu be- klagen : woher nimmt der den Mut, jetzt über die unfreiwilligen Mitläufer zu jammern, die sicherlich auch die revolutionäre wie jede mächtige Bewegung mit sich riss!? Solche Entgleisungen setzen den Liberalismus immer wieder dem Verdacht aus, dass er mehr der schön dekorierten Macht als der nackten Wahrheit zu dienen liebt, dass ihm das kriegerische Prunkstück einer 269 sinkenden Fahne rührender und wichtiger ist als die freihch unsichtbare Würde entrechteter Menschenmassen, die seit langen Jahren vor dem preussischen Militarismus in den Staub sank. unser „Volksheer" war ungefähr so Eigentum des Volkes, wie Hammelbraten eine Speise für Hammel ist! Die erste Hälfte bezeichnet das Objekt, das für einen frem- den Zweck präpariert wird, nicht den Besitzer! Wer auch nur einen Monat diesen „Rock des Königs" angehabt hat, der hat viele tausend Male, hat in jeder Minute gefühlt, dass er hier nicht der Mitwirkende einer gemeinschaftlichen Tat, sondern der brutal beherrschte Knecht eines fremden Willens war. Das Volk als Werkzeug eines Herren-Interesses: das war unsre Armee — und dieses Herren-Interesse hat sich skrupellos deut- lich gezeigt von Zabern bis zu den Tagen noch der Mehrheits- Regierung: noch im Oktober haben diese Machthaber die tau- sendmal geleugnete und zehntausendmal begangene Straf- Einziehung Missliebiger zum Militär vielfach vor- genommen, haben mit mannigfachen Massregeln die Entwicklung zu kreuzen gesucht und (militärisch gewiss ausgezeichnete!) Pläne zur Volksabschlachtung ausgearbeitet. Auf den schlechten, aber furchtbar tragischen Wortwitz vom „Volksheer" herein- zufallen, zeigt aber wahrhaftig nicht den Wirklichkeitsblick des Politikers; und sein Gefühl an äussere Machtattribute statt an lebendiges Menschentum zu heften, zeigt den alten, verfilzten Parteiliberalismus, dessen Ablösung durch eine wahrhaft liberale, zum Mensch heitsgrund fühlende Leiden- schaft allerdings eine grosse Sache für Deutschland und für die Welt wäre. Wenn die neue Demokratische Partei diese Ablö- sung bringen, diese grosse Sache sein will, so wird sie sich nicht von allem berechtigten Einheitsstreben des Augenblicks verführen lassen dürfen, in einem wahllosen Versöhnlichkeits- taumel jeden, der sich anbietet, an ihre Brust zu ziehen und ein 270 gestalt- und geschmackloser Wonnekloss zu werden. Von vorn- herein tut reinlichste Scheidung not, damit nicht der recht nahe liegende Verdacht des „Vorwärts" wahr werde, dass auch diese neue Bildung des Liberalismus sich wieder zum Vorspann kapi- talistischer Interessen entwickelt. Der Kapitalismus hat in seinem Seelenbündnis mit dem militärischen Junkertum das Unheil der Welt verschuldet. Mächtig war er gewiss überall — an den Rand des Abgrunds hat er zunächst einmal Deutschland geführt. Darum ist es notwendig und in Ordnung, dass Deutschland mit seiner Beseitigung vorangehe. Wir wollen in der neuen Demo- kratischen Partei jene Profossen des Grosskapitals nicht wieder- sehen, die die Stirn hatten, sich bis dato „Nationalliberale" zu nennen. Ich kenne viele, die die neue Partei im Sturmschritt verlassen würden, wenii jemals Herr Fuhrmann und Konsorten in ihr einen irgendwie sichtbaren Platz einnähmen. Überhaupt sollte man die Gutgläubigkeit an menschlichen Gesinnungswandel nicht so weit treiben, in den neuen Bund Republikaner zuzu- lassen, die noch vor zehn Wochen gegen das gleiche Wahlrecht in Preussen gestimmt haben. Aber auch die Fortschrittspartei möge nicht wähnen, dass sie ihr altes Wesen unverändert in die neue Demokratie hinübernehmen kann. Die Demokratische Par- tei könnte nicht eine einzige solche Blamage im alten Foitschritt- stil überleben, wie es jene allerletzte Reichstagswahl war, die unter dem Schlachtruf des Liberalismus einen politisch unbe- kannten, als skrupellosen Helfer skrupellos kapitalistischer In- teressen aber sehr bekannten Herrn zum Volksvertreter machte. Die neue Demokratische Partei wird antikapitalistisch sein, oder sie wird nicht sein. Der Sozialismus ist eine innere Notwendigkeit längst gewesen: er ist heute auch eine äussere. Denn die prole- tarischen Massen, die im November den entscheidenden Anstoss gaben und das Bürgertum dadurch gründlich beschämten, kön- nen und werden sich keine bürgerliche Mitregentschaft mehr gefallen lassen, die ihrem innersten Lebensinteresse widerstrebt. 271 Die neue Partei wird sich in dem Willen, zu sozialisieren, das Eigentum an Produktionsmitteln in der Ausdehnung und in dem Tempo, wie es die Volkswohlfahrt verträgt, aufzuheben, durch- aus nicht unterscheiden dürfen von jener Sozialdemokratie, die man heute noch die „Regierungspartei" nennen kann — nicht mehr, weil sie sich irgendeiner Regierung notgedrungen ver- bündet, sondern weil sie das Mass von Selbstbeherrschung und Übersicht zeigt, mit dem allein man regieren kann. Der Unterschied der neuen liberalen Partei von der sozialde- mokratischen wird trotzdem scharf und tief genug sein. Er be- ruht auf der Achtung und der Verehrung des individuellen Le- bens, auf dem Fortfall jeder Anbetung des Staates an sich, auf dem Willen, die Freiheit der Person nicht über das wirtschaftlich Notwendigste hinaus zu beschränken. Auf der ersten Versamm- lung der Demokratischen Partei ist ein sehr kluges Wort gefallen: „Diese Revolution war nur in zweiter Linie eine proletarisch sozialistische — sie war in erster Linie eine militärisch indivi- dualistische!" Überall gaben die Soldaten den Ausschlag, die Mitgemussten, die den entwürdigenden Druck über ihre Person nicht mehr ertrugen. Und diese Wurzel der neuen Zeit senkt sich tatsächlich in liberalen, nicht in staatssozialistischen Boden. Das Heer, das diese Bewegung entschied, war kein Klassenheer, und die liberale Demokratie wird sich von der Sozialdemokratie in nichts so leidenschaftlich entschieden abwenden wie in der Verwerfung der Klassenkampf-Theorie. Wir wollen über den Klassenkampf hinaus zum gemeinsamen wirtschaftlich ermöglichten Genuss der nationalen Kulturgüter durch Alle. Auf diesem Wege kann sich das Bürgertum einstweilen nicht ausschalten lassen; denn keine proletarische Ekstase kann die Tatsache aus der Welt schaffen, dass die Kultur Deutschlands bisher eine rein bürgerliche gewesen ist, und dass deshalb bis auf weiteres die Hände, die sie geschaffen haben, auch teilhaben müssen an ihrer Verwal- 272 tung — so lange nämlich mindestens, bis unsie Proletarier auf- gehört haben, „Proletarier" zu sein, bis sie Menschen geworden sind, denen wirtschaftliche Entlastung Zeit, Freude und Kraft zum Geniessen, Lernen und Schaffen innerhalb der Kultur gege- ben hat. Der Weg der Demokratischen Partei, die sich an keine Klassen, die sich an Alle wenden muss, wird negativ bestimmt von der Abwehr aller reinen Klasseninteressen der Junkerschen, der Kapitalistischen wie der Proletarischen, Er wird positiv be- stimmt durch die Aufgabe: im Verhältnis zur Sozialdemokratie nicht weniger sozialistisch, aber mehr demokratisch zu sein. 2. Tagt es? (Betrachtungen nach der ersten demokratischen Parteitagung. Juh 191 9) Auf diesem Tage haben viele treffliche Männer (auch Frauen) gesprochen, die als alte Parteimitglieder, vielerfahrene Politiker, langjährige Parlamentarier, legitimiert waren, — und es wurde nur ein wenig vermisst der Redner, dessen Legitimation, dessen ganz wesentliche Berufenheit darin bestanden hätte, all das nicht zu sein! Auf diesem Tage kamen beinahe alle möglichen Inter- essenkreise, Wirtschaftsgruppen, Lokalverbände zu Wort — und es wurde nur ein wenig vermisst der Sprecher derjenigen Men- schen, die in dieser Partei den ethischen Ort einer unmittelbaren, dem Druck materieller und lokaler Interessenkreise entrückten politischen Betätigung gesucht haben. — Obwohl es zuweilen erwähnt wurde, konnte man das Gefühl haben, das nicht alle Anwesenden so ganz im innersten Bewusstsein hatten, dass man hier auf der allerersten Zusammenkunft einer vollkommen neuen Partei sich befand, dass hier neues Leben tagen sollte und nicht die selige Fortschrittspartei oder gar die hochselige nationalliberale fröhliche Auferstehung feiern sollten. i8 |Bab, Erwachen zur Politik 27 J Wie war es doch? Als diese Partei vor acht Monaten gegründet wurde, da schien sie der endgültig gegebene Ort für eine nicht geringe Anzahl von Menschen, denen bisher keineswegs das politische Interesse, wohl aber die par- teipolitische Möglichkeit zu seiner Betätigung gefehlt hatte. Ich denke, das waren Menschen, denen höchstes Gut der Erdenkinder, letzter Inhalt alles politischen Strebens Frei- heit und Würde der Persönlichkeit war, und die im Staat durchaus nichts sahen, als ein Mittel, diese Freiheit und Würde zu erreichen und zu wahren. Gar nichts als ein sol- ches Mittel zum Zweck, aber ein gegen sperrende Privilegien irgendwelcher Menschen oder Klassen mit rücksichtsloser Ener- gie anzuwendendes Mittel. Derartiges stand zwar während der letzten fünfzig Jahre auf dem Programm der sogenannten libe- ralen Parteien Deutschlands, aber geistige Menschen konnten sich nur sehr schwer des Verdachts erwehren, dass den eigent- lichen Lebensinhalt dieser Parteien der Schutz bestimmter Klas- seninteressen ausmachte und dass sie unter Freiheit und Würde immer ziemlich genau die momentan gerade erreichte Lebens- haltung ihrer Schutzbefohlenen verstanden. Da rechts und links verschieden gefärbte aber gleich absolute Vergötterungen des Staatsbegriffs herrschten, im Zentrum aber eine religiöse Idee, die die Entfaltung der Persönlichkeit ausschliesst, so gab es für den ernsthaft liberalen Menschen im kaiserlichen Deutscliland eigentlich keine Möglichkeit parteipolitischer Betätigung. Dar- aus erfolgte die grosse Abstinenz der Geistigen auf politischem Gebiete, die einen keineswegs geringen Anteil an der bitter erprobten Geistlosigkeit und dem Zusammenbruch der deutschen Politik gehabt hat. Am 16. iSovember 191 8 trat eine neue Partei auf den Plan, die „den Geist der Erneuerung für alle Gruppen des Volkes" zu bringen versprach. Als „unrettbar tot" sollte das Alte — sollten auch die Führer, die „hinter dem Geschwindschritt der Geschichte 274 zurückgeblieben" seien — verlassen werden. „Kühne Mittel" zur „Gestaltung einer neuen sozialen wirtschaftlichen Politik", „starkes Hinwegschreiten über die seelenlos gewordenen Begriffe von gestern" wurden versprochen. — Viele horchten auf; viele glaubten, dass hier zum erstenmal wieder jenseits des trostlo- sen Klassenkampfes, der Deutschland zerrissen hat, Politik gemacht werden könne. Zum erstenmal seit dem Zusammenbruch der grossen demokratischen Partei von 1848! — der letz- ten in Deutschland, die keine Klassenpartei war, die einem grossen freien Yolksgedanken diente! — Jener Partei war die Aufrichtung des geeinten Deutschlands misslungen; sie hatte mit ihren besten und konsequentesten Köpfen die Schöpfung der preussischen Machtpolitik niemals als ihres Geistes und ihres Willens aner- kannt. Aber nun war dies Deutschland des preussischen Junker- tums, das Hervvegh und Kinkel bis an ihren Tod gehasst hatten, nun war es ja selber tot. Die Demokraten, die ihm einst die wahre Lebenskraft, das innerste Lebensrecht abgesprochen hatten, und dafür fünfzig Jahre lang Schimpf und Spott hatten tragen müssen, erschienen plötzlich im ganz andern Licht. Viel- leicht waren sie doch nicht so ganz schlechte Politiker; vielleicht hatten sie sich ein wenig im Tempo, aber nicht in der Sache geirrt? Jedenfalls jetzt war Deutschland neu zu schaffen und es konnte das einst erstrebte Deutschland des ganzen freien Volkes werden. Und da trat ja die „grosse demokratische Partei" auf den Plan. Vielmehr als auf ihre etwas degenerierten Eltern na- tionalliberalen und fortschrittlichen Andenkens konnte sie auf ihre grossväterliche Abstammung stolz sein. Eine Politik der er- neuerten Gewissen, eine Politik jenseits der Interessenkämpfe, eine Politik der freien, volkswilligen Persönlichkeit schien wieder möglich — und ich glaube, es war nicht zum mindesten der Zu- strom von Menschen, die nach Jahrzehnten parteipolitischer Verekelung hier wieder hofften, was der Partei starken Auf- schwung gab. Und darum glaube ich, hätte es auf diesem Par- 18* 27S teitag die stärkste Legitimation sein müssen für einen Redner, kein altes Parteimitglied, kein vielerfalirener Politiker, kein lang- jähriger Parlamentarier zn sein. Denn — es ist ja gewiss eine herrliche Sache um einen gutsitzenden Frack, aber ist er die gottgegebene Bekleidung für einen Jüngling, der in die Früh- lingsnacht seiner ersten Taten hinausstürmen soll? Wenn aber jene, durch den Mangel politischer Vorbelastung Legitimierten zu Worte gekommen wären, was hätten sie zu sa- gen gehabt? Vielleicht, dass sie ihre Hoffnung auf diese Partei immer noch nicht aufgeben wollen; aber sicher auch, dass ihnen die achtmonatliche Tätigkeit der deutschen demokratischen Partei das Festhalten an dieser Hoffnung manchmal recht schwer gemacht hat und auch, dass dieser Parteitag ihre Befürchtungen nicht eben zerstreut hat. Der Hauptreferent der Fraktion, Sena- tor Petersen betonte wieder und wieder, dass Politik eben „die Kunst des Möglichen" sei. Wir haben uns der Politik nicht zugewandt, um in einem neuen pikanten Stoff zu dich- ten, sondern um Politik zu machen — wir wissen also, dass dieser Satz wahr ist, wahr bis zur Tautologie: denn Politik ma- chen heisst am Ende weiter gar nichts, alsGeistiges, Gedachtes, Ge- fühltes ermöglichen, verwirklichen. Aber gerade ein liberaler Politiker, einer, dem Macht und Würde der Persönlichkeit erster Ausgangspunkt alles Denkens sein sollte, dürfte sich nie in Beto- nungen verfangen, die nach Marxismus oder Theokratie, nach All- gewalt der Materie und gottgewollten Abhängigkeiten schmecken - — er müsste betonen, dass alle Politik schöpferischer Art ein Anringen des freien Geistes wider all jene schwere Gewalten ist, die freilich der Ermöglichung Grenzen setzen. Uns war ja ein erneuernder Geist, kühne Mittel, starkes Hinwegschreiten versprochen worden! War die Partei bis an die Grenzen des eben Möglichen von diesem kühnen Geiste der Erneuerung erfüllt? Von aussen, bei der Personenfrage fängt schon der Zweifel an. Der Dank, den der Referent den alten bewährten Parteiorganen 276 spendete, mag in hundert technischen Beziehungen wohl verdient sein; ob es für die geistige Führung einer ganz neuen Partei ein Glück ist, so viel vielerfahrene Politiker, langjährige Parlamen- tarier, alte Parteimitglieder zu besitzen, das ist eine andere Frage. Gewiss sind eine Anzahl tüchtiger Praktiker aus dem Schatten der Kommunalpolitik in die Sonne der Reichspolitik getreten. Professor Schücking sitzt in der Nationalversammlung, Ernst Tröltsch sitzt im Landtag. Aber das ist nicht genug! Das ist durchaus nicht genug an neuen Männern! Es sind keine da? Das wäre zu bestreiten, das muss man notgedrungen durch persönliche Namhaftmachung bestreiten: wie ist es zu verstehen, dass eine Partei das Glück hat, einen Mann von dem geistigen Rang, dem hin- reissenden Temperament, der persönlichen Kraft Max Webers zu besitzen, ohne ihn an die sichtbarste Stelle zu stellen?? Warum zieren Nationalökonomen wie Jastrow und Franz Oppenheimer, Historiker wie Meinecke, Publizisten wie Professor Sänger nicht die Fraktion? Weshalb hat man nicht deu Mut, sich einen stets nützlichen Hecht wie Helmuth von Gerlach in den Karpfenteich zu setzen? Es muss auch gesagt werden, dass manchen, der hier eine neue, eine klassenlos freie Politik suchte, das Ausscheiden Theodor Wolfts aus der Parteileitung beunruhigt hat. — Lokal- organisationen, in denen vielfach noch Fraktionsgeist der Kaiser- zeit und zu wenig grossväterliches Erbe von 1848, zu wenig Revolutionsgeist lebt, bestimmen die Personenauswahl. Und dabei begibt sich der Parteivorstand in dem neuen Statut bei- nahe allen Einflusses auf die Nominierung der Kandidaten! Was die Wirtschaft angeht, so ist sie für uns nicht der gebie- tende Urgrund, aber doch die zuerst zu bewältigende Voraus- setzung aller Politik. Hier muss der Staat das kühn angefasste Mittel sein, um allen den Weg zur Entfaltung ihrer Persönlich- keit wirtschaftlich zu erschliessen, um freiheitsfeindliche Privile- gien zu stürzen. Gertrud Bäumer hat in der Wirtschaftsdiskussion des Parteitages eine Rede gehalten, von der man zur Schande 277 der Männerwelt sagen muss, dass sie das sonstige Niveau der Debatte um Wolkenkratzerhöhe überragte. Hier waren Gesichts- punkte für die soziale Neueinstellung von Arbeitnehmern und Unternehmern gegeben, die wirklich einen Geist der Erneuerung spüren Hessen. Aber Gertrud Bäumer verriet uns auch, dass sie mit diesen Anschauungen einer linken Minderheit in der Frak- tion angehört — und die Politik der Fraktion hat uns das schon früher und öfter verraten. Und in den Wahlkämpfen zum Ber- liner Stadtparlament durfte ein Kandidat der demokratischen Partei äussern: „Sozialisierung ist überhaupt Schwindel" — und es scheint, dass dieser Herr immer noch der demokratischen Partei angehört. Jenes Hausagrariertum, das sich aus einer urallen Gewohnheit freisinnig nennt, scheint vielen eine kaum ertragbare Belastung der Partei. Mag sein, dass es vierzig Jahre lang anging, die normale Vertretung grossbürgerlicher Standesinteressen für liberale Politik auszugeben — aber wenn der Geist der neuen Zeit auf eine reinlichere Scheidung drängt — wer muckt dann?! Immerhin hat es auf dem Parteitag nicht an Leuten gefehlt, die über soziale Gesinnung und soziale Politik sehr starke Worte gebraucht haben. Etwas zu starke Worte sogar. Denn wenn eine Partei gar nichts wäre, als sozial und nebenher demokratisch, warum in aller Welt ist sie dann nicht sozialdemokratisch? Der vernehmbare Unterschied muss wohl sein, dass uns bei stärk«iter Benutzung der Staat stets Mittel, nie Selbstzweck wird, dass wir sozialisieren, nicht um Persönlichkeiten einzuebnen, sondern um sie zu befreien, mit einem Wort, dass wir sozial und demokratisch zwar auf allen Wegen, am Ausgang und am Ziel aber liberal sind. Aber über die Kühnheit der Mittel, die die Partei für eigent- lich liberale Politik anwandte, gibt es auch einiges zu seufzen. Es waren die gleich altehrwürdigen Berliner Kreise, die bei den Nationalwahlen Hugo Preuss, dem Träger des alten demokrati- schen Einheitsgedankens in den Rücken fielen, und die plötzlich sehr heftig Kirchenglocken zu läuten begannen — in einem Flug- 278 blatt, das den grundlegendsten aller liberalen Gedanken, die Trennung von Kirche und Staat, gelinde gesagt etwas schwach betonte. Ich weiss natürlich, dass man dergleichen als kluge Wahltaktik rühmt, dass dies die alte Art ist, in der man sich Wählerstimmen „ermöglicht" — aber ich weiss auch, dass man mit solchen Kunststücken hundert wirklich Freigesinnte abslösst, wenn man wirklich hundertdrei Gedankenschwache mit ihnen eingefangen hat. Auf die Dauer verliert jede Partei ihre Wahler, wenn sie ihnen nachläuft, und erhält sie, wenn sie ihnen voran- geht — kühn vorangeht, stark hinwegschreitend über seelenlos gewordene Begriffe, die Politik erhöhend, zur Kunst all dessen, was nur dem äusserst gespannten Willen möglich ist. Und übrigens ist es nicht nur unklug, vom geistigen Programm einer Partei zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen abzu- biegen — es bedeutet gerade für eine liberale Partei die Selbst- verneinung. Denn wir sind ja überhaupt nur deshalb in diese Partei gekommen, um hier den Menschen zu finden, das Indi- viduum, das sein soziales Gewissen unmittelbar zur Volkspolitik führt. Wir suchten eine Partei, die nicht Interessenten grup- pen, sondern Anhänger eines geistigen Prinzips ver- einigt. Wir versagten der Sozialdemokratie, für deren ehrlich bemühte und sogar selbstlose Volkspolitik in der Regierung wir alle Hochachtung haben, unsere Gefolgschaft, wesentlich deshalb, weil sie sich nicht offiziell von dem unseligen Standpunkt des Klassenkampfes loszureissen vermag, der uns an den Abgrund geführt hat und uns noch heute alle mit äusserstem Verderben bedroht. Anfang und Ende, Sein und Nichtsein, allerinnerste Entscheidung der deutschen demokratischen Partei, jeder sittliche Wert und jede praktische Leistungsmöglichkeit scheint mir da- von abzuhängen, dass sie keine Klassen Vertretung wird, dass sie nicht mit jenem selbstsüchtigen Bürgertum weseneins wird, das auf französisch Bourgeoisie heisst. Am lo. November hatte der Sozialdemokrat Fritz Ebert, dessen Stellung damals noch 279 zwischen einem Reichskanzler aken, und einem Volkskommissar neuen Stils schwankte, noch den Mut, sich in einem Aufruf „An die deutschen Bürger" zu wenden. Das war der alte, schöne, grosse, klassenlose Sinn dieses Wortes, in dem auch die Demo- kraten eine hürgerliche Partei, d.h. eine Partei des ganzen Volkes sein müssten. Danach hat kein Sozialdemokrat mehr den Mut zu diesem Wort gefunden. Diese Vokabelfrage hat aber sehr tiefe, sinnbildliche Bedeutung; denn wir werden kein wahrhaftes Volks- leben haben, ehe sich Proletarier und Bourgeois wieder im Bür- gertum finden. Die sozialdemokratischen Führer des Proleta- riats stocken auf diesem Weg; die grosse aber, die allergrösste Auf- gabe der demokratischen Partei ist es, ihnen Mut zu diesem Schritt zu machen, indem sie ihr Bürgertum deutlich von Bour- geoisie freihält. Der allerschwerste Fehler, den die Partei bisher begangen hat, scheint mir deshalb gewesen zu sein, dass sie nicht deutlich genug das Zusammengehen mit den Parteien der Rech- ten uilter dem Schlagwort der „Bürgerlichen Sammlung" (d.h. des bourgeoisen Klassenkampfes) ablehnte. Die Vorstandserklärung bei der Nationalwahl war unscharf, und die Folge davon waren Listenverbindungen mit antirevolutionären Parteien. Ein Mensch wie Bruhn ist mit demokratischen Stimmen in die Nationalver- sammlung gezogen ! Wenn wir aber unsere Hoffnung auf eine geistige, den platten Interessenkampf überwachsende Volkspartei behaupten sollen, muss die erste Voraussetzung die bedingungslose und freudige Lossage sein von dem vorrevolutionären deutschen Reich, das von einem brutalen Klasseninteresse organisiert, beherrscht und zugrunde gerichtet wurde. Wir mögen von demokratischen Ver- tretern keine öffentlichen Pietätsanwandlungen für Kaiserbilder — wir mögen keine sentimentalen Liebeserklärungen für die verschwundene Herrlichkeit des alten Reichs. Unsere Liebe für Deutschland braucht solche Pietät für den Kaiserstaat nicht — ja es könnte sein, dass gerade eine leidenschaftliche Liebe zum 280 deutschen Volk uns diese Pietät verbietet! Denn wir fühlen, dass das deutsche Volk in diesem Staat nicht seine Freiheit, seine Würde, sein Recht hatte — nicht sein Reich. Das Reich der in Freiheit geeinten Deutschen, das die Demokraten vor siebzig Jahren zu schaffen versuchten, im Kampf gegen jene Klasse, die heute das Wort national monopolisieren möchte! dies Reich soll heute erst kommen: und der Stolz auf die eigenen Ahnen sollte den deutschen Demokraten heute sentimentale Zärtlichkeiten verbieten für den Staat jener Männer, die den politischen Willen unserer Grossväter brutal gebrochen haben — um ein Werk auf- zurichten, dessen Unhaltbarkeit heute erwiesen ist. — und um dieser echten Pietät willen ein letztes Erstaunen über die bis- herige Parteigebarung: eine Ausserlichkeit, aber eine in ihrer sinnbildlichen Würde sehr bedeutende! Wie war es möglieb, dass ein erheblicher Teil der Fraktion nicht Selbstgefühl genug hatte, das alte Banner der Grossväter mit Stolz zu begrüssen und gegen die schwarz-rot-goldnen Farben stimmte?? Mögen noch so praktische Bedenken gewaltet haben, es ist politisch instinkt- los, nicht zu fühlen, dass hier die Wichtigkeit der sinnbildlichen Bedeutung jedes praktische Bedenken hinfällig macht, dass gegen diese alten und neuen Farben stimmen, die alte und neue Revolution verleugnen heisst. Wir wollen aber die Revolution nicht verleug- nen. Wir wollen nicht mit jener notgedrungenen Miene, wie das eine Zeitlang auch die AUerkonservativsten taten, „auf den Boden der Tatsachen treten". Wir wollen das Recht dieser Tatsachen an- erkennen, wir wollen, dass die Tat noch nachträglich zu unserer Sache werde, denn das Alte war wirklich unrettbar tot und es ist deshalb aller gemeinsame Pflicht, sich bei keinem sentimentalen Rückblick aufzuhalten und das Neue zu wollen. Durch den schwar- zen Krieg und das blutige Elend sind wir gegangen, in der goldenen Flamme persönlicher Freiheit und volkumfassender Menschenliebe wollen wir ein neues Reich schmieden. Und wollen uns stolz beken- nen zu dem alten Bannerspruch der revolutionären Demokratie: 281 „Pulver ist schwarz Blut ist rot Golden flackert die Flamme." Ein ungehemmter, ein revolutionäre rWillezurEr- neuerung allein wird unsere Nacht tagen lassen. 3. Verwirklichung! (Durchaus ungehaltene Rede auf dem zweiten demokratischen Parteitage. Dezember 1919) Die weitaus wichtigste Veränderung, meine sehr verehrten Damen und Herren, die sich innerhalb der demokratischen Partei zwischen der ersten und dieser zweiten Tagung zugetragen hat, scheint mir der Tod jenes Mannes zu sein, den wir in Berlin zum Führer wählten. Friedrich Naumann lebt nicht mehr, und mit seinem Leben hat die demokratische Partei etwas sehr Wesent- liches, etwas sehr schwer Ersetzliches verloren. Wir dürfen und müssen die Bedeutung einer Persönlichkeit so staik in den Vor- dergrund rücken — viel stärker als eine von einfachen Klassen- interessen oder materiellen Dogmen zusammengehaltene Partei das zu tun brauchte — weil wir eine Partei der Persönlich- keiten bilden wollten — eine individualistische Partei. Das heisst heute keineswegs mehr eine antisozialistische; wir gestehen der Gemeinschaft weitgehendes Recht zu, in das Wirtschaftsleben einzugreifen, um eine Ordnung zu schaffen, in der menschen- würdige Entwicklungsmöglichkeiten für einen jeden gesichert sind. Aber das Ziel dieser Entwicklung soll eben die freie Per- sönlichkeit sein, nicht das mechanisch funktionierende Glied eines ungeheuren Staats- oder Kirchen- Apparats: der in Freiheit handelnde Mensch, in dem Selbstgefühl und Gemeingefühl sich gegenseitig bedingen und steigern, er ist Ziel und Rechtfertigung einer Gesellschaftsordnung, wie sie die demokratische Partei er- 282 strebt. Deshalb aber müssen wir auch ohne Scheu bekennen, dass für uns in jedem Falle wichtiger als alle Programme die Persön- lichkeiten sein müssen, die, mit ihrer Ausführung betravit, an unserer Spitze stehen. Unser letztes Ziel ist, eben weil es dem Geheimnis der Persönlichkeit verknüpft ist, nicht in abstrakten Begriffen auszusprechen, sondern nur in lebendigen Menschen darzustellen. Und mit Friedrich Naumann hat die Partei solch eine sinnbildliche Persönlichkeit verloren. Damit ist keineswegs gesagt, dass ich alles vorbildlich gut und schön nennen will, was Naumann in seiner langen politischen Laufbahn und namentlich in den letzten Jahren getan hat. Zwar das halte ich für sehr wohl möglich, dass der Spott jener Jungen, die jetzt die Blamage der Idee „Mitteleuropa" über alle Gassen rufen, noch einmal auf die Schreier selbst zurückfallen wird; und zwar nicht nur weil der Gassenjunge letzten Endes durch seinen Ton ja immer schon selbst der Blamierte ist, sondern weil es sehr wohl möglich ist, dass in absehbarer Zeit, trotz aller gründlichen Veränderung der politischen Form, die mitteleuropäische Wirt- schaftsgemeinschaft dennoch zustande kommt. Aber in der Art, wie Naumann diese und andere Ideen in den letzten Jahren vor der Revolution verfocht, lag freilich eine Annäherung an die Macht- und Gewalt-Begriffe des Imperialismus, die man wohl verstehen konnte aus dem Streben eines Mannes, der Demokratie und Kaisertum zu einen hoffte, die aber für so manchen eine beklemmende Verdunkelung des eigentlichen ethischen Kernes bedeutete, um dessentwillen wir Naumanns politische Weltan- sicht liebten. Dennoch — dieser Kern seiner Weltansicht durch- strahlte für uns die ganze Masse seines politischen Wirkens, über- strahlte auch alles Tiübe in ihr. Es war der Kern einer Per- sönlichkeit, die aus religiöser Kraft lebte, die „ Volk " will, nicht um eines praktischen Nutzens, sondern um einer tief- inneren Verpflichtung willen, die „Freiheit" will, nicht um unter diesem Schlagwort eine Klassenherrschaft durch eine andere ab- 283 zulösen, sondern um mit der Ausgiessung klarer Menschenwürde einem leidenschaftlich gefühlten göttlichen Gebote zu genügen. Dass wir einen Mann an unsere Spitze stellen konnten, dessen Per- sönlichkeit so eine unbedingte Gewähr dafür bot, dass seine Partei keinem Klasseninteresse, sondern einem vom tiefsten Gewissen als wahr erkannten Volksinteresse dient, das war ein ungeheurer Gewinn und der Tod dieses Mannes ist deshalb ein ungeheurer Verlust. Haben wir Ersatz für ihn gefunden? Das war vielleicht nicht möglich. Aber haben wir ihn auch nur gesucht? Und das wäre doch notwendig gewesen. Aber der Parteiapparat hat mit so sicherem Druck, als ob er schon Gott weiss wie lange funktionierte, die anerkannten „praktischen Politiker" in den Vordergrund ge- schoben — hier so gut wie beim Wiedereintritt der Demokraten in die Reichsregierung. Nun will ich nichts gegen die tüchtigen und ehrenwerten Männer sagen, die jetzt an entscheidender Stelle die demokratische Partei vertreten ; aber schon bei einem Minister- posten, wo selbstverständlich Erfahrung und Tüchtigkeit in aller- erster Pieihe steht, sind gewisse Nebentöne in der Wertung nicht ganz ohne Schaden auszuschalten — und mancher fragte z. B., weshalb man sich denn so wenig Mühe gegeben hat, den Mann, der immerhin mit einer ausserordentlichen Arbeitsleistung der deutschen Republik ihre Verfassung geschaffen hat, wieder auf die ihm gebührende Stelle zu bringen? Bei dem Führer einer Partei aber sollten neben der unentbehrlichen praktischen Tüch- tigkeit solche Fragen des moralischen Renommees, der überfach- männischen Geltung, ja, um es mit einem starken Wort zu sagen, der symbolischen Tragfähigkeit der Person im höch- sten Grade in Rechnung gestellt werden. Und manch einer von ims hat das Gefühl, dass sich in den Reihen der deutschen Demo- kraten doch noch eine oder die andere Persönlichkeit von so überragender Geltung hätte finden lassen, dass man aber auf diesen für die Partei so lebenswichtigen Punkt das Augenmerk 284 erst gar nicht lenken Hess, weil eine schon fertige Partei-Bureau- kratie solche Störungen nicht wünschte — und vielleicht auch, weil alle in Betracht kommenden, aus dem politischen Handwerk hervorragenden Persönlichkeiten den Männern der Mitte zu radikal erschienen wären. Hier aber geht nun die sehr wichtige Personalfrage in die noch wichtigere Frage nach dem sachlichen Verhalten der Partei in diesen sechs Monaten über. Und da ist es dies gleiche Haften an einer vermittelnden und mittelmässigen Praxis, die gleiche Angst vor grosszügig kühnen Stellungnahmen, die ich beklage. Wenn die demokratische Partei sich darauf einstellt, die fürsichtige Klassen Vertretung gewisser zusammengeleimter Mittelstands- gruppen zu sein, so wird sie sehr bald und Verdientermassen ein klägliches und bedeutungsloses Dasein führen! Wenn sie aber den Mut hat, einer grossen Idee durch dick und dünn zu folgen, so wird sie sicherlich Hunderte von Interessenten abstossen und verlieren, aber sie wird Tausende von jungen Menschen, die von Volk und Vaterland noch mehr wollen, als ihr persönliches Be- hagen, mit sich fortreissen und sie wird (in jeder zahlenmässigen Stärke) eine Macht sein! Es sah aber nicht so aus, als ob den Ver- tretern der Partei überall die Idee leitend gewesen sei, jenseits des Klassenkampfes alle Volkskräfte zur Demokratie, d. h. zum herrschenden Gemeinsinn der Freien zu rufen. Eshatkei- nen guten Eindruck gemacht, dass im preussischen Landtag eine erste Sozialisierun gsvorlage wesentlich am Widerstände der Demo- kraten scheiterte. Mögen ihre formalen Einwände auch ausgezeich- net begründet gewesen sein, es zeugt von wenig politischem Gefühl für die sinnbildliche Schwere einer Handlung, bei solcher Gele- genheit formale Bedenken in den Vordergrund zu rücken und das Odium kapitalistischen Interessenschutzes heraufzubeschwören. — Die Partei hat es abgelehnt, den Jahrestag der Revolution zu feiern — und auch hier war die formale Begründung untadelig: Wir haben wirklich weder Anlass noch Zeit, Feste zu feiern. Aber 285 um so weniger durfte man sich mit einer rein negativen Haltung begnügen: Wenn man nicht sehr missverstanden werden wollte, so musste man jenseits unangebrachter Festlichkeiten eine würdig- ernste Form finden, um die Bedeutung dieses Tages hervorzu- heben, an dem sich die Revolution jährt. Es konnte sonst der sehr unangenehme Eindruck entstehen, dass man zu feige sei, sich zu einer Tatsache zu bekennen, auf deren Grund man doch mit dem ganzen Gebäude des heutigen politischen Deutschlands steht! — Ich muss aber überhaupt auf das allerbitterste darüber klagen, dass die demokratische Partei immer wieder den Eindruck erweckt, als blicke sie wehmütig ent- schwundenenZeiten nach und steheineinemlauen, notgedrungen respektvollen Verhältnis zur Re- publik. Dieser Mangel an freudiger Entschlossenheit kommt aber zugleich als mangelnde Energie, als verhängnisvolle Untätigkeit zum Vorschein, Ein Beispiel von hunderten: Als an einem Mittwoch Hindenburg und Ludendorff vor dem Unter- suchungs-Ausschuss im Reichstag erscheinen sollten und durch eine gross angelegte nationalistische und monarchistische Demon- .stration dai'an gehindert wurden, berief die sozialdemokratische Partei sofort für den nächsten Sonntag drei Riesenversamm- lungen mit dem einfachen und selbstverständlichen Thema „Für die Republik" ein. Von Seiten der Demokraten rührte sich keine Hand. Über diese völlige Passivität verzweifelt, schrieb ich an den Leiter der demokratischen Jugendorganisation, ob er nicht, wenn die Partei-Zentrale versage, in die Bresche springen und eine V^ersammlung einberufen wolle, in der auch die Demokraten ihr Bekenntnis zur Republik der nationalistischen Hetze entgegen- vverfen wollten. Nach acht — acht! — Tagen bekam ich die Ant- wort, dass man in zAvei Wochen ohnedies eine grössere Ver- sammlung abhielte und bei dieser Gelegenheit könne man ja . . . Mir scheint es nicht ganz leicht, den Glauben an eine Partei festzuhalten, in der die Leidenschaft der stürmischen Jugend 286 derartige Formen annimmt Aber wo war überhaupt die offizielle Leitung der Partei in diesen Tagen? Wo war ihr Bekenntnis — nicht nur zur Republik, denn der Monarchismus ihrer Gegner ist im Grunde rein negativ, ist ohne eigenen Glau- ben an seine Verwirklichungsmöglichkeit und nur eine skrupel- lose Form, in der das Interesse der gestern allein Mächtigen gegen das heute Bestehende hetzt. Aber es müsste Ehrensache einer Partei sein, die an der Regierung des heutigen Deutschlands teilnimmt, nicht nur für die Republik, sondern auch für die Revolution einzutreten und zwar in viel tieferer Tragweite des Wortes als die blosse Katastrophe des 9. November andeutet! Die demokratische Partei, in die vor Jahresfrist viel tausend ihr Volk wahrhaft liebende Menschen, von der Not zur Politik er- weckt, einströmten, diese Demokratie ist nicht die Erbin irgend- einer Partei des kaiserlichen Deutschlands. Sie ist Erbin des alten freiheitlichen Einheitsstrebens, das im deut- schen Volke viel älter ist als das Bismarcksche Reich, das im letzten Menschenalter durchaus unterdrückt war von der Herr- schaft einer scharf umrissenen Klasse und das jetzt ganz neu an das Licht des Tages und des Schaffens tritt! Dass die Demokratie heute unendlich schwere Probleme, eine bis zur Hoffnungslosig- keit trübe Lage übernehmen muss, das ist wahrhaftig nicht ihre Schuld, — dass sie es zu übernehmen wagt, das ist ihr Verdienst ! Die grandiose Unverschämtheit, mit der nach sechzig Jahren ihrer Herrschaft und nach vier Jahren ihres fürchter- lichen Krieges die Machthaber von gestern den elenden Zustand, in dem Macht, Wirtschaft und Moral des deutschen Volkes heute freilich sind, der Republik aufbürden — diese grandiose Unver- schämtheit verdient doch kaum eine ernsthaftere Antwort als den Hinweis auf eine alte Anekdote: „Dreissig Jahre, sagt der Vater zu seinem Sohne, dreissig Jahre habe ich diese alte Jacke getragen, und du Lümmel hast sie noch keine sechs Monate an, da ist sie schon ganz zerrissen!" 287 Unser Interesse, das deutsche Volk vor einer neuen proletari- schen Klassenherrschaft zu bewahren, muss ebenso gross, aber es darf keineswegs grösser sein, als das Interesse, die Rückkehr der alten von Junkertum und Grosskapital geübten Klassenherr- schaft zu verhindern und die volle Verantwortlichkeit dieses Regimes für allen unter seiner Ägide entstandenen Schaden fest- zuhalten. Ich kann mich deshalb nicht so ganz dem Beifall an- schliessen, mit dem hier das Wort aufgenommen wurde: „Wenn wir zwischen Ilindenburg und Cohn zu wählen haben, so wissen wir schon, zu wem wir gehen." Ich finde schon die Formu- lierung nicht ganz loyal; denn einerseits ist die politisch repräsentative Figur nicht der persönlich sympathische und mili- tärisch hochverdiente Feldmarschall, sondern jener Ludendorff, der jahrelang der tatsächliche Beherrscher Deutschlands war und der nach dem Zusammenbruch, den nicht nur seine politischen, sondern seine aller Welt offenbaren strategischen Fehlrechnungen verschuldet haben, jetzt mit wüsten Schmähungen die Schuld einem Volk aufbürdet, das längst an der Grenze menschlicher Tragfähigkeit angelangt war. (N. B. Haben den schon allein völlig entscheidenden Zusammenbruch der palästinischen und mazedonischen Front vielleicht auch die bösen deutschen Demo- kraten verschuldet??) Andererseits ist es vielleicht auch nicht fair, dem Namen Hindenburgs den rassemässig abgestempelten Namen eines persönlich wenig liebenswürdigen Rechtsanwalts gegenüberzustellen. Die korrekt gestellte Frage lautet Klassenregiment der Junker oder der Industrie- proletarier? Und die Antwort für die demokratische Partei kann meines Bedünkens nur sein: „Das eine genau so wenig wie das andere!" Die demokratische Partei hat in dem Augenblick ihren Sinn und ihre Daseinskraft verloren, in dem sie irgendein Klassenregiment auch nur erträglicher als ein anderes findet. Sie lebt davon und sie lebt dafür, dass sie alle Menschen in Deutschland sammelt, die keine Gewaltherrschaft von rechts oder links wollen, sondern die Herrschaft derer, die ihre freien Meinungen miteinander auszugleichen trachten, weil sie an das Recht und auch an den guten Willen jeder Klasse und jedes Einzelnen glauben, mitzuwirken am Besten seines Volkes. Es fehlt, frei heraus gesagt, mir und vielen, die so denken wie ich, sehr vieles daran, dass die demokratische Partei, wie sie heute ist, uns den Eindruck solcher freien, inieressenlosen, klassen- überlegenen Vertretung der Volkskräfte macht. Aber glauben Sie nicht, meine Damen und Herren, dass wir deswegen gedenken aus der Partei auszutreten und Sondergrüppchen zu bilden. Im Gegenteil! Ich rufe alle, die so denken wie ich, auf, um so tiefer in die Partei hineinzugehen und sie mit ihrem Geiste zu erfüllen. Denn in der mächtigen Ent- faltung dieser Partei, der einzigen, deren Programm mit keinen Klasseninteressen verbunden ist und die zum Wirtschaftsausgleich wie zur persönlichen Freiheit, zur nationalen Selbstbehauptung wie zum menschheitlich gerichteten Weltbürgertum gleich bereit ist — in der Entfaltung dieser Partei sehe ich allein die Möglichkeit, Deutschland vor hoffnungsloser Zerreissung, endlosen Bürger- kriegen und völligem Untergang zu bewahren. Nicht aber, um ästhetisch empfindsam in radikalen Phrasen zu schwelgen und uns bei so verantwortungslosem Gebahren wunder wie „aktivi- stisch" zu dünken — sondern um in beharrlicher Geduld, in hundertfachem Verzicht und tausendfacher neuer Hoffnung der Verwirklichung des Geistes zu dienen, dem leidenden Leben zu helfen, dazu sind wir zur Politik erwacht! 19 Bab, Erwachen zur Politik 289 Schlusswort : Am Neujahrsmorgen 1920 Der Himmel trägt noch alle Sterne mit Schwan und Leyer hoch im Feld. Mein Zug braust an aus grauer Ferne, von Osten her. Ein Dampfschrei gellt. Berlin! Die ersten Lichter funken. Das Grau durchbricht ein Dach — ein Dach — Die Kiefernebene ist versunken. Das Herz der grossen Stadt wird wach. Schlag Herz! Ich komm aus deutschen Städten, die morgen nicht mehr unser sind. — Schlag lauter Herz! — Wer wird uns retten aus diesem Jahr, das heut beginnt?! Schlag Herz — treib Blut in unsre Lungen — wir atmen schwer, wir sind fast tot noch nicht! noch nicht sind wir bezwungen! schlag Deutschlands Herz in letzter Not! — Berlin! Berlin! Wir nahn! es dämmert — Sieh wie der Häuser wilder Sinn den Sternenhorizont zerhämmert Und Schwan und Leyer sinken hin. 290 Nachweis Von den Abschnitten dieses Buches werden Nr. 24, 25, 3i, 333. hier zum erstenmal veröffentlicht. Vorher erschienen im Berliner Tageblatt Nr. 32 und 33.,. — Frankfurter Zeitung 8. 9, 1 1. 26. 3o. — Pester Lloyd 4. 5. — Gegenwart 7. 12. i3. 14. i5. 16. 19. 21. 22. — Welt- bühne (Schaubühne) 17. 18. 20, 28. 33^. — Rheinlande 10. — Neue Rundschau 3. 6. — Magazin für Literatur 2. — Kinderheil i. — Hilfe 23. — Deutsche Politik 27. — Demokratie 29. Letztere Abhandlung erschien auch, durch zahlreiche spezielle Nachweise umfangreicher als hier abgedruckt, als besondere Bro- schüre unter dem Titel: „Produzentenanarchie — Sozia- lismus und Theater" (Oesterheld & Co.). Die Abschnitte 9. 16. 18 — 22. waren schon in dem Bande „Am Rande der Zeit" enthalten, der I9i5 erschienen und heute vergriffen ist, der aber als Ganzes der Aktualität zu eng verbunden war, als dass sich sein Neuerscheinen rechtfertigen würde. 19' 291 IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIENEN VON JULIUS BAB: Am Rande der Zeit. Betrachtungen Wien-Berlin (mit Willi Handl). Vergleichendes zur Kultur- geschichte der beiden Hauptstädte Mitteleuropas DRAMATURGISCHE SCHRIFTEN Wege zum Drama (vergriffen) Kritik der Bühne (vergriffen) Deutsche Schauspieler (mit Willi Handl; vergriffen) Der Schauspieler und sein Haus Kainz und Matkowsky Der Mensch auf der Bühne (vergriffen) Neue Wege zum Drama (vergriffen) Nebenrollen Die Frau als Schauspielerin Der Wille zum Drama Produzentenanarchie, Sozialismus und Theater Neue Kritik der Bühne IN VORBEREITUNG: Der Mensch auf der Bühne. Völlig erneuerte Ausgabe Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt University of California SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILITY 405 Hilgard Avenue, Los Angeles, CA 90024-1388 Return this material to the library from which it was borrowed. UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILITV A 000 639 828 3